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Nicaragua: Ortegas zweiter Frühling

Von Toni Keppeler, Yalagüina *

Vor einem Jahr wurde Daniel Ortega zum zweiten Mal gewählt. Bei der Linken hatte das kaum mehr Hoffnungen geweckt. Doch heute gibt der SandinistInnenchef den Revolutionär und tut sogar etwas für die Armen.

Die schweren Lastzüge, die nach Norden zur nahen Grenze zu Honduras donnern, lassen Yalagüina rechts liegen. Von der panamerikanischen Strasse aus ist das Dorf kaum zu sehen: ein paar graue geduckte Lehmhütten am Strassenrand, dahinter üppiges tropisches Grün. Keine Tankstelle, keine Garküche für Fernfahrer, nicht einmal ein Ortsschild. Nur ein riesiges, an die fünf Meter hohes rosarotes Werbeplakat. Es zeigt Daniel Ortega, der vor einem Jahr - am 10. Januar 2007, nach sechzehn Jahren in der Opposition - zum zweiten Mal das Amt des Präsidenten von Nicaragua antrat. Auf dem Foto trägt er eine zerknitterte Bundfaltenhose, die Ärmel seines weissen kragenlosen Hemds sind hochgekrempelt. Seine linke geballte Faust ist in den rosaroten Himmel gereckt, mitten hinein in die Buchstaben der ersten Zeile der Internationalen: «Arriba los pobres del mundo!» - «Wacht auf, Verdammte dieser Erde!»

In der spanischen Version der kommunistischen Hymne werden die «Verdammten» mit «parias» übersetzt; der in Lateinamerika gesungene Text dagegen spricht von «pobres», von Armen. Zu Recht. Was Parias sind, weiss in Yalagüina keiner. Aber die Armen dort sind wirklich verdammt arm, und es gibt genug davon. Rund 5000 EinwohnerInnen hat das Dorf, das sich unter dem Grün am Rand der Panamericana versteckt. Dazu kommen noch einmal 5000 im Hinterland, verteilt auf ein Dutzend Weiler, die nur mit geländetauglichen Fahrzeugen zu erreichen sind. Oder mit dem Pferd, das hier ohnehin das gängigere Transportmittel ist. Über die Hälfte der Bevölkerung der Gemeinde lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Yalagüina liegt in der Hungerzone Nicaraguas.

Freiwilliger Dienst

«Elf Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind chronisch unterernährt», sagt Carmen Vanzetti. Sie leiden an Durchfall «wegen der zum Teil furchtbaren hygienischen Zustände» und an Atemwegserkrankungen «wegen des vielen Staubs in der Trockenzeit und weil die Menschen in ihren Hütten auf Holzfeuern kochen». Ein erschreckend hoher Anteil der älteren Bevölkerung hat Knochenschwund. «Ich weiss noch nicht, woran das liegt», sagt Vanzetti. «Aber ich werde es heraus­finden.»

Die 26-Jährige ist Ärztin in Yalagüi­na - freiwillig. Sie hat in Kuba mit einem Stipendium Medizin studiert und danach einen ruhigen Job mit fes­ten ­Arbeitszeiten als Amtsärztin des ­Bürgermeisteramts der Hauptstadt Managua bekommen. Als vor einem Jahr Ortega das Präsidentenamt antrat, meldete sie sich freiwillig zum Dienst im Norden. Carmen Vanzetti ist Sandinis­tin.

Ihr Vater, der deutsche Neurochirurg Ernst Fuchs, hat vor bald dreissig Jahren in derselben Gegend gearbeitet. Er war 1978 nach Nicaragua gegangen, hatte sich der sandinistischen Guerilla angeschlossen und dort den Decknamen Carlos Vanzetti angenommen. Als die SandinistInnen im Juli 1979 die Diktatur des Somoza-Clans gestürzt hatten, blieb er, ging in den Norden und baute dort das staatliche Gesundheitswesen für die Armen auf. Was er geschaffen hatte, war schon wieder ziemlich heruntergekommen, als die SandinistInnen 1990 abgewählt wurden. Die folgenden sechzehn Jahre unter neoliberalen Regierungen haben die letzten Reste beseitigt.

Der alte Vanzetti ist vor vier Jahren gestorben. Vor seinem Tod hätte er es kaum für möglich gehalten, dass seine Tochter noch einmal dasselbe tun würde wie er damals nach dem Sieg der SandinistInnen. Daniel Ortega, einst eine Lichtgestalt der Linken, ist über die Jahre zum blossen Machtpolitiker verkommen. Er kungelte mit der Rechten, um auch aus der Opposition heraus mitregieren zu können. Er sprach mehr von Gott als der Revolution, weil er glaubte, damit im tiefgläubigen Nicaragua mehr WählerInnenstimmen bekommen zu können. Kritisierten ihn seine Compañeros, wurden sie einfach aus der sandinistischen Partei ausgeschlossen. Von den neun legendären Comandantes, die in den achtziger Jahren in der Nationalen Leitung der Sandinistischen nationalen Befreiungsfront FSLN sassen, sind nur noch drei in der Partei: Ortega selbst, sein heutiger Wirtschaftsberater Bayardo Arce und der inzwischen leicht senile ehemalige Innenminister Tomás Borge, der sein Gnadenbrot im diplomatischen Dienst erhält.

Im revolutionären Männerbund

Kurz vor der Wahl im vergangenen November hatte Ortega gar einen Pakt mit Miguel Obando y Bravo, dem reaktionären ehemaligen Erzbischof von Managua, geschlossen: Die Parlamentsfraktion der FSLN unterstützte eine von der Kirche geforderte Gesetzesänderung, nach der Schwangerschaftsabbrüche selbst nach Vergewaltigungen und bei Lebensgefahr für die werdende Mutter verboten sind. Einst hatten die SandinistInnen das Abtreibungsrecht liberalisiert. Inzwischen ist Obando Vorsitzender der von Ortega geschaffenen nationalen Kommission für Versöhnung und Frieden.

Hätte man so einem eine Linkswende zugetraut? Aussenpolitisch vielleicht. Der Präsident eines kleinen und wirtschaftlich unbedeutenden Landes wird international nur wahrgenommen, wenn er provoziert. Also reihte sich Ortega in den revolutionären lateinamerikanischen Männerbund aus Fidel Castro (Kuba), Hugo Chávez (Venezuela) und Evo Morales (Bolivien) ein. Er reiste in den Schurkenstaat Iran, verteidigte vor der Uno-Vollversammlung dessen Recht auf ein eigenes Atomprogramm und schloss «unverbrüchliche Freundschaft mit dem Brudervolk von Nordkorea». Der Regierung in Washington bot er an, den grössten Teil der einst von der Sowjetunion gelieferten Boden-Luft-Raketen zu verschrotten, wenn US-Präsident George Bush ihm den Gegenwert in Medikamenten schicke. Pure Propaganda. Ortega wusste von vornherein, dass Bush keine Medikamente schicken würde.

Rund um die Uhr geöffnet

Dafür schickt Ortega die Medikamente selbst. «Jeden Monat kommt ein Laster vorbei», sagt Carmen Vanzetti. In der öffentlichen Dorfapotheke von Yalagüina stapeln sich Schachteln mit Tabletten, Hustensäften und Spritzen. Im Nebenhaus ist provisorisch der Gesundheitsposten untergebracht: ein ­Behandlungszimmer, ein kleiner Operationssaal, Unterkünfte für das Personal. Vier ÄrztInnen arbeiten dort und neun Krankenschwestern. Die sandinistische Regierung hat das Personal ­verdoppelt. «Früher», sagt Vanzetti, «war der ­Gesundheitsposten von acht bis ­vierzehn Uhr geöffnet. Jetzt ist er rund um die Uhr besetzt.» Früher gab es in der öffentlichen Apotheke keine Gratismedizin. «Die Ärzte stellten Rezepte aus, aber die Patienten hatten kein Geld, um die Arznei in Privatapotheken zu kaufen. Sie haben ja nicht einmal genügend Geld, um richtig zu essen.» Die Folge: Die meisten Kranken blieben zu Hause und halfen sich selbst.

Im Gesundheitsposten hat sich die Zahl der Behandelten innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht. Die PatientInnen warten draussen, auf der überdachten Veranda. Männer mit breitkrempigen Strohhüten lehnen ­schweigend an den Säulen, Frauen beruhigen ihre rotzenden Kinder. Früher kamen 300 im Monat, heute sind es gut 1000. «Und wir gehen hinaus in die Weiler», sagt Vanzetti. «Die neue Regierung will das so. Sie will, dass wir auf die Menschen zugehen, dass wir ihnen die Hand geben, dass wir mit ihnen reden.» Vanzetti ist Mitglied der sandinistischen Jugend und des sandinistischen ÄrztInnenverbands. Und sie ist - obwohl die jüngste - Chefin des Gesundheitspostens.

Am Morgen war sie zusammen mit vier Kollegen in einem Weiler, drei Stunden Fussmarsch entfernt. Sie sind mit dem einzigen Krankenwagen des Postens auf holprigen Pfaden dorthin gefahren und haben 62 Hunde gegen Tollwut geimpft. Die Kollegen hätten ein bisschen gemault: Das sei doch keine Arbeit für eine Ärztin. Aber sie habe ihnen klar gemacht, dass auch Hunde impfen zur Präventivmedizin gehöre.

Zwei Strassen vom provisorischen Posten entfernt entsteht ein neues, viel grösseres Gesundheitszentrum. Es sollte eigentlich längst fertig sein. Der rechte Präsident Arnoldo Alemán (1997 bis 2002) war bereits nach Yalagüina gekommen, hatte den Grundstein gelegt und ein grosses Fest feiern lassen. Danach war nichts mehr passiert. Selbst der Grundstein war irgendwann geklaut worden. Erst jetzt wurde wieder mit dem Bauen begonnen. Die Geburtsklinik soll demnächst fertig sein, der Rest dauert etwas länger.

«Null Hunger»

Bautrupps sind auch an der Dorfschule beschäftigt. Das Lehrpersonal wurde verdoppelt. Neuerdings wird kein Schulgeld mehr verlangt, und Schul­uniformen sind nicht mehr Pflicht. So können auch Familien, die sich die Einheitskleidung nicht leisten können, ihre Kinder zum Unterricht schicken. Abends finden in den Klassenzimmern Alphabetisierungskurse für Erwachsene statt. Den BäuerInnen in der Umgebung, die meist nur von Mais und Bohnen leben und allenfalls ein paar Hühner besitzen, hat die Regierung trächtige Kühe und Schweine geschenkt. Das Programm heisst «Null Hunger» und ist im Norden von Nicaragua angelaufen, weil es hier am meisten Hunger gibt. Ein bisschen politisches Kalkül steckt auch dahinter: Im Norden Nicaraguas wütete während der ers­ten sandinistischen Regierungszeit der Krieg der Contras. Die von Washington finanzierten KonterrevolutionärInnen beherrschten das Hinterland nahe der Grenze zu Honduras. Viele BäuerInnen hielten - und sei es aus blossem Überlebensinstinkt - zu den bewaffneten rechten Banden. «Wir müssen sie für uns gewinnen», sagt Carmen Vanzetti. «Ich sage ihnen, dass sie das alles Daniel Ortega zu verdanken haben. Dass er das Gesundheitszentrum bauen lässt und ihnen Kühe und Schweine schickt.»

Für Manuel Ortega, der mit dem Präsidenten nicht verwandt ist, aber in den achtziger Jahren sein Stabschef war, ist das Null-Hunger-Programm deshalb kein Sozialprogramm. Es sei eingeführt worden, um «einen Wählerkreis zu schaffen und zu erhalten». Denn Daniel Ortega will nicht nur eine, sondern mindestens zwei Amtszeiten lang regieren. Das ist zwar in der Verfassung nicht vorgesehen. Aber er hat das Parlament schon einmal gebeten, einen entsprechenden Änderungsvorschlag auszuarbeiten. Wenn er noch einmal gewinnen will, muss er gewaltig an Stimmen zulegen. Er wird kaum noch einmal das Glück vom November 2006 haben, als ihm magere 38 Prozent ausreichten, um direkt gewählt zu werden. Die Rechte war zu dieser Wahl gespalten angetreten. Ihre beiden Kandidaten hatten gemeinsam gut 55 Prozent eingefahren. Das ist in etwa gleich viel, wie die rechten Einheitskandidaten auch in früheren Wahlen erzielten, die Ortega verloren hatte.

Neue Räte zur Kontrolle

Er muss also etwas tun zur Absicherung seiner Macht: Deshalb hat er in allen Gemeinden sogenannte Räte der Bürgermacht gründen lassen - eine Mischung aus den Sandinistischen Verteidigungskomitees der revolutionären Zeit und den bolivarischen Zirkeln des Hugo Chávez in Venezuela. Sie werden von Ortegas Frau Rosario Murillo geführt und sollen bei allen politischen Entscheidungen mitreden dürfen. Im Klartext: Sie sollen die Macht des Parlaments, der Bürgermeister und der Gemeinderätinnen beschränken. Angeblich sind diese Räte überparteilich. Tatsächlich aber finden sich dort nur SandinistInnen und ihre Sympathisant­Innen. Das Parlament hat dies erkannt und die Räte in einem Gesetz für illegal erklärt. Doch Ortega verteidigt sie mit juristischen Tricks. Er weiss, dass sie, sind sie erst einmal richtig etabliert, nur ihm zu Willen sein werden.

Auf der Werbetafel an der pan­amerikanischen Strasse bei Yalagüina steht über dem Zitat des Textes aus der Internationalen der Slogan «El Pueblo, Presidente!». Damit will die Regierung wohl sagen, dass jetzt das ganze Volk Präsident ist. Oder meint Ortega eher: «Das Volk bin ich, der Präsident»? Egal. Er hat jedenfalls dafür gesorgt, dass in Yalagüina etwas getan wird, das sechzehn Jahre lang nicht getan wurde.

Die Frau an Ortegas Seite

Es gab sie schon zu revolutionären Zeiten, doch öffentlich wahrgenommen wurde sie damals kaum. Rosario Murillo war damals eine extravagant gekleidete, esoterisch angehauchte und nicht sehr bedeutende Poetin - und die Mutter von Daniel Ortegas Kindern. Eine Tochter, Zoilamérica Narváez, hat sie mit in die Ehe gebracht, und diese Tochter machte die Mutter berühmt.

Narváez hat ihren Stiefvater 1998 bezichtigt, sie zwanzig Jahre lang sexuell missbraucht zu haben. Geklärt wurde dieser Vorwurf nie. Erst versteckte sich Ortega ein paar Jahre lang hinter seiner Immunität als Parlamentsabgeordneter, dann waren die Anschuldigungen verjährt. Selbst überzeugte Sandinist­Innen zweifelten damals an ihrem Anführer. Nur eine hielt stets standfest zu ihm: Rosario Murillo distanzierte sich öffentlich von ihrer Tochter und stärkte Daniel den Rücken.

Das hat er ihr nicht vergessen. Sie ist nicht mehr von seiner Seite wegzudenken. Sie leitete schon seinen Wahlkampf von 2001, verordnete der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront FSLN ein zartes Rosa statt der traditionellen Farben Rot und Schwarz und ihrem Gatten einen Diskurs von Liebe und Versöhnung statt Revolution. Wer mit Ortega reden will, muss erst bei ihr vorsprechen. Der Präsident selbst bekennt, dass seine Frau fünfzig Prozent der Macht ausübe.

Vielleicht sind es sogar mehr. Ob­wohl sie selbst weder gewählt noch Ministerin ist, beruft sie bisweilen Kabinett­sitzungen ein. Und wenn ein Minister geschasst wird, was im ersten Regierungsjahr gleich fünfmal geschah, dann munkeln die lokalen Zeitungen, die First Lady habe das veranlasst.

Trotzdem ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sie, wie Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien, ihrem Gatten dereinst im Amt nachfolgt. Denn anders als Fernández ist Murillo nicht einmal in ihrer eigenen Partei beliebt. Vom Volk ganz zu schweigen.



* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 10. Januar 2008


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