Daniel Ortegas zweiter Versuch
Nicaragua: Die Sandinistische Befreiungsfront bekämpft Armut und Hunger durch staatliche Sozialprogramme. Dennoch steht Präsident Ortega in der Kritik
Von Christian Klemm *
Vor dreieinhalb Jahren hat die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) in
Nicaragua die Regierung übernommen. Bildungssystem und
Gesundheitsversorgung sind seitdem gratis, der Hunger wird bekämpft.
Doch die Politik der FSLN ist umstritten.
Nicaragua wählte am 5. November 2006 Daniel Ortega zum
Staatspräsidenten. Die FSLN erreichte 38,07 Prozent der abgegebenen
Stimmen. Ihr politischer Gegner, die Liberale Verfassungspartei (PLC)
und deren Abspaltung, die Liberale Allianz Nicaraguas (ALN), erhielten
29 und 26,21 Prozent. Ortega war zur Zeit der Sandinistischen Revolution
von 1985 bis 1990 schon einmal Präsident des größten Landes
Mittelamerikas. Nach Jahren des Contra-Krieges wurden die Sandinisten im
Februar 1990 abgewählt.
Der vergangene Wahlkampf Ortegas war ein Novum in der Geschichte der
FSLN. Sie präsentierte sich darin als Partei, die eine ernsthafte
Versöhnung mit ihren einstmaligen Gegnern anstrebt. Die Sandinisten
sangen nicht mehr ihre Parteihymne »himno de la unidad« (Hymne der
Einheit), in der die USA als ein »Feind der Menschheit« bezeichnet wird,
sondern verwendeten John Lennons »Give Peace a Chance« als
friedenspolitisches Signal an die parteipolitische Konkurrenz. Die
Parteifarbe wechselten vom traditionell sandinistischen Rot-Schwarz zu
einem optisch weniger aggressiven Rosa. Außerdem betont Ortega bei jeder
Gelegenheit seinen christlichen Glauben. Jaime Morales Carazo, während
der US-amerikanischen Militärintervention der 80er Jahre eine führende
Figur der Contra-Guerilla, ist heute Vizepräsident Nicaraguas.
150 Millionen Dollar gegen den Hunger
Zu Beginn von Ortegas Präsidentschaft initiierte die FSLN das
Nahrungsmittel-Produktionsprogramm (»hambre cero« - Null Hunger). In der
gegenwärtigen Legislativperiode will die Regierung bis zu 150 Millionen
US-Dollar investieren, um 75 000 Familien aus der Armut herauszuholen.
Im Rahmen des Programms bietet die FSLN zum einen Babynahrung und
Schulspeisungen. Zum anderen wird armen Familien geholfen, eine
unabhängige Existenz zu gründen: Kühe, Säue, Viehfutter, Kleinvieh,
Saatgut, Zaundraht, Werkzeuge und andere Mittel zur Entwicklung der
landwirtschaftlichen Produktion werden an sie verteilt.
Für den Beginn der Umsetzung wählte die Regierung die rückständigsten
ländlichen Gebiete Nicaraguas. Die Durchführung leisten verschiedene
Nichtregierungsorganisationen. Finanziert wird das Programm unter
anderem durch Haushaltsmittel und mit einem Kredit der
Interamerikanischen Entwicklungsbank. Das Welternährungsprogramm und die
EU haben ihre Zuschüsse für 2009 gestrichen. Wer die Finanzhilfe
bekommt, entscheiden die »Komitees der Bürgermacht« (CPC).
Die Komitees werden seit Sommer 2007 von der FSLN eingesetzt. Im
Parlament fand sich keine Mehrheit für die CPC. Ortega ignorierte das
Votum der Abgeordneten und führte sie daraufhin per Dekret ein. Das
Verfassungsgericht bestätigte dieses Vorgehen. Ortegas Ehefrau und
rechte Hand Rosario Murillo koordiniert die Komitees auf nationaler
Ebene. Bezahlt werden sie vom Staat. Für die FSLN sind sie Elemente
einer direkten Volksdemokratie.
Die Komitees sind mit einem eigenen Haushalt ausgestattet. Ihre Aufgabe
ist es, sich um kommunale Angelegenheiten zu kümmern. Sie dienen als
Anlaufstelle für die Bürger, um Anliegen jeglicher Art vorzubringen.
Auch verwalten sie die staatlichen Sozialprogramme. Mehrheitlich
befinden sich die CPC in Händen der FSLN.
Einem Teil der Linken passt der Versuch, Nicaragua zu demokratisieren,
offenbar ganz und gar nicht. Die Komitees bevorzugen bei der Umsetzung
von »hambre cero« Mitglieder der Frente Sandinista, so ein gängiger
Vorwurf. Klaus Heß vom Wuppertaler Informationsbüro Nicaragua sieht die
CPC sogar als »Kern einer neuen Klientelwirtschaft«. Der
basisdemokratische Schein trüge, weiß Karl Burgmaier, ein ehemaliger
Entwicklungshelfer des Deutschen Entwicklungsdienstes in Nicaragua, zu
berichten. Und Gaby Gottwald, Mitarbeiterin der Linksfraktion im
Bundestag, malt das Gespenst eines totalitären Staates an die Wand: »So
ist zu befürchten, dass sich die Strukturen der 'direkten Demokratie'
bald als Strukturen der direkten Kontrolle durch Partei und Staat
entpuppen werden.« Oha! Man könnte meinen, Ortega baut einen
autokratischen Einparteienstaat nach Orwellschem Vorbild auf. Ein
absurder Vorwurf. Denn durch die CPC wird den Menschen ermöglicht,
Politik zu gestalten und an einem Wandel Nicaraguas mitzuarbeiten.
Zur Amtsübernahme Ortegas im Januar 2007 konnten etwa 24 Prozent der 5,9
Millionen Einwohner weder schreiben noch lesen. Mit kubanischer und
venezolanischer Hilfe wurde das Alphabetisierungsprogramm »Yo Si Puedo«
(Ja, ich kann) umgesetzt. Die Kampagne begann 2005 und hat bis etwa
Mitte 2007 mehr als 125 000 Menschen alphabetisiert. Sie richtet sich
ausschließlich an Menschen, die das 15. Lebensjahr bereits abgeschlossen
haben. Das Ziel einer umfassenden Grundschulbildung verfolgt die FSLN
dadurch, dass sie allen Kindern einen unentgeltlichen Schulbesuch
ermöglicht. Das Tragen einer Schuluniform ist nicht mehr zwingend
vorgeschrieben, so dass arme Familien diese nicht mehr anschaffen
müssen. Auch wird an den öffentlichen Schulen Nicaraguas eine Mahlzeit
unentgeltlich an die Schüler ausgegeben.
Im August des vergangenen Jahres feierten die Sandinisten den Sieg über
den Analphabetismus. Wie Ortega erklärte, sei der Anteil der erwachsenen
Bevölkerung, der weder lesen noch schreiben kann, von 21 auf 3,56
Prozent gesunken. Das habe auch die Organisation der Vereinten Nationen
für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) bestätigt. Nach deren
Kriterien gilt ein Staat als frei von Analphabetismus, wenn die Quote
unter vier Prozent der Bevölkerung sinkt. Damit ist Nicaragua nach
Venezuela, Kuba und Bolivien das vierte Land der ALBA (Bolivarianische
Alternative für Amerika), das diesen Erfolg feiern kann.
Kurz nach dem Amtsantritt Ortegas wurde in Nicaragua die
Gesundheitsversorgung wieder kostenlos. In der Bevölkerung aber genießt
das öffentliche Gesundheitssystem ein niedriges Ansehen. Die
Krankenhäuser sind überfüllt, stundenlanges Warten vor einer
Konsultation muss in der Regel einkalkuliert werden. Die Medikamente
sind knapp, technisches Gerät ist oft veraltet oder fehlt ganz.
Bevorzugt werden von den Nicaraguanern - insofern sie es sich leisten
können - Privatkliniken, die auch weiterhin existieren.
Die FSLN-Regierung erhöhte außerdem am 1. Juni 2007 den gesetzlichen
Mindestlohn von 77 auf 90 US-Dollar, was einem Anstieg um 18 Prozent
entspricht.
Noch vor dem Amtsantritt Ortegas - im Oktober 2006 - hatte das Parlament
in Managua ein Abtreibungsverbot beschlossen, das auch einen
Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen unter Strafe stellt.
28 Abgeordnete der FSLN stimmten für das Verbot. Die katholische Kirche
begrüßte die Gesetzesänderung; Feministinnen laufen dagegen Sturm und
fordern die Rücknahme.
Annäherung an Kuba und Venezuela
Die aktuelle Außenpolitik Nicaraguas ist durch die Politik der
lateinamerikanischen Integration gekennzeichnet. Diese geht auf eine
Initiative der Bolivarianischen Regierung Venezuelas zurück. Kuba und
Venezuela riefen Ende 2004 das Projekt ALBA ins Leben. Dieses setzt sich
einen gleichberechtigten Handel der lateinamerikanischen Staaten
untereinander als Ziel. Das Bündnis ist ein Gegenstück zu der
amerikanischen Freihandelszone ALCA, die von den USA für den
Doppelkontinent angestrebt wird.
Mit der Amtseinführung Daniel Ortegas am 10. Januar 2007 wurde auch der
Eintritt Nicaraguas in die ALBA vertraglich beschlossen. Entsprechend
sind neben den USA auch Kuba, Venezuela, Bolivien und Ecuador, die
ebenfalls dem Bündnis angehören, wichtige Handelspartner. Havanna stellt
Nicaragua medizinisches Gerät und Personal sowie Lehrmaterial und
-kräfte zur Verfügung. Kuba hat großen Anteil daran, dass in Nicaragua
der Analphabetismus besiegt wurde. Venezuela, fünftgrößter
Erdölproduzent weltweit, lässt Nicaragua 150 000 Barrel Öl täglich zu
Vorzugspreisen zukommen, um das chronische Energieproblem des Landes zu
beheben.
Daniel Ortega lässt kaum eine Möglichkeit aus, die USA verbal zu
attackieren. Doch Managua pflegt gute Wirtschaftsbeziehungen mit
Washington: Noch immer ist Nicaragua Mitglied in der
zentralamerikanischen Freihandelszone CAFTA, dem neben den USA auch die
mittelamerikanischen Länder Honduras, El Salvador, Costa Rica, Guatemala
und der Karibikstaat Dominikanische Republik angehören. Somit werden
noch immer nicaraguanische Märkte mit Produkten aus der
US-amerikanischen Landwirtschaft überschwemmt. Da einheimische
Kleinbauern gegen diese mit industriellen Maschinen arbeitenden
Landwirtschaftsbetriebe preislich nicht konkurrieren können, verlieren
sie ihre Existenz und landen als industrielle Reservearmee vor den Toren
der Fabriken.
Die Politik Ortegas wird von einem Großteil der Linken in Deutschland
kritisiert. Ihnen missfällt die Parteiführung der FSLN. Sie
charakterisieren Ortegas Regierungsstil als autokratisch und
unterstellen ihm, demokratische Freiheiten zu unterdrücken. Der
nicaraguanische Präsident ist für sie inzwischen ein Caudillo, ein
autoritärer und willkürlicher Herrscher. Fortschrittliche Impulse seien
von ihm nicht zu erwarten.
Stets wird Kritik an einem politischen Abkommen Ortegas mit dem
Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán von der Liberal-Konstitutionalistischen
Partei (PLC) geübt. Alemán hatte Millionen-Gelder veruntreut und wurde
im Dezember 2003 zu 20 Jahren Arrest verurteilt. Transparency
International führte ihn 2004 als einen der zehn korruptesten
Staatspräsidenten der vergangenen Jahre.
Durch den Pakt mit Aleman erlangte die FSLN die Kontrolle über den
Justizapparat. Rechnungshof, Bankenaufsicht, Wahlrat und weitere
Institutionen wurden mit Vertrauten der beiden Politiker besetzt.
Außerdem änderte man das Wahlrecht: Nun reichte bei Parlamentswahlen im
ersten Gang eine relative Mehrheit von 35 Prozent zum Sieg, wenn die
zweitstärkste Partei fünf Prozentpunkte zurückliegt. Möglich wurde das
alles durch eine Mehrheit von FSLN und PLC im Parlament. Im Januar 2009
wurde die Haftstrafe des korrupten Ex-Präsidenten aus Mangel an Beweisen
aufgehoben.
Durch den Pakt hat Ortega das liberale Lager in Anhänger Arnoldo Alemáns
und dessen Gegner gespalten - und somit erst seinen Wahlsieg möglich
gemacht. Denn gegen vereinte Liberale hatte er bei den
Präsidentschaftswahlen mehrfach den Kürzeren gezogen. Ohne die Klüngelei
mit Alemán wäre Ortega 2006 vermutlich wieder an der Wahlurne
gescheitert. Weder die Sozialprogramme noch die
Alphabetisierungskampagne wären dann zustande gekommen. Auch hätte ein
liberaler Präsident Nicaragua niemals in das ALBA-Bündnis geführt. Das
Land wäre unter liberaler Flagge weiterhin ein Brückenkopf des
US-Kapitals in der Region. Die Zusammenarbeit mit Alemán ist also kein
Pakt mit dem Teufel, sondern ein notwendiges Übel, um in Nicaragua
gegenwärtig eine andere Politik durchzusetzen.
Einfall der Heuschrecken
Nach der Wahlniederlage der FSLN 1990 haben die folgenden Regierungen
alles daran gesetzt, die Errungenschaften der Revolution rückgängig zu
machen. Buchstäblich wie ein Heuschreckenschwarm fiel das Kapital in
Nicaragua ein und privatisierte Schulen, Universitäten, Krankenhäuser
sowie die Strom- und Wasserversorgung. Weltbank und Internationaler
Währungsfonds hatten ihre helle Freude an der Privatisierungsorgie, die
1990 begann. Dass die Frente Sandinista diesen Trend - zumindest in der
Gesundheits- und Bildungspolitik - umgekehrt hat, ist ihr hoch
anzurechnen. Medizinische Versorgung ist genauso wie Bildung ein
Menschenrecht. Und dafür bezahlt man nicht. Das weiß auch Daniel Ortega.
Die Reformansätze der nicaraguanischen Demokratie - Stichwort CPC -
gehen in die richtige Richtung. Wie weit diese Komitees von den Menschen
akzeptiert werden, lässt sich bisher nur vermuten. Noch zu frisch ist
diese Experiment. Dagegen wirkt die Zusammenarbeit Ortegas mit der
katholischen Kirche aufgesetzt. Es ist eine Zweckgemeinschaft: Die
Katholiken versprechen sich, dass nicht noch mehr Gläubige zu den
evangelikalen Sekten überlaufen. Die FSLN beabsichtigt, durch das
Bündnis Wählerschichten anzusprechen, die der Partei traditionell fremd
sind. Das strikte Abtreibungsverbot, das die katholische Kirche und
Teile der FSLN befürworten, ist für Linke nicht akzeptabel.
Die Frente Sandinista hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren eine
klare Linie vermissen lassen. Außenpolitisch fährt Daniel Ortega einen
Zick-Zack-Kurs zwischen CAFTA und ALBA. Innenpolitisch könnte Ortega
konsequenter handeln - und sich beispielsweise die Großgrundbesitzer und
Fabrikanten zur Brust nehmen. Vergesellschaftung privatwirtschaftlicher
Unternehmen hat es in den vergangenen dreieinhalb Jahren nicht gegeben.
Es ist also noch offen, wohin Ortegas politische Reise - vorausgesetzt,
er wird im kommenden Jahr wiedergewählt - gehen soll. Eins aber ist
nicht zu leugnen: Seine bisherige Politik ist ein deutlicher Fortschritt
gegenüber der Amtszeit von Enrique Bolanos, der Nicaragua von 2002 bis
2007 regierte. Wenigstens das sollte man anerkennen.
* Der Text, erschienen am 24. Juli 2010 im "neuen Deutschland", ist
eine leicht bearbeitete und stark gekürzte Fassung eines Beitrags, der
im August-Heft der Marxistischen Blätter erscheint.
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