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Das kleinere Übel

Daniel Ortega tritt zum vierten Mal seit der Abwahl seiner Partei 1990 als Präsidentschaftskandidat an und könnte gewinnen

Von Harald Neuber *

Ist er ein Priester oder ein Revolutionsführer? In einem weißen Hemd trat Daniel Ortega in den vergangenen Wochen vor die Menschen in Nicaragua, um den politischen Umschwung zu predigen. Der 60jährige ehemalige Kommandant der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) wurde nicht müde, Armut, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus zu beklagen. Unterlegt von ruhigen Gitarrenklängen, berief sich Ortega dabei unter anderem auf Gott und den letzten Papst Karol Wojtyla, den er gemeinhin nur den »Heiligen Vater« nennt und der, ganz wie auch er, den Kapitalismus gegeißelt habe.

Sieg Ortegas wahrscheinlich

Wenn am Sonntag in Nicaragua rund 3,4 Millionen Wahlberechtigte einen neuen Präsidenten wählen, hat dieser neue Daniel Ortega beste Chancen auf den Sieg. Bis zu 37 Prozent haben ihm Meinungsforscher vorausgesagt. Herausforderer Eduardo Montealegre von der regierenden Nationalliberalen Allianz (ALN) liegt bei 22 Prozent, die anderen Bewerber sind noch weiter abgeschlagen.

Kann sich der ehemalige Guerillakommandant bei diesen Wahlen durchsetzen – es wäre ein Sieg im vierten Anlauf –, dann hätte dieser Triumph einen bitteren Beigeschmack. Vor sechs Jahren hatte die autoritär geführte FSLN gemeinsam mit der rechten Liberalen Verfassungspartei (PLC) das Wahlgesetz geändert. Seither siegt ein Bewerber um das Präsidentenamt statt vorher mit 50 Prozent schon mit 35 Prozent der abgegebenen Stimmen, sofern ihn vom Zweitplazierten fünf Prozentpunkt trennen.

Der Pakt mit der PLC, der sich innenpolitisch weit über die Reform des Wahlgesetzes hinaus auswirkte, hat zwar seinen Sinn erfüllt. Doch der Preis ist hoch. Das strategische Abkommen mit den Neoliberalen hat die sandinistische Bewegung vor die Zerreißprobe gestellt. Die Schriftstellerin Gioconda Belli, der Befreiungstheologe Ernesto Cardenal, der Liedermacher Carlos Mejia Godoy, der frühere Vizepräsident Sergio Ramírez – sie alle haben sich aus »Daniels« FSLN verabschiedet. Cardenal veröffentlichte kurz vor den Wahlen einen politischen Essay mit dem Titel »Wählt nicht den falschen Sandinismus«. Falsch ist vieles an der Politik der FSLN unter Daniel Ortega gewesen: der Pakt mit der Rechten, das passive Votum für den Freihandel mit den USA und zuletzt die geschlossene Abstimmung für ein totales Abtreibungsverbot.

Doch wo ist, bei aller berechtiger Kritik, die Alternative zum »Danielismo«? Die FSLN-Abspaltung Bewegung der Sandinistischen Erneuerung (MRS), die am Sonntag mit bis zu 15 Prozent der Stimmen rechnen kann, wurde zwar nicht müde, eine zum Teil aggressive Kampagne gegen die FSLN zu fahren. Sieht man von dieser Kritik ab, bleibt aber nicht viel übrig: Ihr Präsidentschaftskandidat Edmundo Jarquín vertritt offen neoliberale Positionen. Was nicht verwundert: Jarquín war von 2002 bis 2005 für die Inter­amerikanische Entwicklungsbank tätig, die dem IWF nahesteht.

Internationale Bedeutung

So bleibt die Wahl für die FSLN eine Wahl für das kleinere Übel. Die große Hoffnung für den orthodoxen Sandinismus besteht – auch unabhängig von der Präsidentschaftswahl am Sonntag – in der Annäherung Ortegas an diejenigen progressiven Staaten Lateinamerikas, die strukturell die Abhängigkeit von den USA und Neoliberalismus bekämpfen wollen. In Kuba, Venezuela und Bolivien wird der Aufstieg der FSLN ungeachtet der im Land harsch kritisierten Bündnispolitik aufmerksam verfolgt – wie im übrigen auch in Washington.

Allein diese internationale Perspektive kann der FSLN dabei helfen, zu ihrer revolutionären Politik der 70er und 80er Jahre zurückzufinden; nicht etwa ihr Programm, worauf Unterstützer schon einmal gerne verweisen. Schließlich heißt es auch im gültigen »Berliner Programm« der SPD: »Die neue und bessere Ordnung (...) ist eine von Klassenschranken befreite Gesellschaft«.



* Aus: junge Welt, 4. November 2006


"Revolutionäre Logik verdrängt"

Über die Sandinistische Front, die rechte und linke Opposition sowie die Perspektiven Nicaraguas. Ein Gespräch mit dem Befreiungstheologen François Houtart **

Herr Houtart, Sie leben und arbeiten in Belgien. Was verbindet Sie mit Nicaragua?

Ich arbeite seit 50 Jahren auch in und über Lateinamerika. 1953 hatte ich erstmals an einem Kongreß der Katholischen Arbeiterjugend in Kuba teilgenommen, und seither habe ich fast alle Länder des Kontinents bereist. Nach Nicaragua bin ich mit dem Sieg der Sandinisten 1979 gekommen. Ich habe dort später ein soziologisches Zentrum an der Zentralamerikanischen Universität gegründet, an dem zur Kultur und Religion in der Gesellschaft dieses Landes geforscht wird.

Sie sind Priester und Marxist?

Durchaus. Als katholischer Geistlicher habe ich die Ideen der Theologie der Befreiung immer unterstützt, und ich kenne viele Christen, die an der Revolution mitgewirkt haben.

Am Sonntag wird in Nicaragua ein neuer Präsident gewählt. Dabei treten zwei auf den ersten Blick linke Parteien an: die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) und die Bewegung der Sandinistischen Erneuerung (MRS). Was unterscheidet die beiden?

Das mag hart klingen, aber wenn wir von den klassischen Konzepten der Linken ausgehen, würde ich keine dieser beiden Parteien als links bezeichnen.

Weshalb?

Die FSLN hat seit dem Verlust der Regierungsgewalt im Jahr 1990 eine gewisse Kontinuität bewahrt, personell vor allem in der Person Daniel Ortegas. Aber an Krisen hat es nicht gemangelt. Einige führende Mitglieder wurden der Korruption überführt, andere akzeptierten die dominierende neoliberale Politik. Die FSLN hat in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten mit den rechten Liberalen um den Expräsidenten Arnoldo Alemán paktiert. Die revolutionäre Logik ist der parlamentarischen Logik gewichen, weil es scheinbar nur noch um den Machterhalt geht. Trotzdem muß man eingestehen, daß die FSLN ein Programm hat, das, wenn schon nicht uneingeschränkt links, zumindest doch klar formuliert ist. Sie nähert sich damit am ehesten dem an, was wir als eine linke Partei bezeichnen würden.

Die ausschließliche Zuwendung zum Parlamentarismus ist das Hauptproblem?

Ja, aber das ist das Problem aller politischer Bewegungen, die sich in eine Partei umwandeln. Wir kennen das aus Brasilien und werden es unter Umständen in Venezuela und Bolivien erleben.

In Venezuela gibt es aber auch die Debatte um eine direkte, partizipative Demokratie, die parallel zum parlamentarischen System aufgebaut werden soll.

Das ist in Venezuela wie in Nicaragua zu befürworten – sofern es nicht bei der Rhetorik bleibt und die Beteiligung der Bevölkerung wirklich ernst genommen wird.

Bestehen bei der FSLN-Abspaltung, der Bewegung der Sandinistischen Erneuerung, denn mehr Chancen?

Das denke ich nicht, denn die MRS ist, allgemein gesagt, ein Projekt der sandinistischen Bourgeoisie, das durch und durch von dem Geist der Mittelklasse geprägt ist. Die MRS hat ein Klassenproblem. Ihre Kritik an der FSLN teile ich: an der fehlenden Demokratie, am repressiven Vorgehen gegen Kritiker, am Machterhalt um jeden Preis, an den Bündnissen mit der rechten oder der Kirche. Aber die MRS übt diese Kritik nicht aus einer linken Perspektive. Sie begeht damit den gleichen Fehler wie Subcomandante Marcos in Mexiko. Auch er hat alle Parteien – und auch hier, das geben ich zu, mit guten Gründen – kritisiert. Indem er aber zur Stimmenthaltung aufrief, hat er der Rechten zum Sieg verholfen. In Nicaragua wäre das ein schrecklicher Fehler, denn dort leben über 70 Prozent der Menschen in Armut. Diese Situation zu ändern muß allererstes Ziel sein.

In der vergangenen Woche hat die FSLN im Parlament gemeinsam mit der Rechten für das totale Verbot von Abtreibungen gestimmt; selbst dann, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist. Ist von so einer Partei denn wirklich eine Veränderung zu erwarten?

Dieses Abstimmungsverhalten hatte rein strategische Gründe. Grund dafür ist ein Bündnis mit dem Kardinal Miguel Obando, durch das sich die FSLN-Führung die Unterstützung von Teilen der katholischen Kirchenspitze sichern will. Die Frage ist, wie sich die Partei wieder aus dieser Umarmung lösen will, sollte sie die Wahlen am Sonntag wirklich gewinnen.

Interview: Harald Neuber

** François Houtart leitet in Brüssel die Nichtregierungsorganisation Centre Tricontinental. Der 79jährige Soziologe und katholische Priester gehört zu den aktiven Mitgliedern des Weltsozialforums in Porto Alegre.

Aus: junge Welt, 4. November 2006



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