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"Die IRA hat Sinn Féin den Weg geebnet"

15 Jahre "Karfreitagsabkommen": Die nordirischen Republikaner sehen es als Wendepunkt. Ein Gespräch mit Séanna Walsh *


Der 1957 in Belfast geborene Séanna Walsh hat wegen Mitgliedschaft in der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) 21 Jahre in Gefängnissen verbracht.2005 verkündete er im Namen der IRA den Verzicht auf den bewaffneten Kampf. Er ist Mitglied in der Partei Sinn Féin und arbeitet für COISTE – eine Organisation, die sich um die Wiedereingliederung von IRA-Häftlingen bemüht.

Wegen Ihrer Mitgliedschaft in der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) waren Sie über 20 Jahre hinter Gittern. Sie wurden schließlich aufgrund des »Karfreitagsabkommens« vor fast genau 15 Jahren entlassen, einer Übereinkunft zwischen der Republik Irland, Großbritannien und den Parteien in Nordirland. Was hat sich seitdem verändert?

Die Lage in Belfast ist heute tausendmal besser als während des Konflikts, das Abkommen war ein Neubeginn. Für uns Iren war nie die Religions­zugehörigkeit das Hauptproblem, sondern die Einmischung der britischen Regierung. Das Abkommen ist der Versuch, die Möglichkeit einer Einparteien-Regierung auszuschließen.

Wir Republikaner sehen es auch als Signal an die Briten, daß die nordirische Bevölkerung nicht mehr bevormundet werden will und Anspruch darauf hat, ihr Land selbst zu regieren. Wir sind jetzt auf dem Wege zu einem neuen Irland, das die gesamte Insel umfaßt.

Und welche politischen Aufgaben verbinden Sie damit?

Wir waren früher buchstäblich militärisch besetzt, das war eine schlimme Sache. Die britischen Soldaten betrachteten uns Nordiren als potentielle Feinde, die Regierung in London sprach von einer »terroristischen Gemeinschaft« – Ziel war letztlich, die IRA zu besiegen. Dabei setzten die Briten jede Art von Waffen und diverse Taktiken ein, um unseren Widerstand zu brechen. Das ist bekanntlich nicht gelungen. 1990 mußte der damals für Nordirland verantwortliche britische General zugeben, daß die IRA nicht zu schlagen sei. Und Peter Brooke, der britische Nordirland-Minister, versicherte, seine Regierung habe kein Interesse dort zu bleiben. Das war’s dann.

Aber wo stehen wir heute? Wir müssen uns mit den vielen Anhängern der radikalprotestantischen Union-Partei arrangieren, die für den Verbleib Nord­irlands in Großbritannien eintritt. Unser Aufgabe ist es also, die Mehrheit zu überzeugen, daß das neu zu schaffende Irland besser als alles wird, was wir heute haben. Das ist jetzt unser Job als Republikaner.

Könnten die diversen radikalen Gruppen der IRA diesen Prozeß stören?

Diejenigen, die weiter auf gewalttätige Aktionen setzen, haben wir gefragt: »Was wollt ihr eigentlich? Die britische Armee ist weg, und die Polizei ist nicht mehr der paramilitärische Arm der Union-Partei. Warum macht ihr immer noch bewaffnete Aktionen?« Eine vernünftige Antwort haben wir nie bekommen.

Diese Leute können zwar Menschen töten, sie werden weiter Waffen haben und auch Anhänger werben. Rückhalt in der Bevölkerung haben sie nicht – die unterstützt in großer Mehrheit den Friedensprozeß. Der Krieg ist vorbei. Natürlich ist nicht alles perfekt – das ändert man aber nicht dadurch, daß man Bomben wirft, Drogenhändler erschießt, Menschen entführt oder Banken ausraubt. An solchen Aktivitäten war ich früher zwar auch beteiligt – wir hatten damals aber den Rückhalt in der Bevölkerung. Und unter uns gab es keinen, der auf persönliche Vorteile aus war – schon beim Eintritt in die IRA wurde jedem gesagt: »Das einzige, was dich bei uns erwartet, ist ein Grab oder eine Gefängniszelle.«

Die Rivalitäten zwischen den fünf radikalen Fraktionen sind nicht ideologischer, sondern persönlicher Natur. Was sie eint, ist der Haß auf Leute wie mich, die Partei Sinn Féin und den Friedensprozeß. Sie wollen Krieg, um jeden Preis, auch gegeneinander.

Die nächsten Wahlen in Nord­irland sind für 2016 angesetzt. Die meisten Umfragen sehen zur Zeit Sinn Féin vor der Labour Partei – sie wäre damit die dritte parlamentarische Kraft im Lande. Was ist der Grund dafür, daß Ihre Partei in den vergangenen Jahren immer populärer geworden ist?

Die IRA hat ihr den Weg geebnet. Sie kann jetzt die Früchte davon ernten, daß sie den Krieg beendet hat und die Einparteienregierung der Unionisten. Und sie profitiert davon, daß sie einen Rahmen dafür geschaffen hat, daß sich alle Teile dieser Insel eines Tages in einem neuen Irland wiederfinden.

Interview: Àngel Ferrero

* Aus: junge Welt, Montag, 3. Juni 2013


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