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Barfuß in der Straße der Millionäre

Nicaragua vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November

Von Timm B. Schützhofer *

Ausgerechnet in der »Straße der Millionäre« hat die linke FSLN ihre Zentrale für die Provinz Rivas. Die wirklich Reichen leben in Nicaragua jedoch längst auf ihren Haciendas und Fincas außerhalb der Städte oder in eingemauerten Vierteln. In der Straße der Millionäre sieht es aus wie überall in den Stadtzentren: überall Wahlwerbung, Schlaglöcher, dicke Jeeps und museumsreife Autos, Staub und Müll, Fahrradtaxis und Kutschen.

Ein Kind läuft barfuß die Straße hinauf. Die Straße der Millionäre, in der es keine Millionäre gibt – wie der Fluss des Goldes, der ohne Gold durch Rivas fließt –, ist bezeichnend für den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Oder zwischen Versprechen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 5. November und der Realität. Eine halbe Million neue Jobs verspricht der Kandidat der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS), Edmundo Jar-quín. Daniel Ortega von der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) verheißt »Arbeitslosigkeit Null«, José Rizo von den Liberal-Konstitutionalisten (PLC) will »Zuerst Arbeit für alle« schaffen, und der neoliberale Eduardo Montealegre (ALN-PC) sagt »Mehr Beschäftigung – weniger Armut«. Vor den Wahlen stellen sich alle Kandidaten als Vertreter der Armen dar. Verständlich: Fast 80 Prozent der Bevölkerung gelten als arm und müssen von weniger als zwei Dollar am Tag leben.

Nicaragua ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, regiert von einer dünnen, meist hellhäutigen Oberschicht, in der sich Geld und Macht konzentrieren. Dazu gehören die Pellas, die wohl reichste Familie Mittelamerikas, die Chamorros, die Montealegres, die Bolaños, die Barrios. Rassismus ist in Nicaragua auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Aber vielleicht ist es doch kein Zufall, dass vier von fünf Präsidentschaftskandidaten völlig europäisch aussehen, obwohl diese Gruppe nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung darstellt.

Über die Misere des Landes, die schlechte Situation an den Schulen, die katastrophalen Zustände in den Krankenhäusern, die mehrstündigen Strom- und Wasserausfälle wird viel geklagt. »Es lebe der Präsident, es lebe der Liberalismus«, kommentieren sarkastisch die Sandinisten, wenn der spanische Konzern Union Fenosa den Strom mal wieder abschaltet. Der Fall Fenosa ist typisches Beispiel einer Privatisierung, die besseren Service zu niedrigeren Preisen versprach, aber das Gegenteil brachte. Immer wieder wird gegen den Konzern demonstriert, der weitere Subventionen vom Staat verlangt.

Stolz auf ihr Land sind die Nicaraguaner trotzdem – obgleich mehr als 80 Prozent der Jugendlichen das Land wohl verlassen würden, wenn sie könnten. Stolz auf ihre Gastfreundschaft, auf ihre Improvisationskunst, ihre Feste, Tänze und Lieder. »Ich bin Nicaraguaner, na und?«, liest man auf TShirts, die sich gegen die Diskriminierung nicaraguanischer Gastarbeiter in Costa Rica richten. »Nicaragua zuerst«, verkündet PLC-Kandidat José Rizo, und Daniel Ortega hängte sich die Nationalfahne um, als er mit Zehntausenden den Jahrestag der sandinistischen Revolution und des Sieges über Diktator Somoza im Jahre 1979 feierte. Doch alle Propaganda und alle Hymnen aufs Vaterland können die tiefen Risse in der Gesellschaft nicht verdecken. Unlängst erklärten einige ehemalige Contras, man werde im Falle eines FSLN-Wahlsiegs wieder zu den Waffen greifen... »Ein geschenktes Hemd oder eine Mütze ersetzen weder das Recht auf Bildung für eure Kinder noch das Recht auf medizinische Versorgung«, erklärte die FSLN-Parlamentskandidatin Venancia Barrera in einem Rivenser Armenviertel. Doch Geschenke vor den Wahlen sind in Nicaragua üblich. Don Raúl, einem angesehenen Mann im Viertel, versprachen Vertreter der ALN-PC ein neues Zinkdach, wenn er – überzeugter Sandinist – die Partei wechsele. »Nein, wenn das alte Dach nicht mehr hält und wir kein Geld haben, schlafen wir lieber unter Bananenblättern als Geschenke von euch anzunehmen«, schlug er das Angebot aus.

In so genannten Foren der Versöhnung verkündet FSLN-Präsidentschaftskandidat Daniel Ortega derweil wöchentlich den Übertritt von Funktionären anderer Parteien zum Wahlbündnis der Sandinisten »Das vereinte Nicaragua siegt«. Ein großer Coup war der Anschluss des ehemaligen Contras Salvador Talavera. Der steht bereits auf Platz 3 der ALN-PC-Liste und kann nicht mehr gestrichen werden. »Wer ALN wählt, wählt FSLN«, verkündete daraufhin die PLC. Die Sandinisten hätten Verbündete auf der Liste der ALN platziert, um ihren Wahlsieg zu sichern. Die USA-Botschaft bemüht sich indessen immer noch um die Einheit der rechten Parteien PLC und ALN-PC. Man ist nervös in Washington, denn Daniel Ortega könnte im ersten Wahlgang Präsident werden. Dazu braucht er 35 Prozent der Stimmen und fünf Prozentpunkte Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Für diesen Fall hat USA-Botschafter Paul Trivelli angekündigt, dass sein Land die Hilfe für Nicaragua drastisch kürzen werde.

Auch Venezuela wird vorgeworfen, sich in den Wahlkampf einzumischen. Die Rechtsparteien versuchen, Angebote Venezuelas und Kubas als Wahlhilfe für die Sandinisten zu diskreditieren. So die Öllieferungen zu günstigen Konditionen, die über die sandinistisch dominierten Rathäuser abgewickelt werden sollen. Oder die »Aktion Wunder«, durch die bisher 1500 Nicaraguaner Augenoperationen in Kuba und Venezuela erhielten – ohne vorherige Prüfung des Parteibuches. Hilfe im Wahlkampf ist das durchaus: Viele Nicaraguaner hoffen, dass eine FSLN-Regierung die Energiekrise mit venezolanischer Hilfe überwindet, und an die kubanischen Ärzte, die zu Zeiten der Revolution im Lande waren, erinnert man sich auch gern.

* Aus: Neues Deutschland, 18. Oktober 2006


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