Wird Nigeria zum gescheiterten Staat?
Gotteskrieger der Gruppe Boko Haram töteten seit Beginn des Jahres bereits mehr als 1500 Menschen
Von Markus Schönherr, Kapstadt *
Tausende Nigerianer sind in den vergangenen fünf Jahren dem Terror der Gruppe Boko Haram zum Opfer gefallen, die im Norden Nigerias einen islamischen Gottesstaat einrichten will.
Gerade erst hat Nigerias Militär Medienberichten zufolge einen Angriff von mutmaßlichen Boko-Haram-Kämpfern auf einen Armeestützpunkt im Norden des Landes abgewehrt. Dabei sollen mindestens 50 Extremisten und sechs Soldaten ums Leben gekommen sein. Die Attacke ereignete sich bereits Freitagnacht. Die Zeitung »Vanguard« bezifferte die Zahl der Angreifer auf rund 200.
Die Lage in Nigeria erinnert so manchen an andere Langzeit-Krisenherde wie Afghanistan oder Irak. Der Staat ist kaum noch in der Lage, seine Bürger zu beschützen. Das wurde dieser Tage wieder sichtbar, als eine Bombe auf einem Markt in der nördlichen Stadt Maiduguri Dutzende Menschen in den Tod riss. Im Norden des Landes übernehmen immer öfter Nachbarschaftswachen die Aufgabe der Armee. Ist Nigeria dabei, als Staat zu scheitern?
Man müsse sich auf das Schlimmste gefasst machen, warnt William Assanvo, Forscher am Institute for Security Studies (ISS). Die Denkfabrik mit Büros in vier afrikanischen Staaten analysiert Konflikte auf dem Kontinent. »Wir befürchten, dass der Konflikt in den kommenden Monaten eskaliert mit vermehrten Attacken und Bombenattentaten. Städte und Dörfer im Norden werden am schlimmsten betroffen sein. Aber vermutlich gehen die Anschläge auch über das traditionelle Rückzugsgebiet der Terroristen hinaus, wie bei dem Bombenanschlag in der Hauptstadt Abuja vor ein paar Monaten.«
Die Gewalt, kombiniert mit der schwachen Reaktion der Regierung, werde für Nigeria zur Zerreißprobe. Laut Assanvo haben die Machthaber jahrelang die wahre Stärke von Boko Haram ignoriert und »nicht angemessen« auf die Gefahr reagiert. Allein seit Beginn des Jahres töteten die selbst ernannten Gotteskrieger mehr als 1500 Menschen.
Neben der Regierung glänzte zuletzt auch das nigerianische Militär durch Ratlosigkeit im Kampf gegen Boko Haram: Zwei Monate nach der Entführung aus der nördlichen Stadt Chibok fehlt jede Spur von mehr als 200 Schülerinnen. »Die Mädchen zu befreien, würde selbst die Armee eines westlichen Landes vor eine enorme Herausforderung stellen«, gesteht Assanvo. Dennoch seien die Chancen der nigerianischen Armee besonders gering, die Mädchen lebend zu befreien »Korruption, fehlende Ausrüstung, eine schlechte Moral und Furcht vor den Boko-Haram-Kämpfern – all das untergräbt das Können und die Expertise der Streitkräfte.«
Nigerias Präsident Goodluck Jonathan hatte sich lange gegen internationale Hilfe gesträubt, ehe er dem Druck nachgab und Militärberater aus China, den USA, Großbritannien und Frankreich einfliegen ließ. Viele bezweifeln allerdings, dass ausländische Truppen eine Lösung für den Terror bedeuten. »Tatsächlich geht im muslimisch geprägten Norden die Sorge um, dass die Landung von US-Antiterror-Einheiten erst der Anfang ist und es zu einer ›Afghanisierung‹ oder einer ›Pakistanisierung‹ Nigerias kommt«, berichtet das Monatsmagazin »The Africa Report«. »Nigerianer sollten das Problem selbst anpacken«, sagt auch Assanvo, »denn eine Intervention von außen würde die Situation nur komplexer machen.«
Präsident Jonathan geriet in den letzten Wochen zunehmend unter Druck. Einige Beobachter glauben, die Entführung der Schülerinnen und seine schwache Reaktion könnten seine Karriere beenden, denn im kommenden Jahr stehen Präsidentschaftswahlen bevor. »Jonathans Führungsstil und seine Fähigkeit, die Anarchie zu beseitigen, werden ernsthaft infrage gestellt«, erklärt Assanvo. Allerdings sind die jüngsten Massenproteste zur Befreiung der entführten Mädchen kein Garant für eine Wahlschlappe von Jonathans People's Democratic Party (PDP). »Klar gibt es wenige positive Zeichen für Jonathan, aber es wird alles davon abhängen, wie vereint die Opposition auftritt.«
Der »Africa Report« betrachtete die jüngsten Regionalwahlen in der Provinz Ekiti als »Bewährungsprobe« für die Wahlen 2015. Jonathans Kandidat Ayodele Fayose sah sich mit Mord- und Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Dennoch siegte er.
* Aus neues deutschland, Montag, 7. Juli 2014
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