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"Schändung der demokratischen Idee"

Scharfe Kritik am Verlauf der Wahlen in Nigeria / Umaru Yar'Adua zum Sieger erklärt

Von Thomas Nitz *

Zwei Tage nach der umstrittenen Präsidentenwahl in Nigeria ist der Kandidat der Regierungspartei, Umaru Yar'Adua, am Montag von der nationalen Wahlkommission zum Sieger erklärt worden. Nach den chaotischen Wahlen scheint die Gefahr eines Staatszerfalls unterdessen immer wahrscheinlicher.

Die Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am Wochenende seien so gravierend, dass die Abstimmung wiederholt werden müsse, sagte der Vorsitzende der größten einheimischen Beobachterkommission, Innocent Chukwuma. Wahlbeobachter der EU zeigten sich ebenfalls skeptisch. Die Wahlen seien »ausgesprochen schlecht gelaufen«, sagte der Leiter der EUGruppe, Max van den Berg, im zentralnigerianischen Kaduna. Trotz heftiger Kritik am Ablauf der landesweiten Gouverneurswahlen eine Woche zuvor seien die geforderten Verbesserungen nicht vorgenommen worden. Im Zusammenhang mit den Wahlen wurden binnen einer Woche mindestens 200 Menschen getötet.

Die Wahl in Nigeria gilt als eine der wichtigsten in Afrika. Mit seinen Erdölexporten im Wert von 50 Milliarden Dollar pro Jahr ist Nigeria die zweitgrößte Volkswirtschaft auf dem Kontinent. Daher geht es bei der Machtfrage auch um wesentlich mehr Geld als in den meisten anderen afrikanischen Staaten. Mehr als 90 Prozent aus dem Ölgeschäft fließt direkt in die Kassen der Regierung und der 36 Bundesstaaten. Politik ist in dem westafrikanischen Land eines der lukrativsten Geschäfte. Bei der Bevölkerung allerdings kommt von dem Erlös aus dem Ölexport kaum etwas an. Zwei Drittel der Nigerianer leben nach wie vor von weniger als einem Dollar am Tag. Die meisten Nigerianer teilen die Einschätzung, dass die Demokraten kaum weniger stehlen als die Militärmachthaber vor ihnen, dass das Land mit seinen knapp 140 Millionen Einwohner zu schwerfällig, zu unregierbar sei. Die riesigen Erwartungen an den scheidenden Präsidenten Olusegun Obasanjo haben sich jedenfalls für die Mehrzahl der Nigerianer nicht erfüllt.

Zwar bewirkten ein umfangreicher Schuldenerlass, die erfolgreiche Privatisierung einiger Staatsunternehmen und Obasanjos engagierte Kampf gegen Korruption, dass die Weltbank in ihrem jüngsten Entwicklungsbericht Nigeria eine Verbesserung der Indikatoren zu Korruption und Regierungsführung ausstellte. Allein die schweren Unruhen vor und während der Wahl weisen jedoch auf den fortschreitenden Zerfall des mehr als 300 Volksgruppen umfassenden Staates hin. Seit Einführung der Scharia in den zwölf nördlichen Bundesstaaten ist es immer wieder zu pogromartigen Ausschreitungen zwischen Muslimen und Christen gekommen. Das Nigerdelta im Süden des Landes, Afrikas ertragreichstes Erdölfeld, droht in Chaos zu versinken. Sabotage an Ölanlagen und Entführungen von Mitarbeitern der Ölindustrie sind an der Tagesordnung. Die Bewohner der Nigermündung werden von der Regierung und den internationalen Konzernen an den Erträgen aus der Ölwirtschaft kaum beteiligt. Die meisten Menschen in der Region leben in erbärmlichen Hütten oft ohne Elektrizität und fließend Wasser, während sich in ihrer Nachbarschaft bestens ausgestattete Industrieanlagen befinden.

Militante Gruppen fordern seit langem eine gerechtere Verteilung der Öleinnahmen. Der Regierung Obasanjo fiel bisher nichts Besseres ein, als mit Repressionen zu antworten. Ob eine neue Regierung diese Probleme angehen wird, bleibt fraglich. Nach einem missglückten Versuch Obasanjos, die Verfassung zu ändern, um den Weg für eine dritte Amtszeit frei zu machen, nominierte er den Gouverneur von Katsina, Umaru Yar'Adua als Nachfolger. Er habe bei der Abstimmung am Sonnabend mit Abstand die meisten Stimmen erhalten, erklärte die Wahlkommission. Kritiker sehen in ihm jedoch eine Marionette Obasanjos. Der Chef der Opposition, Vizepräsident Atiku Abubakar, kritisiert »Einschüchterung, Betrug und geringe Wahlbeteiligung«. Wegen Korruptionsvorwürfen war seine Kandidatur zunächst verboten worden. Da das Verfassungsgericht seinem Einspruch erst letzte Woche stattgab, mussten die Stimmzettel kurzfristig geändert werden. Ein Mangel an Stimmzetteln gerade in den Hochburgen der Opposition war die Folge. Auch der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka äußerte sich besorgt. Die Wahlen seien eine »Schändung der demokratischen Idee«.

Dabei sollte das Votum einen Wendepunkt in Nigerias Geschichte markieren. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit 1960 sollte ein demokratischer Übergang von einer Zivilregierung zu einer nächsten vollzogen werden. Diese Hoffnungen scheinen vorerst zerstört. Die Stabilität des bevölkerungsreichsten afrikanischen Landes steht auf dem Spiel.

* Aus: Neues Deutschland, 24. April 2007


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