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Wahlchaos in Nigeria

Statt eines neuen Präsidenten wird dieses Wochenende ein neues Parlament bestimmt

Von Thomas Nitz *

Zur Halbzeit des dreiwöchigen Wahlmarathons in Nigeria sollten am Samstag (9. Apr.) die Präsidentschaftswahlen anstehen. Doch da der Urnengang zum Parlament vergangene Woche verschoben werden musste, muss das erstmal nachgeholt werden.

Diesmal sollte alles besser werden, ließ Nigerias Präsident Goodluck Jonathan die Medien wissen. Nichts sollte an das Wahldebakel von 2007 erinnern. Allein an guten Vorsätzen hat es in Nigeria nie gemangelt. Nur die Umsetzung fehlte bisher. Trotz großer Sicherheitsvorkehrungen, dem Rekordbudget für die neue unabhängige Wahlkommission INEC und einem neuen Wählerregister wurde der Beginn des Wahlmarathons von Chaos und Gewalt überschattet. In der nordnigerianischen Stadt Bauchi griffen mutmaßliche Islamisten in der Nacht vor Wahlbeginn eine Polizeistation an. An einem Militärkontrollpunkt in Zentralnigeria riss ein explodierender Tanklaser 50 Menschen in den Tod. Ob es ein Anschlag oder ein Unfall war, ist bis zur Stunde nicht geklärt. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sind bereits vor den Wahlen mehr als 50 Menschen der Gewalt zum Opfer gefallen.

Seit dem 2. April sind 73,5 Millionen Nigerianer aufgefordert, an drei Wochenenden nacheinander das Parlament, den Staatspräsidenten und die Gouverneure der 36 Bundesstaaten neu zu wählen. Bereits der Wahlauftakt am vergangenen Samstag ging schief. Stimmzettel und Wahlhelfer fehlten. Der Vorsitzende der Wahlkommission, Attahiru Jega, sah sich gezwungen, die Abstimmung bis Montag auszusetzen. Erst hieß es, nur der Süden, die Region um die Wirtschaftsmetropole Lagos seien davon betroffen. Später ließ er die Parlamentswahlen im gesamten Land abbrechen. Am Montag ging das Debakel weiter. Nach Protesten der Opposition musste die Wahl erneut verschoben werden. Neuer Termin ist nun der 9. April. Die Präsidentschafts- und Gouverneurswahlen werden auf den 16. und 26. April verschoben – voraussichtlich. Die Wahl in Nigeria gilt als eine der wichtigsten in Afrika und als Test für die zwölf Jahre junge Demokratie des Landes. Mit seinen rund 150 Millionen Einwohnern ist der Vielvölkerstaat ein Gigant und gleichzeitig die zweitgrößte Volkswirtschaft auf dem Kontinent hinter Südafrika. Nigeria fördert täglich 2,1 Millionen Barrel (159 Liter). Das entspricht zu derzeitigen Preisen einer Bruttoeinnahme von 200 Millionen US-Dollar pro Tag. Es geht um viel Geld bei der Frage um die Macht, und um diese zu erhalten, setzen nicht wenige Politiker auf Fälschungen und bewaffnete Banden statt auf freie und faire Wahlen. Ein ganzes Heer perspektivloser Jugendlicher steht bereit. Für den ehemaligen Vizechef der nigerianischen Polizei ist die aktuelle Gewaltwelle ein Teil des politischen Machtkampfes: »Wir glauben, dass Politiker hinter der Gewalt stecken. Wer in diesem Land ein politisches Amt bekleidet, glaubt, er stehe über dem Gesetz. Man muss diese Leute zur Verantwortung ziehen.« Die drei vergangenen Wahlen seit dem Ende der Militärherrschaft 1999 mit unzähligen Toten und Verletzten, mit Schlägerbanden in Wahllokalen und massiven Stimmenkauf unterstreichen diese Einschätzung.

Um eine Wiederholung bei den anstehenden Wahlen zu vermeiden, entließ Nigerias Präsident Jonathan Goodluck den korrupten Chef der Wahlbehörde und ersetzte ihn durch den ausgewiesenen Demokraten Attahiru Jega. Dieser ließ keine Zeit verstreichen, seine Behörde zu reformieren. Er führte ein neues Wählerregister ein und band von Anfang an Polizei und Armee in den Diskurs um den Ablauf der Wahlen mit ein. Gleichzeitig appellierte Jega an die Bürger, wo immer Kandidaten zu Gewalt aufriefen, sich sofort an die Sicherheitskräfte zu wenden.

Doch wie weit können die Nigerianer ihren Sicherheitskräften trauen? Der nigerianische Journalist Tolu Ogunlesi (Think Afrika Presse) sieht die Gewalt in seinem Heimatland aus einem anderen Blickwinkel. Seiner Meinung nach hätten die Menschen in Nigeria genug von politischen Parteien ohne Programme und ideologischer Basis, von einer für die Bürger gefährlichen Polizei und einer korrupten Justiz. Mit Blick nach Nordfrika meint Ogunlesi: »Die Bürger in Nigeria erkennen, dass sie mehr Macht haben, als nur Ja oder Nein zu sagen.«

Die Europäische Union hat insgesamt 140 Beobachter aus 27 EU-Staaten plus Norwegen und der Schweiz entsandt. 140 Beobachter für 500 000 Wahllokale – eine schier unlösbare Aufgabe.

Wer auch immer das Rennen um die Präsidentschaft macht, sollte die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen, statt Muslime und Christen oder die vielen Ethnien gegeneinander auszuspielen. Anders ist die Gewalt im Nigerdelta und entlang der Nahtstelle zwischen muslimischen Norden und christlichen Süden nicht in den Griff zu bekommen.

* Aus: Neues Deutschland, 9. April 2011


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