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"Sie werden mich nicht zum Schweigen bringen"

Vilma Nuñez sieht Nicaragua in einer Sackgasse

Dr. Vilma Nuñez ist Anwältin und verteidigte zu Zeiten der Somoza-Diktatur politische Gefangene. Nach dem Triumph der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) wurde sie Richterin am Obersten Gerichtshof Nicaraguas. Heute leitet die 70-Jährige das Nicaraguanische Menschenrechtszentrum CENIDH. Von der aktuellen Regierung ihres einstigen Mitstreiters Daniel Ortega wird sie diffamiert und bedroht. Über die politische Entwicklung in Nicaragua sprach mit ihr für das "Neue Deutschland" (ND) Anna Schulte.



ND: Vor Kurzem hat der Oberste Gerichtshof Nicaraguas ein Urteil gefällt, dank dessen dem aktuellen Präsidenten Daniel Ortega eine erneute Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2011 möglich sein wird. Wie beurteilen Sie das?

Nuñez: Eines der größten Probleme in Nicaragua ist die Instrumentalisierung der Staatsorgane für politische Interessen. In diesem Fall hat Ortega den Justizapparat für seine Zwecke missbraucht. Die Begründung, der Artikel 147 sei nicht anwendbar, weil er die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz missachte, ist absurd. Obwohl ich das Urteil für juristisch wertlos halte, besteht keine Möglichkeit einer Revision und es wird angewandt werden. Doch der Oberste Gerichtshof hat Ortega nicht zum Kandidaten deklariert, sondern ihm nur die Möglichkeit dazu verschafft. Zum Kandidaten muss ihn die FSLN erklären.

Sehen Sie die Möglichkeit, dass innerhalb der FSLN eine linke, sandinistische Alternative entsteht?

Wir wissen, dass es innerhalb der Frente sehr ernsthafte Widersprüche gibt, doch die FSLN ist mittlerweile eine sehr undemokratische Partei. Im Grunde sieht es also nicht so aus, als könne hier eine sandinistische Alternative wachsen, aber ich gebe die Hoffnung darauf nicht auf. Es können doch nicht alle Menschen korrupt und prinzipienlos sein.

Vor allem für seinen autoritären Regierungsstil wird Daniel Ortega von vielen Seiten kritisiert. Aber es hat doch auch Verbesserungen im sozialen Bereich gegeben?

Es hat einige Verbesserungen gegeben, im Bereich der Bildung und Gesundheit beispielsweise. Doch die Regierungsprogramme bleiben weit hinter den Erwartungen zurück. Neue Studien zeigen beispielsweise, dass im Rahmen des Null-Hunger-Programms von den angekündigten 15 000 Familien pro Jahr nur neun Prozent mit dem Hilfspaket unterstützt wurden. Dazu kommt, dass die Regierung diese Programme klientelistisch verwaltet und zur Ausweitung ihrer Anhängerschaft nutzt. Momentan sieht sich die Regierung einem Haushaltsdefizit gegenüber, das vor allem durch den Wegfall von Hilfsgeldern der internationalen Gemeinschaft nach dem Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen 2008 entstanden ist. Deshalb wurden Kürzungen vorgenommen, vor allem im Sozialbereich. Ortega führt hier einen Doppeldiskurs: Das was er macht, stimmt nicht mit dem überein, was er sagt. Während er riesige Plakate druckt, auf denen »Arriba los pobres del mundo« (Hoch die Armen der Welt) steht, setzt er gleichzeitig durch neoliberale Übereinkommen mit dem Internationalen Währungsfonds die Politik der liberalen Vorgängerregierungen fort.

Dennoch hat Daniel Ortega viele Anhänger, oder?

Es wäre natürlich absurd zu behaupten, Daniel Ortega würde von niemandem unterstützt. Aus meiner Sicht gibt es da drei Gruppen. Da sind zum einen diejenigen, die noch immer glauben, Daniel würde die Revolution wieder beleben, und zum zweiten die, die von den Regierungsprogrammen profitieren. Und dann gibt es noch diejenigen, die Ortega unterstützen, weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Letzteres ist eine erschreckende Entwicklung. Die Regierung hat begonnen, die Staatsangestellten zu instrumentalisieren und sie zur Mitgliedschaft in der FSLN zu zwingen, indem sie einfach Parteiausweise verteilt. Bei CENIDH sind viele Klagen eingegangen. Einige haben ihre Arbeit verloren weil sie sich weigerten den Parteiausweis entgegenzunehmen.

Heißt das, dass sich aus Ihrer Sicht als Menschenrechtsanwältin die Lage der politisch-zivilen Rechte in Nicaragua unter Daniel Ortega verschlechtert hat?

Ja. Die Regierung schränkt die Möglichkeit der Meinungsäußerung ein. Derzeit gibt es sogenannte Fuerzas de Choque, eine Art Schlägertrupps. Sie dienen der Einschüchterung aller, die öffentlich demonstrieren wollen, und setzen sich zusammen aus Staatsangestellten, Parteimitgliedern und Kriminellen. Sie halten sich auf öffentlichen Plätzen auf und sobald eine Demonstration angekündigt wird, organisieren sie eine Gegendemonstration. Staatsangestellte werden teilweise gezwungen an diesen Gegendemonstrationen teilzunehmen.

Auch sie persönlich erleben Repression. Wie genau werden sie bedroht?

Ziel ist es, mich öffentlich und politisch zu diskreditierten. Zudem habe ich Drohanrufe erhalten und mein Haus wurde in rot-schwarz bemalt. Vor einigen Tagen ist dann eine schwarze Liste mit zehn Personen aufgetaucht, die angeblich umgebracht werden sollen. Auch ich stehe darauf. Es ist eine Art dauerhafter psychischer Folter. Alles, um zu demobilisieren. Aber mich werden sie nicht zum Schweigen bringen.

Welche politische Alternative gibt es denn aus ihrer Sicht?

Ich sehe Nicaragua momentan in einer Sackgasse. Die gesamte politische Klasse ist diskreditiert oder geschwächt. Es gibt momentan keine Alternative. Die sozialen Bewegungen haben keine Ambitionen, politische Macht zu erlangen. Eine neue Entwicklung ist die Entstehung einiger Jugendorganisationen. Aber es wird lange brauchen, bis sich das auf die Politik auswirkt.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Dezember 2009


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