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Militärbasis überrannt

Nigeria: Islamisten greifen erneut mehrere Orte an. Tausende auf der Flucht

Von Simon Loidl *

Am Wochenende ist es im Norden Nigerias erneut zu Kampfhandlungen gekommen. Mutmaßliche Mitglieder der islamistischen Gruppe »Boko Haram« haben nach Berichten nigerianischer Medien am Samstag einen weiteren Militärstützpunkt in der Nähe von Baga im nordöstlichen Bundesstaat Borno eingenommen. Die Soldaten der Einrichtung der »Multinational Joint Task Force« (MNJTF) flohen Augenzeugen zufolge vor den islamistischen Kämpfern. Die MNJTF wurde von Nigeria, Niger und dem Tschad aufgestellt, um Kriminalität in der Grenzregion gemeinsam zu bekämpfen. In jüngster Zeit kämpften die Einheiten vor allem gegen »Boko Haram«.

Am Sonntag griffen die Aufständischen dann das am Tschadsee gelegene Baga direkt an. Laut der Tageszeitung ThisDay ergriffen Tausende Einwohner die Flucht. Die Tageszeitung Premium Times zitierte in ihrer Onlineausgabe einen anonymen Behördenvertreter. Demnach hatte bei dem Angriff auf den Militärstützpunkt ein stundenlanger Schusswechsel stattgefunden. Die Soldaten hätten erfolglos versucht, den Angriff abzuwehren. Anderen Berichten zufolge wurde die Basis praktisch ohne Gegenwehr überrannt. Auch BBC zitierte Augenzeugen, die von der militärischen Überlegenheit der Islamisten sprachen.

Baga ist während der vergangenen zwei Jahre bereits mehrmals von »Boko Haram« angegriffen worden. Im Frühling 2013 war es zu heftigen Kämpfen in dem Fischerort gekommen. Damals wurde dieser beinahe dem Erdboden gleichgemacht. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden mehr als 2.000 Häuser durch Brände zerstört, die Soldaten im Verlauf der Kämpfe gelegt hatten. Mehrere hundert Zivilisten starben. Die Ereignisse trugen dazu bei, dass Präsident Goodluck Jonathan kurz darauf den Ausnahmezustand für die Bundesstaaten Borno, Yobe und Adamawa verhängte. In der Folge eskalierten die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Region weiter.

Umso mehr erstaunt, dass die vor Ort stationierten Sicherheitskräfte nicht besser auf einen neuen Angriff vorbereitet waren. Immer wieder gibt es Beschwerden nigerianischer Soldaten, dass sie im Kampf gegen die Aufständischen zu schlecht ausgerüstet seien. Mitte Dezember wurden 54 Soldaten wegen Meuterei zum Tode verurteilt, da sie sich geweigert hatten, an einer Operation gegen »Boko Haram« teilzunehmen. Während der vergangenen Jahre wurden die finanziellen Mittel für den Kampf gegen die Aufständischen immer wieder aufgestockt. Allerdings gehen viele Beobachter davon aus, dass ein großer Teil der Gelder nicht für die Aufrüstung der Soldaten eingesetzt wird, sondern in privaten Taschen verschwindet. Korruption ist im politischen System Nigerias weit verbreitet.

Auch aus den Bundesstaaten Yobe und Adamawa wurden am Wochenende Attacken auf Sicherheitskräfte und Behördeneinrichtungen sowie Entführungen und eine Bombenexplosion gemeldet.

Unterdessen haben sich Angehörige der im vergangenen April in der Stadt Chibok entführten Schulmädchen an die Vereinten Nationen (UN) gewandt. Sie werfen den nigerianischen Behörden vor, zuwenig zu unternehmen, um die mehr als 200 Mädchen zu befreien, die sich vermutlich nach wie vor in der Gewalt von »Boko Haram« befinden. Sprecher der Angehörigen kritisieren, dass sie über die Schritte der Behörden nicht informiert würden. Regierungsvertreter wiederum betonen immer wieder, dass die Bemühungen um die Befreiung der Mädchen fortgesetzt würden, jedoch keine Details darüber öffentlich gemacht werden können, um den Erfolg nicht zu gefährden. Bereits vor Monaten hieß es, dass die Befreiung der Mädchen nach Gesprächen mit »Boko Haram«-Vertretern nur mehr eine Frage von Wochen sei.

Der Entführungsfall schadete dem Ansehen der Regierung und insbesondere Präsident Jonathan schwer. Im Februar finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Der ausbleibende Erfolg der Behörden im Kampf gegen »Boko Haram« ist das zentrale Wahlkampfthema. In den vergangenen Monaten konnte die Gruppe ihre Operationen ausweiten und kontrolliert mittlerweile große Teile der nordöstlichen Bundesstaaten.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 6. Januar 2015


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