Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Vom Triumph der Revolution bis zum Sieg der Contras

Anlässlich des 25. Jahrestags des Sieges der sandinistischen Revolution in Nikaragua: Zwei Reden von Daniel Ortega - Ein Interview mit Sergio Ramirez

Im Folgenden dokumentieren wir
  1. zwei historische Reden von Daniel Ortega, des Führers der Sandinisten in Nikaragua,
    die erste aus dem Jahr 1981 (am zweiten Jahrestag der Revolution),
    die zweite aus dem Jahr 1990 (zwei Tage nach der Wahlniederlage der Sandinisten) sowie
  2. ein Interview mit Sergio Ramirez, seiner Zeit führendes Mitglied der Sandinistischen Bewegung und der revolutionären Regierung, bis er Mitte der 90er Jahre die Partei verließ.


Für eine neue Ordnung

Aus der Rede Daniel Ortegas, Koordinator der Regierung des Nationalen Wiederaufbaus, gehalten 1981 am zweiten Jahrestag der Revolution vor Hunderttausenden von Menschen auf dem »Platz des 19. Juli« in Managua

Die nikaraguanische Revolution muß im Zusammenhang mit den großen Spannungen in der Welt gesehen werden, mit der globalen Ungerechtigkeit, die es wenigen hochindustrialisierten Ländern erlaubt, einen Lebensstandard zu erreichen, der doppelt so hoch ist wie der der Bevölkerung der Dritten Welt.

Wir sind als ein Volk der Dritten Welt mit geringen Ressourcen schwerwiegend von Ungerechtigkeit betroffen. Die Völker der Dritten Welt kämpfen für eine neue Weltwirtschaftsordnung: Wir kämpfen dafür, daß Kaffee, Baumwolle und Zucker, daß das Fleisch und die anderen Exportgüter, die unsere Arbeiter im Schweiße ihres Angesichts herstellen, nicht jedes Jahr schlechter bezahlt werden und daß uns die Traktoren, Maschinen, Ersatzteile und Arzneimittel, die wir importieren, nicht jedes Jahr teurer verkauft werden.

Inmitten dieser ökonomischen Ungerechtigkeit in der Welt gibt es zusätzlich noch eine spezifische Situation, die uns in schwere Sorge versetzt. Ein Land, das als Weltmacht große Verantwortung trägt, ein Land, das unser Territorium mehrfach angegriffen und mit Blut getränkt hat, betreibt unserer Revolution gegenüber eine aggressive Politik. Ihr alle versteht, daß ich damit die Vereinigten Staaten meine.

Im Januar 1981, als in den Vereinigten Staaten eine neue Regierung antrat (die Reagan-Administration, d. Red.), war eine der ersten Entscheidungen, die sie traf, die Streichung eines zugesagten, aber noch nicht ausgezahlten 20-Millionen-Dollar-Kredits für Nikaragua. Im April, vier Monate später, entscheidet dieselbe Regierung, die noch ausstehenden 15 Millionen eines unterzeichneten 70-Millionen-Kredits einzufrieren. Im gleichen Monat streicht man uns ebenfalls 11,4 Millionen für wirtschaftliche Entwicklung und 14,7 Millionen für den Ankauf von Weizen und Speiseöl. (...)

Darüber hinaus toleriert die nordamerikanische Regierung mit ausgesprochenem Wohlwollen, daß sich auf ihrem Territorium ehemalige Nationalgardisten Somozas auf militärische Aktionen vorbereiten, ja, sie rechtfertigt die Existenz dieser Ausbildungscamps auch noch. (...)

Zur schwierigen internationalen Situation kommt unsere eigene Situation hinzu: Sie ist noch komplexer und schwieriger. Welches Erbe haben wir am 19. Juli angetreten! Wir haben ein Land geerbt, das ausgeplündert war vom Imperialismus und von einem Wirtschaftssystem, das den Interessen einer in- und ausländischen Minderheit diente: ein Land, ausgeplündert von der Familie Somoza und ihren Handlangern, schwer getroffen durch das Erdbeben (am 23. Dezember 1972 verwüstete ein schweres Erdbeben die Hauptstadt Managua, d. Red.), schließlich auch noch zerstört im Befreiungskrieg. Ein Land ohne eigenes Kapital, hochverschuldet, mit einer am Boden liegenden Industrie. Zusammengenommen hat das Volk von Nikaragua am 19. Juli Verluste von mehr als zwei Milliarden Dollar und Schulden in Höhe von mehr als 1,65 Milliarden geerbt. So sieht sie aus, die Frucht der somozistischen und kapitalistischen Effizienz.

Wie haben sich angesichts all dieser Tatsachen die verschiedenen sozialen Gruppen des Landes verhalten? (...)

Da war das patriotische Verhalten all der Campesinos und Landwirte, die ihr Land effizient bewirtschaften, Kaffee, Zucker und Baumwolle anbauen und heute in ihrer Mehrheit in der Nationalen Union der Landwirte (UNAG) zusammengeschlossen sind. Und der Gerechtigkeit halber muß erwähnt werden, daß es in diesem Land auch Großunternehmer gibt, die ihre Ländereien und Betriebe effizient bewirtschaften.

Auf der anderen Seite gibt es die negative Haltung der Unternehmer mit nichtpatriotischer Einstellung, derjenigen, die ihren Fabriken und ihrem Grundbesitz das Kapital entzogen haben, derjenigen, die 1978, zu Zeiten Somozas, noch 1,26 Milliarden Cordobas in diesem Land investierten und heute kaum noch 589 Millionen. (...) Diese selben Leute sind es auch, die ihre Pflicht zu produzieren mit politischen und ideologischen Konzessionen der Revolution verknüpfen wollen. Sie wollen erreichen, daß all die erwähnten Länder ihre Hilfe für Nikaragua einstellen und wir vom Ausland isoliert werden. Sie gehen immer engere Bindungen mit dem Somozismus ein, nehmen sogar jene verbrecherischen Nationalgardisten, die im Gefängnis sitzen, in Schutz und unterstützen die vom Ausland aus vorbereiteten Verschwörungen. (...)

Wir haben also eine wirtschaftlich, politisch und militärisch gespannte Lage, ein aggressives, abenteuerliches und gefährliches Verhalten der Vereinigten Staaten und ernsthafte Beeinträchtigungen der Wirtschaftsstrukturen – und wir haben schließlich auch zu kämpfen mit Fehlern im Inneren der Revolution.

Auch zu den Fehlern, die wir in diesen zwei Jahren Revolution begangen haben, den Fehlern der revolutionären Regierung, müssen wir stehen. Umsetzungskapazitäten haben gefehlt, als Kredite für bestimmte Projekte zur Verfügung standen. (...)

Da gab es auch einen fehlenden Zusammenhalt der revolutionären Regierung. Die Korruption in der Verwaltung haben wir noch nicht wirklich ausrotten können. Da gab es von einem Teil der Regierung Widerstände, sich wirklich auf die Massen zu stützen. Dienstleistungen für die arbeitende Bevölkerung, gerade auch im Gesundheitswesen, waren nicht ausreichend. In vielen Bereichen war die politische Beteiligung nicht groß genug. Da gibt es Regierungsangestellte, die immer noch meinen, in Nikaragua habe sich nichts geändert. So etwas zeigt sich auch in der spärlichen Teilnahme an den Milizen und der freiwilligen Arbeit.

So sehen die Schwächen aus, die wir zu verantworten haben.

Im Innern unserer Revolution begegnen wir auch Unzulänglichkeiten, die von der Basis, von den Arbeitern selbst ausgehen: Da gibt es z. B. die Sabotage der nationalen Wirtschaft, fehlende Disziplin am Arbeitsplatz und die Forderung nach Tarifvereinbarungen, die keine Rücksicht auf die schwierige Situation dieses Landes nehmen. Da gibt es wirtschaftliche Sabotage durch Gewerkschaftszentralen, die einen Teil unserer Arbeiter in die Irre führen, statt wirklich ihre Interessen zu vertreten. Im allgemeinen hat sich die Arbeiterklasse Nikaraguas jedoch, das gilt auch für die Regierungsangestellten, bewußt und diszipliniert verhalten. Und dieses Verhalten war und ist ausschlaggebend dafür, daß wir vorangekommen sind und auf diesem Weg weitergehen können. Außenpolitisch werden wir den Weg zur ökonomischen Unabhängigkeit fortsetzen – für die Selbstbestimmung und gegen die Intervention. Zugleich werden wir unsere Beziehungen zu allen Ländern, die es wünschen, vertiefen. Auch gegenüber den Vereinigten Staaten sind wir flexibel – aber wir bleiben standhaft. Sie müssen die Ausbildungslager in Miami verbieten und müssen aufhören, die Arbeit der Konterrevolutionäre gegen Nikaragua, die so viele Tote gekostet hat und kostet, weiter zu stützen. Sie dürfen in Zentralamerika nicht intervenieren – so wie sie es heute schon in El Salvador tun. Sie müssen aufhören, uns wirtschaftlich zu bekämpfen. Statt der Rolle des Abenteurers sollten sie die der politischen Verantwortung übernehmen. Wir sagen ihnen, daß wir, dies vor allem, weiterhin Anti-Imperialisten sind. (...)

Wir werden uns bemühen, das Bewußtsein der Arbeiterklasse dafür zu verbessern.

Wir werden eine Antwort geben auf die Erwartung jener politischen Gruppen und jener Unternehmer, die unserer Wirtschaft die Basis für die Produktion entziehen wollen, eine Antwort auf diese Versuche, die Volksmacht in Frage zu stellen. Wir sagen ihnen: Wir stärken die Volksmacht, und ihr müßt lernen, mit dieser Volksmacht zu leben.

* Der Text dieser Rede sowie der folgenden Ansprache wurde in der "jungen Welt" vom 17. Juli 2004 veröffentlicht.

Nicht am Ende

Öffentliche Ansprache des FSLN-Vorsitzenden Daniel Ortega am 27. Februar 1990, zwei Tage nach der Wahlniederlage

Wir Mitglieder der FSLN, die sich heute morgen im Kongreßzentrum Olof Palme versammelt haben, halten heute die erste »Versammlung mit dem Gesicht zum Volke« nach dem 25. Februar (dem Tag der Wahlniederlage, d. Red.) ab. Während Ihr Euch hier auf dem Platz Omar Torrijos, dem Platz der Blockfreien, eingefunden habt, haben wir viele Stunden diskutiert. Diese Debatten drehten sich darum, was die Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) war, was sie ist und was sie sein wird.

Wir erinnerten uns der Jahre, die uns Mitglieder der FSLN geprägt haben. Wir haben uns unter den härtesten Bedingungen zusammengefunden, in der Illegalität, im Gefängnis, während der Folterungen und unter Todesgefahr. Wir erinnerten uns, daß es nicht die materielle Macht war, die die Frente Sandinista geschaffen hat. Es waren weder das Gold, noch der Reichtum, aus der die Revolution hervorgegangen ist. Es war die Moral des Volkes und das sandinistische Bewußtsein, die diese Revolution hervorgebracht haben.
(Sprechchöre: »Wir wollen keine Guardias! Wir wollen keine Guardias!« Gemeint sind die gefürchteten Nationalgardisten des ehemaligen Diktators Somoza, d. Red.)

Wir Ihr sagt: Wir wollen keine Guardias, und es wird keine Guardias geben, weil dies der Wille der Frente Sandinista und der Wille des Volkes ist.

An diesem 25. Februar haben wir Sandinisten und das ganze nikaraguanische Volk eine wichtige Lektion in Demokratie erteilt. Wir sind stolz, daß wir Sandinisten die Basis, das Fundament, der Grundpfeiler der Demokratie in Nikaragua sind. Denn es kann keine Demokratie ohne Sandinismus geben, und keinen Sandinimus ohne Demokratie.
(Sprechchöre: »Daniel! Daniel! Daniel!«)

Der große Sieger dieser Wahlen ist die Frente Sandinista, die Demokratie in Nikaragua eingeführt hat. Ohne die Frente Sandinista hätte das Volk niemals von Wahlen auch nur zu träumen gewagt.

Vor diesem tapferen, heroischen und opferbereiten Volk möchte ich von diesem Platz aus erklären, daß wir vorbehaltlos bereit sind, all das zu unterstützen, was zugunsten des Volkes unternommen wird. Aber wir haben auch die Bereitschaft und den festen Willen, uns all dem zu widersetzen und Widerstand gegen all das zu leisten, was gegen den Willen des Volkes gerichtet ist.

Die Sicherheit, die Stabilität in Nikaragua, die Entwicklung der Demokratie in Nikaragua werden durch die Errungenschaften der Revolution gewährleistet. Und diese müssen respektiert werden. Wir sind bereit, zum Frieden und zur Stabilität beizutragen, unter der Bedingung, daß das Volk nicht bedroht wird, unter der Bedingung, daß das Volk respektiert wird, unter der Bedingung, daß nicht mit Rachegefühlen gehandelt wird. Denn dieses Volk hat genug Macht, um sich denjenigen, die mit Rachelust kommen, entgegenzustellen und sie in ihre Schranken zu weisen.

Ich werde jetzt eine Erklärung der Frente Sandinista vom 27. Februar verlesen, dem Jahrestag der Ermordung einer Gruppe von Jugendlichen mehr, die von der Contra in San José de las Mulas niedergemetzelt wurde. Wegen dieser Toten, unserer Toten, schwören wir, den Sieg zu verteidigen.

Die Frente Sandinista de Liberación Nacional informiert das Volk von Nikaragua, daß die Nationale Führung heute alle Kader und revolutionären Führungskräfte (...) zu einer Vollversammlung zusammengerufen hat, um die Ergebnisse der Wahlen vom 25. Februar 1990 zu diskutieren und auszuwerten.

Diese Versammlung kam zu folgenden Ergebnissen:
  1. Daß die Frente Sandinista de Liberación Nacional dem Volk von Nikaragua erstmalig in seiner Geschichte die Möglichkeit einer freien Wahl gegeben hat, einer freien, gerechten und ehrlichen Wahl – das ist eine Errungenschaft der Revolution.
  2. Die Frente Sandinista de Liberación Nacional hat heute, als die Partei der Revolution und die größte, die bestorganisierte Partei des Landes, die Verantwortung, die Kontinuität des revolutionären Prozesses und all seiner Errungenschaften und Transformationen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene zu sichern und zu garantieren. Der Regierungswechsel wird auf keinen Fall das Ende der Revolution bedeuten.
    (Applaus und Sprechchöre: »Wir wollen keine Guardias!«)
  3. Die Frente Sandinista de Liberación Nacional wird unaufhörlich dafür kämpfen, daß weder der Prozeß der Agrarreform rückgängig gemacht wird, noch die Vergabe von Grundstücken an Stadtbewohner. Ebenso wird sie gegen den Abbau der durch die Revolution erzielten sozialen Errungenschaften kämpfen, besonders für den Schutz der Mütter der Helden und Märtyrer, Kriegswaisen und Kriegsversehrten.

"Krieg der Contras ließ uns keinen Raum"

Gespräch mit Sergio Ramírez* über die historische Bedeutung der sandinistischen Revolution in Nikaragua, über politische Begeisterung und Enttäuschung und die heutige Rolle der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN)

F: Warum sollten wir uns heute an eine Revolution erinnern, die vor einem Vierteljahrhundert in einem kleinen zentralamerikanischen Land stattgefunden hat?

Weil die sandinistische Revolution zugleich der letzte soziale und bewaffnete Aufstand des 20. Jahrhunderts war. Sie hat damit in einer späten Phase der alten Weltordnung noch einmal diejenigen bestärkt, die daran glaubten, ungerechte Verhältnisse verändern zu können – notfalls auch mit Waffengewalt. Eine solche Wirkung habe ich nach dem Sieg der sandinistischen Revolution vor allem bei Jugendlichen bemerkt. Nicht nur in Nikaragua, sondern überall in der Welt begeisterten sich junge Menschen für das neue Projekt. Diese Erfahrung wog umso schwerer, als wenige Jahre später die Sowjetunion zusammenbrach und damit ab Ende der achtziger Jahre weltweit ein profunder ideologischer Wandel einsetzte. Wenn sich die Menschen also heute an unserer Revolution erinnern, dann merken sie vielleicht, daß sich die äußeren, ideologischen Umstände geändert haben, nicht aber die objektive Lage.

F: Um sich mit dieser Erkenntnis daran zu machen, das aus US-Universitäten heraus verkündete »Ende der Geschichte« neu zu schreiben?

Diese unsinnige Theorie nährte sich aus der Stimmung Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre. Ich glaube aber, daß sie nie wirklich Anhänger gefunden hat, denn die Geschichte selber hat sie allzu schnell negiert. Tatsache ist, daß heute eine weltweite Krise existiert. Diese Krise der politischen und moralischen Werte ist aus der Entäuschung über die gebrochenen Versprechen entstanden, die der neoliberale Kapitalismus den Menschen gemacht hat.

F: Sie sind erst recht spät in Kontakt mit der Sandinistischen Front gekommen. Unter welchen Umständen?

In den siebziger Jahren hielt ich mich mit einem DAAD-Stipendium in Westberlin auf. 1975 dann bin ich nach zwei Jahren in der Bundesrepublik nach Lateinamerika zurückgekehrt. Kontakte zur Guerilla habe ich in Costa Rica aufgenommen, später dann traf ich erstmals mit Daniel Ortega zusammen. Thema dieses ersten konspirativen Treffens war die Gründung eines zivilen Armes der Sandinistischen Front, die damals den bewaffneten Kampf anführte. Das Ansehen der FSLN hatte unter den Kampagnen gelitten, die von der Somoza-Diktatur in Nikaragua und im Ausland gegen sie organisiert wurde. Selbst Nikaraguaner hielten sie für eine »terroristische Bande«. Ziel war es also, eine dauerhafte organisatorische Basis zu errichten, auf der wir die politische Arbeit gegen die Somoza-Diktatur ausweiten konnten.

F: Ihr ehemaliger Genosse, der sandinistische Kulturminister Ernesto Cardenal, war kurz nach dem Sieg der Revolution durchaus zuversichtlich. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau berichtete er von dem neuen Verlangen nach Kultur in der Bevölkerung. Die Menschen, sagte er, würden über die Bildungsmaßnahmen der sandinistischen Regierung früher oder später zu einem neuen Bewußtsein finden. Weshalb ist die Revolution dann 1990 gescheitert?

Weil sie in einer zähen militärischen Konfrontation zerrieben wurde. Es gab in Nikaragua nach der Revolution kaum politische Dialoge oder Vermittlungsversuche. Die Rechte setzte alles daran, die politischen Differenzen mit der neuen Regierung gewaltsam auszutragen. Nikaragua wurde so zehn Jahre lang immer tiefer in einen bewaffneten Konflikt hineingezogen, der keinen Raum mehr für politische Lösungsversuche ließ. In Anbetracht dieser Belastung blieben der Revolution immer weniger Möglichkeiten, eine eigene Politik und eigene soziale Projekte zu gestalten.

F: Trotzdem wurden doch einige soziale Kampagnen geführt, etwa zur Alphabetisierung. Ähnliche Projekte wurden auch in Kuba nach der Revolution 1959 verwirklicht; derzeit organisiert die venezolanische Regierung landesweite Bildungskampagnen. Bedeutet das Scheitern der sandinistischen Revolution also, daß die kulturelle und politische Emanzipation dem äußeren Druck auf Dauer nicht standhalten kann?

Solche Kampagnen entstehen erfahrungsgemäß aus der Begeisterung des ersten Momentes. Auch in Nikaragua war der gesamte politische Diskurs von dieser neuen Idee des Aufbruchs bestimmt. Mit verständlichen Abstrichen bei der Oberschicht wurden die neuen Ziele auch von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Der politische und ideologische Apparat der FSLN war Anfang der achtziger Jahre absolut intakt, und niemand hätte uns die Unterstützung streitig machen können. Auf die Dauer des Konfliktes aber zählten weniger die ideologischen Fragen als vielmehr der tägliche Kampf, der die Menschen zermürbte. Ich denke, daß alle Revolutionen einen Lebenszyklus haben. Sie enden, indem sie sich verändern, oder sie enden, indem sie als Machtprojekt scheitern. Wenn sie aber als Machtprojekt scheitern, dann hinterlassen sie zumindest ein politisches Erbe. Bis zum heutigen Tage sind alle Revolutionen als Machtprojekte gescheitert, von der französischen bis zur russischen Revolution. Aber sie alle haben in der Geschichte der Menschheit ein wichtiges Erbe hinterlassen. Das ist es, was mir wichtig erscheint.

F: Hat zu dem Scheitern des sandinistischen »Machtprojektes« der Umstand beigetragen, daß sie bei den Menschen zu viele Erwartungen geschürt hat, die sie später nicht erfüllen konnte?

Ja, leider. All das menschliche Leid und die wirtschaftliche Notsituationen, die durch den Krieg gegen die Contras hervorgerufen wurden, haben die anfängliche Begeisterung schnell gemindert. Durch die militärische Konfrontation blieben auch alle fortschrittlichen Projekte wie die Bildungs-, Sozial- und Alphabetisierungsprojekte auf halber Strecke stecken, wir konnten keine diese Kampagnen bis zum Ende durchführen. Und wenn wir uns die Lage heute, ein weiteres Jahrzehnt später ansehen, dann müssen wir mit Erschrecken feststellen, daß es im Vergleich zur Ausgangssituation sogar einen Rückschritt gegeben hat.

F: Was bleibt also von der sandinistischen Revolution im Jahr 2004?

Die Demokratie. Die Tatsache, daß wir heute in einem Klima relativer Meinungsfreiheit leben, ist eine Errungenschaft der Revolution, vielleicht ihre größte. Heute gibt es in Nikaragua keine geheimen Gefängnisse mehr und keine Todesschwadrone. Heute untersteht die Armee einem demokratischen Kommando und wird nicht mehr gegen die eigenen Landsleute eingesetzt.

F: Weshalb haben Sie die Partei dann Mitte der neunziger Jahre verlassen?

Weil ich davon ausging, daß die FSLN nach ihrer Wahlniederlage 1990 einen strukturellen Wandel vollzieht. Es gab damals viele Stimmen, die eine Demokratisierung der Parteistrukturen forderten. Diesem Willen kam die Parteiführung um Daniel Ortega aber nicht nach. Die Entscheidungen wurden nach wie vor am oberen Ende einer streng vertikalen Organisationsachse getroffen. Diskussionen über die Reaktion auf die Wahlniederlage und die künftige Politik gab es kaum. In den achtziger Jahren, inmitten der militärischen Auseinandersetzung, hatte eine so strenge Entscheidungsstruktur niemand angezweifelt. 1990 aber war es Zeit für einen Neuanfang. Weil sich ein Teil der Parteiführung dieser Forderung jedoch vehement verweigerte, kam es zu offenen Konfrontationen, bei denen es nicht nur um strategische, sondern auch um ideologische Fragen ging. So wendete sich die Gruppe, der ich angehörte, entschieden gegen die Politik der sogenannten Pińata: In der Zeit zwischen der Wahlniederlage und Regierungsübernahme der Rechtsopposition wurden Grundstücke, Häuser, Autos und andere Güter an verdiente Parteimitglieder verteilt. Später wurde dieser Schritt damit legitimiert, daß den »Somozisten« nicht zuviel in die Hände fallen sollte. Aber politisch war das nicht zu begründen. Wir forderten damals vehement Disziplinarmaßnahmen gegen die Verantwortlichen – ohne Erfolg.

F: Welche Rolle nimmt die FSLN heute in Nikaragua ein?

Die FSLN ist heute eine starke Partei mit einer breiten Verankerung in der Bevölkerung. Sie hat eine solide Wählerbasis von etwa 40 Prozent und ist damit die zweitgrößte Partei Nikaraguas. Mir scheint allerdings auch, daß die FSLN heute eine konservativere Grundhaltung hat.

F: Abgesehen von dem Roman »Adiós, Muchachos. Erinnerungen an die sandinistische Revolution« spielt Politik in Ihren letzten Werken nur noch eine untergeordnete Rolle. Sie verschwindet aber nie ganz ...

Das wäre in Lateinamerika auch sehr schwierig, weil das öffentliche Leben dort einen großen Einfluß auf das Privatleben hat. Es ist beinahe unmöglich, eine Liebesgeschichte in einem Schlafzimmer zu erzählen, ohne den Lärm der Straße zu berücksichtigen. Der Lärm eines Aufruhrs, einer Revolution dringt immer durch das Fenster ein. Privatsphäre und öffentlicher Raum sind zu eng miteinander verbunden, als daß der Schriftsteller den öffentlichen Raum ignorieren könnte.

F: Sind Sie noch politisch aktiv?

Als Bürger bin ich politisch engagiert. Ich habe klare Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft sein sollte, ich habe meine persönlichen Utopien bewahrt. Als Schriftsteller äußere ich Meinungen, und ich bin mir bewußt, daß diese Meinungen einen größeren Einfluß haben können als die eines gewöhnlichen Bürgers. Ich glaube jedoch nicht, daß die Literatur dazu dient, politische Meinungen zu äußern.

F: Können Sie sich vorstellen, in die aktive Politik zurückzukehren?

Nein. Ich hatte ein sehr intensives politisches Leben, für das ich zehn Jahre meines Schriftstellerlebens geopfert habe. Ich habe mich in den letzten Jahren dazu gezwungen, meine Rolle als Schriftsteller anzunehmen und ich glaube nicht, daß ich auf diese Rolle noch einmal verzichten werde. Ich habe noch viele literarische Verpflichtungen zu erfüllen.

F: Trotz der Niederlage der Sandinisten in Nikaragua bestehen heute in Lateinamerika andere revolutionäre Projekte fort: In Kuba ist trotz aller Angriffe nach wie vor die sozialistische Regierung an der Macht, und auch in Venezuela besteht eine fortschrittliche Regierung unter Präsident Hugo Chávez. Gegen ihn wird Mitte August ein Abberufungsreferendum stattfinden. Wiederholt sich die Geschichte?

Dieses Referendum ist ja ein Mechanismus, den die bolivarianische Revolution selbst in der Verfassung verankert hat. Es ist ein wichtiger Bestandteil der partizipativen Demokratie, die von der Regierung Chávez verteidigt wird. Ich habe es deswegen auch für einen Fehler gehalten, daß sich Präsident Chávez so lange gegen die Einberufung eines Referendums gewehrt hat. So entstand der Eindruck, daß er sich gegen die neuen demokratischen Spielregeln wendet, sobald sie gegen ihn selber verwendet werden. Ich halte die venezolanische Gesellschaft heute für tief gespalten, und auch Chávez’ Zögern hat dazu beigetragen.

F: Was wäre also Ihr Ratschlag für Hugo Chávez?

Er sollte die Ergebnisse des Referendums auf jeden Fall respektieren. Dieser Respekt darf natürlich nicht nur von Präsident Chávez abverlangt werden, sondern auch von der Opposition.

* Sergio Ramírez wird 1942 in Masatepe/ Nikaragua geboren. An der Universität León studiert er Jura. Tatsächlich aber bestimmt das politische und literarische Engagement sein Leben. Im Vorfeld der Revolution lebt er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Westberlin. Als sich der Kampf gegen die Somoza-Diktatur zuspitzt, reist er 1975 nach Nikaragua zurück, um sich dem Kampf der FSNL, der Frente Sandinista de Liberación Nacional, anzuschließen. 1979 wird Ramírez Mitglied der revolutionären Regierung, von 1984 bis 1990 übt er das Amt des Vizepräsidenten aus. Von 1990 bis 1994 ist er Fraktionsvorsitzender der Sandinisten im nikaraguanischen Parlament, bis er wegen Differenzen über den Führungsstil der FSLN aus der Partei austritt. Seither konzentriert er sich auf seine literarische Arbeit. 2001 erscheinen im Peter-Hammer-Verlag seine Erinnerungen an die Sandinistische Revolution unter dem Titel »Adiós, Muchachos«.
Das Interview wurde veröffentlicht in der "jungen Welt vom 17. Juli 2004

** Für das aktuelle jW-Gespräch wurden einzelne Passagen aus einem Interview verwendet, das Sergio Ramírez während einer Gastprofessur 2001 der Zeitschrift der Freien Universität Berlin gab



Zurück zur Nikaragua-Seite

Zurück zur Homepage