Nur die Kleinbauern können die Ernährungssouveränität sichern
Nicaraguas Regierung will Entwicklungshilfegelder für strategische Investitionen nutzen
Valdrack Jaentschke ist im Außenministerium Nicaraguas als Vizeminister
für internationale Kooperation und Entwicklungszusammenarbeit tätig.
Über das deutsch-nicaraguanische Verhältnis auf Regierungsebene und die
Entwicklungsstrategie der sandinistischen Regierung unter Daniel Ortega
unterhielt sich anlässlich seiner Deutschlandreise mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling.
ND: Was ist das Ziel Ihrer Reise nach Deutschland?
Jaentschke: An erster Stelle versuchen wir Einfluss auf die
Entscheidungsfindung der deutschen Regierung in Sachen
Entwicklungszusammenarbeit mit Nicaragua zu nehmen. Wir glauben, dass es
eine Verantwortung des Nordens in Bezug auf das Thema der Entwicklung im
Süden gibt. Die 2005 verabschiedete Paris-Erklärung über die Wirksamkeit
von Entwicklungshilfe kam zum Schluss, dass je weniger die
Entwicklungshilfe mit Bedingungen vergeben wird, umso effektiver wird
sie in der Regel eingesetzt. In diesem Kontext versuchen wir, die
deutsche Regierung zu einem Nachdenken in Bezug auf ihre Haltung zur
ungebundenen Haushaltshilfe für Nicaragua zu bewegen.
Das Entwicklungsministerium (BMZ) hat 2007 die ungebundene
Haushaltshilfe für Nicaragua aufs Eis gelegt und das mit »schlechter
Regierungsführung« begründet. Wie ist der Stand?
Die Haushaltshilfe liegt weiter auf Eis, ebenso wie jene der
Europäischen Union. Darüber diskutieren wir beim Besuch, Deutschland hat
ja auch eine gewichtige Stimme innerhalb der EU. Wir wollen der
Bundesregierung vermitteln, wie effizient und mit welcher Verpflichtung
sich die sandinistische Regierung der Armutsbekämpfung verschreibt. Das
können wir mit Statistiken belegen: Am 23. August werden wir Nicaragua
frei von Analphabetismus erklären. 1990, am Ende der ersten
sandinistischen Regierungszeit (1979-1990) hatte Nicaragua weniger als
zehn Prozent Analphabeten. Zu Beginn der sandinistischen Revolution
betrug sie über 50 Prozent. 17 Jahre Neoliberalismus haben den
Analphabetismus wieder auf 35 Prozent anwachsen lassen. In den
zweieinhalb Jahren der Regierung Ortega seit Anfang 2007 wurde die Rate
mit Hilfe von Kuba, Venezuela und anderen auf unter vier Prozent
gesenkt. Und das mit Mitteln aus der Budgethilfe, die der Regierung zur
freien Verwendung zur Verfügung standen. Wir verwenden die Budgethilfe
für langfristige, strategische Investitionen in Gesundheit, Bildung und
die Entfaltung der produktiven Kapazitäten, ohne die eine Transformation
des Landes nicht denkbar ist.
Welche Länder der EU leisten noch Budgethilfe?
Holland, Norwegen und die nicht zur EU gehörende Schweiz beispielsweise
halten an der Budgethilfe fest, eingefroren hat sie neben Deutschland
Finnland und eben die EU-Kommission. Nicaragua ist ein Land, das sich in
einem Prozess befindet, seine institutionellen Strukturen zu stärken.
Das verläuft nicht problemlos, aber wir unterscheiden uns dabei nicht
wesentlich von anderen Ländern. Der politische Wille, die demokratischen
Strukturen zu vertiefen und zu verfestigen, besteht bei der Regierung.
Es geht uns vor allem um die Erweiterung der Partizipation der Bürger.
Die Kombination aus wenig Bildung und wenig Partizipation kommt nur der
traditionellen Oligarchie zugute, die die Politik bisher bestimmt hat.
Dieses Muster wollen wir ändern, indem wir Bildung und Partizipation
stärken.
Gab es für diese Position Verständnis auf Seiten der deutschen
Gesprächspartner?
Ich denke schon. Wir konnten einige Bedenken zerstreuen und die
unbestreitbaren Erfolge in der Armutsbekämpfung herausstellen. Wir sind
zu einem konstruktiven politischen Dialog mit jedermann bereit. Wir
hören gerne zu. Ein Dialog unter gleichen ist nicht einfach, wenn das
eine Land arm und auf Finanzhilfen angewiesen ist und das andere Land
alle seine Finanzerfordernisse in den eigenen Händen hat. Es handelt
sich dann fast zwangsläufig um einen asymmetrischen Dialog.
Warum ist die internationale Kooperation so wichtig für Nicaragua?
Unglücklicherweise sind wir ein Land, das aufgrund seinen Strukturen
sehr verwundbar und auf ausländische Unterstützung angewiesen ist. Wir
wollen diese Abhängigkeit abbauen und überwinden. Wir wollen die uns
zukommenden Mittel dafür einsetzen, die Agrarproduktivität zu erhöhen.
Während der neoliberalen Phase von 1990 bis 2007 wurden die internen
produktiven Strukturen generell demontiert und speziell die
Produktionskapazität der armen Bauern. In 24 Stunden erhält man von
einer privaten Bank einen Kredit, um ein Auto zu kaufen, aber wenn ein
Bauer um einen 1000-Dollar-Kredit zur Vorfinanzierung seiner Produktion
nachsucht, wird er abgewiesen. In der neoliberalen Ära wurde die
Strategie verfolgt, die Bauern zu schwächen,um sie als Arbeitskräfte in
die Maquilas (Billiglohnfabriken) zu zwingen. Unser Modell lehnt das ab.
Worauf basiert Ihr Modell stattdessen?
Wir wollen vor allem die Landwirtschaft stärken, um
Ernährungssouveränität zu erreichen. Die Besonderheit von Nicaragua
liegt darin, dass 250 000 arme Bauernfamilien Land besitzen, bei
insgesamt 5,5 Millionen Einwohnern. Diese Bauernfamilien produzieren vor
allem Grundnahrungsmittel wie Mais, Bohnen und Reis. Der Staat und die
Banken müssen diese Familien mit Technologie und Kredit versorgen, um
eine produktive Transformation in Gang zu setzen. Das wird angesichts
der Welternährungskrise und den tendenziell steigenden
Nahrungsmittelpreisen umso wichtiger. Und wir haben es immerhin schon
seit dem Amtsantritt von Ortega 2007 geschafft, dass wir bei
Grundnahrungsmitteln vom Importeur zum Exporteur geworden sind. Ein
erster Schritt zur Ernährungssouveränität, auf dem wir aufbauen wollen.
* Aus: Neues Deutschland, 11. August 2009
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