Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streitfrage: Nicaragua heute – eine entwicklungspolitische Alternative?

Es debattieren: Günter Pohl und Dr. Ralf Leonhard

Am 19. Juli 1979 siegte die Sandinistische Revolution in Nicaragua und beendete die Diktatur der Familie Somoza, die rund vier Jahrzehnte das mittelamerikanische Land terrorisierte. Die Sandinisten beseitigten u. a. den Analphabetismus und errichteten ein unentgeltliches Gesundheits- und Bildungssystem. Nach mehr als zehn Jahren Krieg, wesentlich finanziert durch die Vereinigten Staaten von Amerika, wurde die Sandinistische Regierung, geführt von Präsident Daniel Ortega, im Februar 1990 abgewählt.
Ende 2006 wurde Ortega als Parteivorsitzender der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) erneut zum Präsidenten Nicaraguas gewählt. Doch seine Politik ist – auch bei den Linken und der Nicaragua-Solidarität in Deutschland – umstritten. ND

Es debattieren: Günter Pohl, Jahrgang 1965, Autor zu Themen der politischen Entwicklungen in Lateinamerika und Dr. Ralf Leonhard, Jahrgang 1955, studierter Jurist und freier Journalist, von 1982 bis 1996 Zentralamerika-Korrespondent der »tageszeitung« (taz).

Solidarität aus Prinzip

Von Günter Pohl *

So manche Stereotype prägen die Artikel, die sich in diesen Tagen mit der Frage befassen, warum oder warum eben nicht Solidarität mit dem heutigen Nicaragua geübt werden soll. Einige eigentlich banale Grundregeln fallen dabei zuweilen unter den Tisch.

Die Selbstverständlichkeit, dass die letzten zwanzig Jahre überall nachhaltige Veränderungen brachten, scheint im Falle Nicaraguas zu einem automatisierten Abwertungsreflex zu geraten, was die heutige Politik der FSLN angeht. In der Tat: Formal scheint ja die FSLN mit der Wahl des Jahres 2006 an die Regierung zurückgekehrt. Das stimmt aber nur dem Namen nach. Es wird übersehen, dass die 1979 bis 1990 regierende FSLN damals keine Partei war, sondern eine militärisch gegen eine Diktatur siegreiche Guerilla, die daher auch anders agieren musste als eine Partei. Ferner wird der damaligen Regierungszeit eine Aura von Idealen verpasst, die vielleicht mehr mit den Erwartungen ausländischer Kaffeebrigadisten als mit dem Machbaren zu tun hat. Fakt ist nämlich, dass die damalige FSLN erstens nicht lupenrein links oder gar marxistisch war (sondern ein Bündnis aus linken und bürgerlichen Kräften), zweitens kein sozialistisches Programm verfolgte (sondern zunächst den Sturz der Somoza-Diktatur und dann die Verteidigung der Befreiung gegen die innere und äußere Konterrevolution) und drittens selbst bei den notwendigerweise zaghaften Reformprogrammen aufgrund des Drucks durch den Contra-Krieg nicht effektiv weiterkommen konnte.

Mit den Wahlen vom Februar 1990 ging das sandinistische Projekt gespalten in die Opposition, wurde bald Partei und regierte ab da »von unten«, wie Daniel Ortega bei der Amtsübergabe gesagt hatte. Was als eine der essenziellen Errungenschaften blieb, beschrieb der nicaraguanische Historiker Aldo Díaz im November 2005 so: »Die wichtigste Konsequenz der Niederlage der Sandinistischen Front war die Einführung der demokratischen Regierungswechsel, nach fast neunzig Jahren. (…) Vier Generationen von Nicaraguanern hatten nie einen demokratischen Regierungswechsel kennengelernt, und auch nicht, dass eine bewaffnete Revolution die Macht durch Wahlen an eine ideologisch diametral andere politische Kraft abgegeben hätte. Mit anderen Worten, der damals eingeführte demokratische Wechsel ist eine historische Tatsache, nicht nur für Nicaragua, sondern auch für Lateinamerika und die Karibik. Für die Zukunft ist festzustellen, dass die sandinistische Bewegung die Möglichkeit zur Wiedergewinnung der Regierung gewahrt hat, in einem geschichtlichen Augenblick, in dem sich eine neue lateinamerikanische Mehrheit gegen den globalisierten Neoliberalismus zusammenfindet.«

Letzteres ist nun geschehen, aber es war nun eine Partei FSLN, die diese Möglichkeit für die sandinistische Bewegung genutzt hat. In einer anderen Zeit: ohne Kalaschnikow, aber durch Wahlen – und übrigens als Minderheitsregierung. Und Regierung ist eben auch nicht Macht. Noch etwas, das in aggressiv-antiaufklärerischen Zeiten wohl immer wieder erwähnt werden muss.

Zwischen der ersten Regierungszeit, die wegen der militärischen Auseinandersetzung kaum über die Reformprogramme bei Bildung und Gesundheit sowie Landverteilungen (deren eilige Legalisierung nach der Niederlage 1990 heute von manchen ihrer damaligen Nutznießer als »Piñata« diffamiert wird) hinauskommen konnte, und der 2007 begonnenen Regierungsperiode lagen mehr als sechzehn Jahre rechter Privatisierungspolitik. Eine Zeit, die nicht nur die vielleicht größte Errungenschaft, die Alphabetisierung, zerstörte. Auch wegen dieses zeitlichen Kontextes sind übertriebene Erwartungen an eine Linksregierung in einem der ärmeren Länder Amerikas, noch dazu in Zeiten der Krise, sicher unangebracht.

Dennoch sind in den zweieinhalb Jahren seit dem Wechsel verschiedene Sozialprogramme der FSLN angelaufen: null Hunger, null Wucher, Produktivgutscheine für Bauernfamilien, Kinder-Programm »Amor«, Kreditvergabe, Wohnungs- und Straßenbau, Alphabetisierung mit über 54 000 Freiwilligen, Entprivatisierung des Bildungswesens, Kostenfreiheit des Gesundheitswesens, Wiedereinführung der Sozialversicherung. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) lobte die nicaraguanische Regierung im Mai 2009 für ihre vorbildliche Politik bei der Nahrungsmittelsicherheit. Hinzu kommt die erneuerte Idee direkter Demokratie, die auf die Sandinistischen Verteidigungskomitees (CDS) der 70er Jahre zurückgeht: die Räte der Bürgermacht, an denen sich eine halbe Million Menschen beteiligen. Auch außenpolitisch hat Präsident Ortega mit der Mitgliedschaft in der auf solidarischem Ausgleich und nicht auf Vorteilsnahme basierenden Bolivarianischen Alternative Amerikas (ALBA, heute: Bolivarianisches Bündnis für die Völker Amerikas) entwicklungspolitische Akzente gesetzt.

Diese Politik war wohl nicht so erfolglos wie mancher »linke« Kritiker sagt, legt man die Ergebnisse der Kommunalwahlen 2008/2009 zugrunde, die der FSLN mit 109 der 153 zu vergebenden Bürgermeisterämter einen deutlichen Zuwachs brachten. Die vom »Movimiento Renovador Sandinista« (MRS), der neoliberalen FSLN-Rechtsabspaltung (die im März für die Wahlen in El Salvador übrigens die dortige Rechtspartei ARENA unterstützte, die während des Bürgerkriegs für tausende Morde verantwortlich war), formulierten Wahlbetrugsvorwürfe werden genauso regelmäßig wie verlogen begleitet von der angeblich fehlenden internationalen Wahlbeobachtung. Die CEELA (Rat der Wahlexperten Lateinamerikas) war aber neben dem »Quito«- und dem »Tikal-Protokoll« im Lande; alle drei Organisationen stellten keine Unregelmäßigkeiten fest.

Der Schatten über der FSLN ist das für jeden Linken definitiv abzulehnende, von der PLC-Rechtsregierung 2006 kurz vor den Wahlen beschlossene und von Teilen der FSLN-Fraktion opportunistisch unterstützte Schwangerschaftsabbruchverbot. Erwähnt werden darf aber auch, dass die FSLN mit einem Gesetzentwurf zur Rückkehr zur alten Regelung an der jetzigen Opposition scheiterte.

Statt praxisferner, zuweilen eurozentristischer Belehrungen aus der Vogelperspektive braucht Nicaraguas Regierung auch dreißig Jahre nach dem Sieg der Volksrevolution Solidarität. Nicht erst seit den Ereignissen im Nachbarland Honduras und auch nicht deswegen – sondern prinzipiell.

* Günter Pohl, 1965 geboren, schreibt regelmäßig zu politischen Entwicklungen in Lateinamerika, u. a. in »ila«, Monatszeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Im Juni veröffentlichte er dort einen längeren Diskussionsbeitrag zur Rezeption der heutigen FSLN und Daniel Ortegas in der deutschen Linken.


Revolution als Farce

Von Ralf Leonhard **

»Revolution, Phase 2«, so versucht Präsident Daniel Ortega seine Regierung zu verkaufen. 30 Jahre nach dem Sturz der Somoza-Diktatur und dem Beginn eines sozialrevolutionären Prozesses ist von der Sandinistischen Revolution nichts als die antiimperialistische Rhetorik übriggeblieben.

Nach 17 Jahren neoliberaler Regierungen hat Ortega im Januar 2007 neuerlich in den Präsidentenpalast einziehen können. Voraussetzung waren ein Kuhhandel mit dem ebenso korrupten wie reaktionären Expräsidenten Arnoldo Alemán, eine Versöhnung mit dem konservativsten Teil der Katholischen Kirche und die Spaltung der Liberalen Partei. Durch den Pakt mit Alemán wurden die Staatsgewalten und Kontrollorgane aber auch der einträgliche Finanzsektor zwischen Anhängern der beiden Caudillos aufgeteilt und das Wahlgesetz so abgeändert, dass es Ortega ohne Stichwahl gewinnen konnte. 35 Prozent der gültigen Stimmen und mindestens fünf Prozentpunkte Abstand zum Zweitplazierten reichen heute aus. Die Spaltung der Liberalen gelang, als der Liberale Präsident Enrique Bolaños seinen Vorgänger Arnoldo Alemán wegen Korruption vor Gericht stellen ließ, wo er zu 20 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. »Arnoldistas« und Neoliberale hassen einander mehr als den gemeinsamen Gegner: die Sandinisten. Den Segen der Kirche holte sich Ortega mittels des schärfsten Antiabtreibungsgesetzes des Kontinents, das auf Initiative der Sandinisten unmittelbar vor den Wahlen vom November 2006 durch das Parlament gepeitscht wurde.

Ein Machiavelli hätte seine Freude. Ortega hat Schritt für Schritt seine Rückkehr an die Macht, die er einst an den Urnen verlor, konsequent vorbereitet. Kompromisse sind in der Politik notwendig. Doch wie weit darf man gehen, wenn man die eigene moralische Integrität nicht aufs Spiel setzen will? Wer diese Politik kritisierte, wurde als Agent des Imperialismus verunglimpft. Wer nur von den sandinistischen Medien durch den Dreck gezogen wurde, hatte noch Glück, denn anderen wurde wegen erfundener Anschuldigungen die Ortega-hörige Justiz an den Hals gehetzt. Der ehemalige Revolutionskommandant Henry Ruiz oder der Journalist Pedro Joaquín Chamorro können davon ein Lied singen. Der nachweislich korrupte Alemán, der Ortega politisch nützlich ist, wurde hingegen nachträglich freigesprochen, der verurteilte Mörder eines politischen Gegners auf freien Fuß gesetzt.

Die Sandinistische Revolution beendete eine Familiendiktatur, die sich mit Brutalität und Wahlbetrug über 40 Jahre an der Macht gehalten hatte. Als bleibende Errungenschaft hinterließ sie eine gewisse Rechtsstaatlichkeit und Institutionalität. Die wird jetzt schrittweise demontiert. Daniel Ortega versucht, sich mittels Verfassungsänderung an der Macht einzuzementieren. Verwandte werden in Schlüsselpositionen untergebracht, um die Herrschaft der Familie abzusichern. Ein Wahlschwindel der flagrantesten Form sicherte der Ortega-Partei vergangenen November den Sieg in Managua und wahrscheinlich über 30 weiteren Gemeinden. Selbst über Ortegas Wahlsieg von 2006 liegt ein Schatten, weil der Wahlrat acht Prozent der Stimmen noch immer nicht ausgezählt hat.

Die Gemeindeautonomie, von der gerade die Sandinisten profitierten, als sie in Opposition waren, aber wichtige Städte regierten, wird durch das System der Bürgerbeteiligungskomitees (CPC) unterhöhlt – eine vertikal organisierte Parallelstruktur zum staatlichen Apparat, der auf die Parolen der First Lady Rosario Murillo hört. Wie einst in der jungen Revolution zählt politische Zuverlässigkeit mehr als fachliche Kompetenz. Tragisches Beispiel dafür ist der ehemalige Boxchampion Alexis Argüello, dessen Popularität bei den Gemeindewahlen in Managua als Stimmenmagnet missbraucht wurde. Als Bürgermeister, der mit der Schmach des Wahlbetrugs leben musste, war er völlig machtlos und wurde von Ortegas Vertrauensleuten unentwegt gedemütigt. Daran zerbrach er Ende Juni. Am Tag, an dem er seinen Rücktritt bekannt geben wollte, wurde er mit einer Kugel im Herzen aufgefunden. Die Ärzte konstatierten sehr schnell Selbstmord.

Aber Ortega tut doch etwas für die Armen? Nach drei neoliberalen Regierungen, die das soziale Netzwerk demontierten und vor allem die Unternehmer förderten, war der Reformbedarf tatsächlich groß. Die UNESCO bescheinigt Nicaragua, dass in zwei Jahren der Analphabetismus, der wieder auf 40 Prozent geklettert war, praktisch ausgerottet ist. Die FAO preist das Null-Hunger-Programm als das beste Nahrungssicherheitsprogramm in über 70 untersuchten Ländern. Bedürftige Familien bekommen eine trächtige Kuh, ein Zuchtschwein, Saatgut und Geld für landwirtschaftliche Beratung. Zielperson für dieses Paket im Gegenwert von 2500 US-Dollar ist immer die Frau. Die Begünstigten sollen sich dann zu Genossenschaften zusammenschließen, um langfristig effizienteres Wirtschaften zu ermöglichen.

Das vom Ökonomen Orlando Núñez entworfene Programm hat einige Haken. Die Allerärmsten werden nicht erreicht, weil sie kein Land haben. Und die ausländischen Zuchtschweine brauchen Spezialnahrung, während sich die genügsamen einheimischen Rüsseltiere mit Lebensmittelabfällen zufrieden geben. Viele wurden daher aus Kostengründen geschlachtet, bevor sie Nachkommen in die Welt setzen und damit Einkommen erzeugen konnten. »Dazu kommt, dass 60 Prozent der Kühe nicht kalben«, so Sinforiano Cáceres, Vorsitzender des Genossenschaftsdachverbandes FENACOOP.

Die praktischen Probleme werden durch politische Gängelung noch potenziert. Denn wer in den Genuss der Segnungen kommt, bestimmen die CPC. Sie haben den Auftrag, zu 50 Prozent die sandinistische Klientel zu bedienen und zur Hälfte Familien auszuwählen, die politisch auf der anderen Seite stehen, aber meinungsbildend im liberalen Lager sind. Von Landwirtschaft verstehen sie nichts. Deswegen schaffen sie auch nur 18 bis 25 Prozent der Umsetzung.

Ortega finanziert sein Sozialprogramm mit venezolanischen Petrodollars, die nicht in das ordentliche Budget eingehen, sondern getrennt und ohne jede Transparenz verwaltet werden. Der Verdacht, dass davon ein Teil in die Kassen der Familie Ortega fließt, kann nicht überprüft werden. Doch der einst völlig mittellose Guerillero, der 30 Jahre lang nichts anderes als Politik gemacht hat, ist heute ein vermögender Mann mit Beteiligungen in allen möglichen einträglichen Unternehmungen.

** Dr. Ralf Leonhard, Jahrgang 1955, ist studierter Jurist und freier Journalist. Von 1982 bis 1996 hat er in Nicaragua gelebt und als Korrespondent der »tageszeitung« (taz) über Zentralamerika berichtet. Seit 1996 arbeitet er als freier Journalist und Österreichkorrespondent der taz in seiner Heimatstadt Wien. Ralf Leonhard bereist Zentralamerika regelmäßig; zuletzt war er im Juni in Nicaragua.

Beide Beiträge aus: Neues Deutschland, 18. Juli 2009 ("Debatte")


Zurück zur Nikaragua-Seite

Zurück zur Homepage