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Nigeria: Blutiger Stillstand

Von Marc Engelhardt, Jos und Abuja *

Nach mehr als achtzig Tagen ohne einen Präsidenten ist der westafrikanische Ölstaat im Chaos versunken. Während die herrschende politische Elite versucht, sich an der Macht zu halten, nutzen andere das Vakuum aus.

So sieht politischer Erfolg auf nigerianisch aus: Bei den Parlaments- und Gouverneurswahlen im Bundesstaat Anambra - der ersten bedeutenden Wahl seit Jahren - kam am Wochenende (6./7. Feb.) niemand ums Leben. «Wenn wir die Wahlen in Anambra als Messlatte nehmen, dann sind wir aus dem Gröbsten raus», freute sich danach Nigerias Vizepräsident Goodluck Jonathan fast schon überschwänglich. Die Wahl im kleinen Teilstaat im ölreichen Nigerdelta galt als Probelauf für die Parlaments- und Präsidentenwahlen im kommenden Jahr. Der Test sei erfolgreich bestanden, gab sich der Chef der Unabhängigen Wahlkommission hinterher zufrieden.

Dabei vertrieben auch bei dieser Wahl bewaffnete Jugendbanden, bezahlt von den KandidatInnen, die AnhängerInnen der jeweils gegnerischen Seite von den Wahlkabinen. In anderen Fällen stahlen die Banden gleich die Urnen. Wer sich bis zur Wahlkabine durchschlug, konnte oft dennoch nicht wählen. Denn in den Wahlregistern, so berichten Beobachter­Innen, seien anstelle der Wahlberechtigten Namen wie Nelson Mandela oder Donald Duck gestanden. Selbst die Familienangehörigen des Gouverneurs Peter Obi fehlten im Wahlregister. Zum Schluss hatten nur knapp 300000 der 1,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben - keine siebzehn Prozent. Und doch sind viele Bürger­Innen zufrieden: Immerhin wurde von der als hochgradig korrupt verschrienen Wahlkommission nicht Chukwuma Soludo zum Sieger gekürt; der Kandidat der auf Bundesebene regierenden Partei PDP wurde nur Dritter. Vielen NigerianerInnen gilt das als Zeichen der Hoffnung dafür, dass ihre Stimme im kommenden Jahr zählen könnte. Vorausgesetzt, sie können sie abgeben.

Goodluck Jonathan übernimmt

Solche Zeichen der Hoffnung sind selten in Nigeria, über achtzig Tage nach der Abreise von Präsident Umaru Yar'Adua, der sich in Saudi-Arabien eine Herzbeutelentzündung behandeln lässt. Es ist nicht das erste Mal seit seiner Wahl vor drei Jahren, dass der 58-Jährige im Ausland behandelt wird. Unter anderem ist Yar'Adua schwer nierenkrank. So wunderte sich zunächst niemand über seine Abwesenheit, bis sie sich so sehr in die Länge zog wie nie zuvor. Was Ende November als eine Krankenreise begann, hat sich zur grössten Staatskrise Nigerias ausgeweitet, seit 1999 die Militärdiktatur von Sani Abacha ihr Ende fand.

Am Dienstag (9. Feb.) haben jetzt überraschend beide Parlamentskammern Vizepräsident Goodluck Jonathan mit der interimistischen Übernahme der Amtsgeschäfte betraut. Noch am gleichen Tag wandte sich Jonathan mit einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. Er rief dazu auf, für den kranken Präsidenten zu beten. Yar'Adua hat sich zu Jonathans Amtsübernahme nicht ge­äussert. So bleibt unklar, ob dessen Amtseinsetzung nicht rechtlich angefochten werden kann.

Dass sich Yar'Adua bis zum Schluss weigerte, seine Macht formell zu übergeben, sorgte überall für Proteste. Intellektuelle wie der Nobelpreisträger Wole Soyinka, die Herausgeber der sieben grössten Tageszeitungen und zunehmend auch Parlamentarier hatten den Präsidenten ultimativ aufgefordert, Jonathan einzusetzen. Denn in der präsidialen Demokratie Nigerias geht vieles nur, wenn der Präsident zustimmt: So drohte das Land ab März ohne Haushalt dazustehen.

Grosse Teilen der politischen Elite wollten vor allem ihre Pfründe sichern, glaubt Auwal Mussa Ibrahim, der verschiedenste nichtstaatliche Organisatio­nen in der Hauptstadt repräsentiert. Deshalb habe es bei der Machtübertragung so lange gedauert. Die politische Elite aus dem muslimisch geprägten Norden Nigerias sperrte sich zudem gegen den Christen Jonathan aus dem Süden. Er soll möglichst wenig Einfluss darauf nehmen, wer dem Muslim Yar'Adua bei der Präsidentschaftswahl von 2011 nachfolgt. Seit Yar'Aduas Ausreise, so Ibrahim, sei kein einziges politisches Projekt vorangekommen. «Im Land herrscht Stillstand.» Mit der Übernahme der Amtsgeschäfte durch Jonathan wird sich dabei allerdings kaum etwas ändern.

Massaker in Jos

Nach wie vor herrscht im Land ein politisches Vakuum, droht das Land zu implodieren. Verschiedene politische Lager nutzen ihre Chance: So haben die Rebellen in den Ölgebieten des Nigerdeltas einen mit Yar'Adua geschlossenen Waffenstillstand aufgekündigt. «Die Regierung hat die zugesagten Verhandlungen ohne Angabe von Gründen platzen lassen», sagt ein Sprecher. «Auch die vereinbarten Kompensationszahlungen sind ausgeblieben.» Die Rebellen fordern, dass die Bevölkerung im Nigerdelta mehr vom Erlös der Öleinnahmen profitiert. Den Worten liess die «Bewaffnete Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas» (MEND) vergangene Woche bereits Taten folgen. Erstmals seit Monaten zerstörten sie wieder Öl­anlagen des Shell-Konzerns. Und erstmals überhaupt hat die Bewegung angekündigt, auch ausserhalb der Ölregionen Anschläge zu verüben.

Am schlimmsten ist es jedoch im Zentrum Nigerias, gerade einmal 300 Kilometer von der Hauptstadt Abuja entfernt. Bei regelrechten Massakern, an denen christliche und muslimische Milizen beteiligt waren, kamen in der Stadt Jos und den umliegenden Dörfern in nur wenigen Tagen mehr als 550 Menschen ums Leben (vgl. unten «Eine explosive Stadt»). Erst als die Armee einmarschierte, hörten die Kämpfe auf. Seitdem gleicht Jos einer Stadt unter Belagerung: Alle 500 Meter haben Soldaten Strassensperren errichtet. Mit Sonnenbrillen und Kalaschnikows ausgerüstete Männer filzen jeden Wagen. Um fünf Uhr, eine Stunde vor Beginn der nächtlichen Ausgangssperre, flüchten alle BewohnerInnen so panikartig aus der Innenstadt, dass alle Ausfallstrassen verstopft sind. Nach achtzehn Uhr sind Schüsse zu hören: Warnschüsse, heisst es, die Nachzügler in die Häuser treiben sollen.

Im Kreuzfeuer

Viele Menschen haben vor der Luftwaffenbasis von Jos Schutz gesucht. In einem der vierzehn Vertriebenenlager, die seit dem Ausbruch der Kämpfe entstanden sind, sitzen die angeblichen Todfeinde miteinander im Schatten der wenigen Akazien dicht gedrängt auf dem staubigen Boden und wissen nicht, wohin. «Ich habe morgens zu Hause am Esstisch gesessen», erinnert sich die Muslimin Aisha Haruna. «Eine Stunde vor Mittag dann hörte ich laute Stimmen an der Hintertür und ein Krachen, als sie aufgebrochen wurde.» Haruna und ihre drei Töchter rannten zur Vordertür hinaus, aber die bewaffneten Jugendlichen - christliche Milizen - nahmen die Verfolgung auf. «Ich dachte, wir hätten Glück, als wir auf eine Polizeipatrouille stiessen», sagt die Mutter. Doch als sich Polizisten und Verfolger ein Duell liefern, wird eine von Harunas Töchtern im Kreuzfeuer tödlich getroffen. «Jetzt warte ich nur noch, bis mir jemand den Busfahrschein bezahlt, damit wir in mein Heimatdorf zurückkehren können.»

Wenige Meter neben ihr sitzt Ndu­sibi Oko. Für ihn gibt es keinen Bus. Seine Heimat war immer schon Bukuru, die Vorstadt, die sich nahtlos an die Provinzhauptstadt Jos anschliesst. «In Bukuru gab es bisher noch keine Unruhen, deshalb fühlten wir uns sicher», berichtet er stockend. Oko war auf Reisen, als die Kämpfe begannen. «Als ich nach Hause zurückkehrte, lagen mein Haus und meine Werkstatt in Schutt und Asche.» Muslimische Milizen hätten seine Frau und Kinder aus dem Haus gejagt und es in Brand gesteckt. «Sie haben auch meinen Vater, einen alten Mann, angezündet, der Leichnam war so verkohlt, dass ich ihn nicht mehr erkennen konnte.» Oko hofft auf Hilfe, weil er alles verloren hat. Die Regierung des Bundesstaats Plateau hat Hilfsgelder zugesagt. «Aber die Grausamkeit, die ich erlitten habe, lässt sich mit allem Geld der Welt nicht wieder gut machen.»

Von manchen Teilen Bukurus ist wenig mehr als ein Alptraum in Grau- und Schwarztönen zurückgeblieben. Die Strassen, die durch die Ortschaft führen, sind gesäumt von Ruinen. Ausgebrannte Autowracks liegen wie hingeworfen am Strassenrand. Wo der Markt war, ist heute eine russgeschwärzte Wüs­tenei. «Der Rauch von den brennenden Häusern war so dick, dass wir die Gebäude auf der anderen Strassenseite nicht mehr sehen konnten», sagt Sa­muel Dali. «Von überall her waren Schüsse zu hören, und die Polizei hat uns nur abgewimmelt, sie sei überlastet.» Dali ist Dekan am Theologischen College für Nordnigeria in Bukuru. Als der ausgebildete Rettungssanitäter sah, wie viele Verletzte - Muslime wie Christen - auf einmal in die kleine Krankenstation der Hochschule eingeliefert wurden, begriff er schnell das Ausmass der Unruhen. «Ich habe die Studenten zusammengerufen, und wir haben Patrouillen eingeteilt, Tag und Nacht, um eine Erstürmung des Campus zu verhindern.» Was die Studenten vom Universitätsgelände aus beobachteten, machte ihnen Angst, sagt Dali. «Da gab es Soldaten, die Maschinengewehre an die muslimische Bevölkerung verteilt haben, und wir dachten: Jetzt geht es uns an den Kragen.» Einer der Studenten wurde von Männern in Militäruniform direkt vor dem Tor der Universität erschossen. Doch die befürchtete Erstürmung blieb aus. Dali sagt lapidar: «Wir hatten Glück.»

Weiteres Anheizen

Dalis Chef, Kanzler Tersur Aben, glaubt an ein lange geplantes Pogrom der Hausa-Fulani. «Jos ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Herrschaft über das ganze Land.» Der dominanten Volksgruppe im Norden wirft Aben vor, ihren Einflussbereich ausweiten zu wollen wie einst im 19. Jahrhundert. Damals übernahm das streng muslimische Hausa-Fulani-Emirat von Sokoro binnen weniger Jahrzehnte die Macht in den Sahelstaaten nördlich von Jos. «Jetzt wollen sie die Kontrolle im Zentrum Nigerias übernehmen, heute in Jos, morgen in der nächsten Stadt», so Aben. Opfer seien die einheimischen Stämme der Berom und Gyel, die bei wachsendem politischem Einfluss der Hausa-Fulani unter anderem die Einführung des Schariarechts befürchten. «Wir sind eine Frontstadt», sagt Aben.

An der Front bekommen immer mehr diejenigen Gehör, die nicht an einen Frieden glauben wollen. Tassie Ghata führt eine Missionsbewegung mit dem Namen «Gnade und Licht International». Sie sagt: «Was hier passiert, das ist ein heiliger Krieg gegen uns Christen und die einheimischen Stämme, ein Dschihad.» Ihren AnhängerInnen rät sie, sich zur Wehr zu setzen. «Wir haben keine Angst mehr, wir fühlen inzwischen vor allem Wut und Hass.» Auf der anderen Seite meldet sich bereits die «al-Kaida im islamischen Maghreb» zu Wort: Man sei bereit, die nigerianischen Brüder und Schwestern zu trainieren und mit Waffen auszurüsten, heisst es in einem Schreiben, das Diplomaten in Abuja für authentisch halten. Und Umar Farouk von der islamischen Bürgerbewegung Jamaat Nazrel Islam heizt das Feuer weiter an: «Was wir hier von den Christen gesehen haben, ist der Versuch ethnischer Säuberungen, die wollen uns vertreiben.»

Moderate Stimmen sind in Jos wenige zu finden. Eine gehört Ogoh Alubo. Der Soziologieprofessor macht eine altertümliche Gesetzesregelung für die verfahrene Lage verantwortlich. «Ich lebe seit 1983 in Jos, meine Kinder sind alle hier geboren», beschreibt er am eigenen Beispiel den Gegensatz zwischen «Einheimischen» und zugezogenen «Siedlern», den die Verfassung des Bundesstaats festschreibt. «Ich und selbst meine Kinder gelten hier als Siedler. So haben sie keine Stipendien bekommen, sie können nicht in der Verwaltung arbeiten und bekommen kein politisches Amt.» Überdies werde um den Status heftig gestritten: «Die Berom werfen den Hausa-Fulani vor, Siedler zu sein, aber die Hausa-Fulani sagen: Wir waren hier, seit Jos vor hundert Jahren gegründet wurde, wir sind Einheimische.»

Mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Stadt sei das Thema immer brisanter geworden, sagt Alubo. «Im härteren Kampf um Arbeitsplätze und um Land entzweit sich die Bevölkerung - angestachelt von Politikern, die damit punkten wollen.» Weil die Politik selbst Alltagsprobleme nicht lösen kann, verlegt sie sich auf das Beschwören eines gemeinsamen Feindes. In dieser politisch aufgeheizten Stimmung, glaubt nicht nur Alubo, könnte Nigeria zerbrechen. Denn der so lange aufgebaute Gegensatz zwischen Nord- und Südnigeria, der sich nicht zuletzt in der Präsidentenkrise manifestiert, scheint kaum noch lösbar.

Eine explosive Stadt

Jos zählt 500000 EinwohnerInnen und ist Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaats Plateau. Die Stadt liegt an der Nahtstelle zwischen dem mehrheitlich muslimischen Norden und dem vorwiegend christlichen Süden Nigerias. Obwohl ChristInnen die Mehrheit der Bevölkerung in Plateau stellen, lebt vor allem in Jos eine bedeutende muslimische Minderheit.

2001 erschüttern erste Unruhen die Stadt, mehr als 1000 Menschen kommen ums Leben. 2002 geht der städtische Markt, der grösste Umschlagplatz der Region, in Flammen auf. Ende 2008 gibt es erneut heftige Ausschreitungen, mehr als 200 Menschen sterben. Untersuchungen verlaufen im Sand, niemand wird verhaftet. Am vergangenen 17. Januar brechen wieder Kämpfe aus. Während das Militär die Stadt nach vier Tagen sichert, kommt es im Umland zu weiteren Ausschreitungen. Hunderte werden getötet, offizielle Zahlen dazu gibt es nicht.



* Aus: Schweizer Wochenzeitung, 11. Februar 2010


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