Nigerias verschleppte Mädchen
Offensive der Boko Haram und Ebola verdrängen die Entführung aus den Medien
Von Markus Schönherr, Kapstadt *
Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram hat seit Anfang der Woche mehrere Städte im Nordosten Nigerias eingenommen. Die von ihnen im April verschleppten Mädchen geraten derweil aus dem Blick.
Sie kamen nicht nur mit dem Leben davon, für einige von ihnen wird jetzt auch ein Traum wahr: 15 der Schülerinnen, die im April von der radikal-islamistischen Boko Haram entführt wurden und denen die Flucht gelang, erhalten jetzt ein Stipendium für die »American University of Nigeria«, eine der renommiertesten Universitäten des Landes. Das berichtet die nigerianische Tageszeitung »Premium Times«.
Jedoch sind Schlagzeilen wie diese selten geworden, meint Sabinus Ezeoke aus Lagos. Der Nigerianer leitet die Kinderhilfsorganisation »African Underprivileged Children’s Foundation« (AUCF). Er fürchtet, dass die »Chibok Girls« allmählich in Vergessenheit geraten.
Er wolle sie verheiraten und zu Sklavinnen erziehen: Mit dieser schaurigen Botschaft sorgte Abubakar Shekau, der Anführer der Boko Haram, für weltweite Schlagzeilen. Seine Gotteskrieger waren in der Nacht von 14. auf 15. April in eine Schule in der nördlich gelegenen Stadt Chibok eingedrungen und hatten 276 Mädchen in die angrenzenden Wälder verschleppt. In den Tagen danach berichtete die Weltpresse über israelische Geheimdienste und US-Drohnen, die bei der Aufspürung der Mädchen helfen sollten. In Abuja, Lagos und anderen Großstädten demonstrierten Menschen wochenlang für deren Freilassung und die Kampagne #BringBackOurGirls vereinte Aktivisten rund um den Erdball. Michelle Obama, Angelina Jolie und Alicia Keys waren nur einige der Unterstützer.
»Heute hört man regelrecht nichts mehr von den Mädchen«, meint Ezeoke. Nur noch selten tauche ein Gerücht auf, wonach eines der Mädchen befreit oder von seinen Entführern geschwängert worden sei. Doch das breite Interesse sei verloren gegangen. »Selbst die nigerianischen Zeitungen, die bis zuletzt über die Schülerinnen berichteten, erwähnen sie heute nicht mehr. Die Protestmärsche zur Befreiung der Mädchen sind von den Straßen verschwunden und die Menschen sprechen nur noch sporadisch über sie.«
Ezeoke zufolge mussten die Schülerinnen der Ebola-Krise in der westafrikanischen Region weichen. »Sie ist auch in Nigeria das beherrschende Thema, jetzt, da die Regierung den Kampf gegen die Seuche unterstützt und Teams der Weltgesundheitsorganisation vor Ort sind.« In Nigeria starben bisher mindestens sechs Menschen an dem tödlichen Virus. Vergangene Woche wurde der erste Todesfall außerhalb der Millionenmetropole Lagos bekannt.
Angesichts des neuen Krisenherds dürfte auch der Druck auf die nigerianische Armee abnehmen, schätzen Analysten. In den letzten Monaten waren die Streitkräfte zunehmend in die Kritik geraten, machtlos gegenüber den radikalen Islamisten zu sein. »Korruption, fehlende Ausrüstung, eine schlechte Moral und Furcht vor den Boko Haram-Kämpfern – all das untergräbt das Können und die Expertise der Streitkräfte«, sagt William Assanvo vom »Institute for Security Studies« (ISS) in Pretoria. Viele Soldaten weigerten sich, an Operationen gegen die Gotteskrieger teilzunehmen, da diese der Armee waffentechnisch überlegen sind. Letzte Woche mussten 400 Soldaten in das benachbarte Kamerun fliehen, als Boko Haram-Rebellen sie in der nördlichen Grenzregion umzingelt hatten.
Die Eltern der entführten Mädchen seien nach knapp fünf Monaten »müde«, so Ezeoke. Während die Proteste gegen die Regierung abnehmen, hätten sich viele Eltern in ihren Glauben geflüchtet. »Sie suchen göttliche Hilfe und beten, dass die Mädchen in den Händen ihrer Entführer gesund bleiben.«
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte anlässlich des Internationalen Tags der Verschwundenen am 30. August, Verschleppungen seien eine Methode, welche man im 21. Jahrhundert »nicht tolerieren« könne. »Hinter jedem Verschwinden verbergen sich eine persönliche Geschichte und eine Familie, die nach der Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sucht.« Oft seien die Verwandten der Entführten die einzig verbleibenden Stimmen, die an die Opfer erinnerten.
Boko Haram lässt sich von solchen Reden nicht beeinflussen. Ihre Kämpfer setzen unbeeindruckt ihren Vormarsch fort. So gewannen die Kämpfer die Kontrolle über die Stadt Banki an der Grenze zu Kamerun, wie nigerianische Zeitungen am Donnerstag berichteten. Anfang der Woche hatten sie sich Bama gesichert, die zweitgrößte Stadt des nördlichen Bundesstaates Borno. Damit wächst in dem westafrikanischen Riesenstaat mit fast 170 Millionen Einwohnern die Angst vor einer kompletten Einnahme Bornos durch Boko Haram. Die Aufmerksamkeit für das Schicksal der Mädchen wird diese Entwicklung sicher nicht stärken.
* Aus: neues deutschland, Samstag 6. September 2014
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