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Seit einem Jahr verschwunden

Nigeria: Erinnerung an die mehr als 200 entführten Schülerinnen von Chibok. Weiterhin Kritik an Präsident und Behörden

Von Simon Loidl *

In der Nacht vom 14. zum 15. April des vergangenen Jahres verschleppten mutmaßliche Mitglieder der islamistischen Gruppe Boko Haram 276 Schülerinnen in der Stadt Chibok in Nigerias nordöstlichem Bundesstaat Borno. Bis heute sind offiziellen Angaben zufolge 219 der entführten Jugendlichen in der Gewalt ihrer Kidnapper. Bei zahlreichen Veranstaltungen und Kundgebungen wird in Nigeria dieser Tage an das Schicksal der Mädchen und jungen Frauen erinnert. Einige der betroffenen Eltern appellierten erneut an die Politiker des westafrikanischen Landes, mehr für die Befreiung der Entführten zu unternehmen. Insbesondere dem amtierenden Präsidenten Goodluck Jonathan wird vorgeworfen, sich zu wenig in der Angelegenheit engagiert zu haben. Viele Beobachter werten Jonathans zögerliche Reaktion auf die Entführung im vergangenen Jahr als einen Hauptgrund für dessen Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen Ende März.

Über das Schicksal der entführten Schülerinnen sind viele Gerüchte im Umlauf. Immer wieder war von Zwangsverheiratungen die Rede. Einige Mädchen und junge Frauen, die fliehen konnten, berichteten von täglichen Vergewaltigungen. In Bekennervideos sprachen Boko-Haram-Mitglieder davon, dass die Mädchen zum Islam konvertiert seien oder als Sklavinnen verkauft würden. Mehrmals gab es zudem im vergangenen Jahr Meldungen über die angeblich kurz bevorstehende Befreiung der Schülerinnen, die sich aber jedes Mal als voreilig herausstellten. Derzeit ist völlig unklar, wo sich die jungen Frauen befinden. Die britische Rundfunkanstalt BBC zitierte am Dienstag eine Augenzeugin, die behauptete, 50 der gekidnappten Mädchen vor drei Wochen in der Stadt Gwoza gesehen zu haben.

Die Entführung der Schülerinnen von Chibok ist nur ein kleiner Teil der Greueltaten der islamistischen Aufständischen. Einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der Organisation Amnesty International (ai) zufolge sind seit Anfang 2014 mindestens 2.000 Frauen und Mädchen von Boko Haram verschleppt worden. Viele von ihnen würden demnach als Sexsklavinnen missbraucht oder werden als »Kämpferinnen« ausgebildet.

Die Organisation befragte 200 Augenzeugen, darunter 28 Entführungsopfer, die ihren Peinigern entkommen konnten. In dem Bericht heißt es zudem, dass während der Kämpfe im Nordosten Nigerias allein 2014 und 2015 mindestens 5.500 Zivilisten getötet worden seien. Männer und Jungen werden demnach von Boko Haram zwangsrekrutiert oder exekutiert, Frauen und Mädchen verschleppt und gefangengehalten oder zwangsverheiratet. Außerdem gab es im vergangenen Jahr mehrere Anschläge, bei denen Mädchen als Selbstmordattentäterinnen benutzt wurden. Insgesamt sind ai zufolge Millionen von der »Terrorherrschaft« Boko Harams im Nordosten Nigerias betroffen.

Die meisten nigerianischen Tageszeitungen widmeten sich am Dienstag dem Jahrestag der Entführung von Chibok. Einige kritisierten einmal mehr das Versagen der Regierung im Kampf gegen die Islamisten. Von einer »ewigen Schande« für das Land war etwa in der Zeitung Vanguard die Rede. Trotz des »globalen Aufschreis« über die Entführung der Schülerinnen habe es eine »skandalöse Verleugnung« seitens der nigerianischen Regierung gegeben. Die Unfähigkeit der Behörden, die jungen Frauen zurückzubringen, sei erschreckend für alle Menschen des Landes, so Vanguard weiter. Ein Kommentator der Zeitung Daily Trust erinnerte daran, dass es nach der Entführung aus dem Umfeld von Präsident Jonathan zunächst hieß, die Entführung sei eine Inszenierung der Oppositionskräfte, um die Regierung als inkompetent hinzustellen.

Chibok dürfte auch den designierten neuen Präsidenten Muhammadu Buhari noch länger beschäftigten. In einer Erklärung zum Jahrestag sagte Buhari, dass er alles tun werde, um die Schülerinnen zurückzubringen. Gleichzeitig dämpfte er aber allzu große Hoffnungen und versprach in erster Linie »Ehrlichkeit« im Umgang mit dem Fall. »Wir wissen nicht, ob die Mädchen von Chibok gerettet werden können«, erklärte Buhari in dem Statement. So gern er das auch tun würde, könne er nicht versprechen, dass die jungen Frauen gefunden werden. Allerdings werde seine Regierung »alles in ihrer Macht Stehende unternehmen«, um sie nach Hause zu bringen und um den Kampf gegen Boko Haram zu gewinnen, sagte Buhari, der Ende Mai als Präsident vereidigt werden soll.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. April 2015


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