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Allah gibt Nigeria kein Wundermittel

Enttäuschte Hoffnungen und rechtliche Unklarheiten nach Einführung der Scharia

Interview mit Lamido Sanusi, Lagos*

Lamido Sanusi ist nigerianischer Islam-Experte sowie Wirtschaftswissenschaftler und leitet den Bereich Risikomanagement der »United Bank for Africa« in Lagos/Nigeria. Er stammt aus dem nördlichen, überwiegend muslimischen Bundesstaat Kano und gehört zur Familie des Emirs von Kano. Sanusi studierte Scharia und Islam in Khartum/Sudan und Wirtschaftswissenschaften in Nigeria, London und New York. Das Interview führte Marina Flämig.

ND: Nigeria ist seit 1999 ein demokratisches Land. Ab dem Jahr 2000 haben bis heute zwölf der 36 Bundesstaaten im überwiegend muslimischen Norden des Landes das Strafrecht der islamischen Scharia eingeführt. Wie lässt sich dieses Rechtssystem, speziell die Hudud-Strafen wie Amputation und Steinigung, mit den Menschenrechten vereinbaren, die in der nigerianischen Verfassung garantiert werden?

Sanusi: Die nigerianische Verfassung bestätigt einerseits, dass grausame und unmenschliche Strafen vermieden werden müssen. Andererseits gibt sie den Gesetzgebern in den Bundesstaaten das Recht, Gesetze für die »gute Staatsführung« zu erlassen. Solange keine Person, die von einem Scharia-Gericht verurteilt wurde, bei einem Gericht des Zentralstaates Berufung einlegt, hat der Oberste Gerichtshof Nigerias nicht die Möglichkeit, die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetze zu prüfen. In den ein oder zwei Fällen, in denen es zur Verurteilung und Durchführung von Amputationen kam, haben die betroffenen Personen ihr Urteil akzeptiert. Die Zentralregierung hat nicht die rechtliche Befugnis einzugreifen, wenn eine verurteilte Person darauf besteht, Muslim zu sein und demzufolge die Strafe erhalten zu wollen.

Welche Erwartungen setzte die Bevölkerung in den nördlichen Staaten in die Einführung der Scharia?

Ende der 90er Jahre stand Nigeria kurz vor dem Zusammenbruch: Die Regierung war extrem korrupt; die Armut sehr hoch. Die Menschen im Norden hofften, die Scharia würde die Politiker ehrlich machen und für eine gute Regierung, bessere Schulen und eine anständige moralische Ordnung sorgen.

Hat die Scharia gehalten, was sich die Menschen von ihr versprochen haben?

Nein, die Hoffnungen der Leute wurden enttäuscht. Viele Nigerianer haben erkannt, dass nur die Armen und Frauen zu bestimmten Strafen verurteilt werden. Die Korruption ist immer noch hoch. Für die meisten ist das Leben durch die Scharia nicht besser geworden.

Gouverneure und andere Politiker der nördlichen Staaten nutzen die Scharia, um politische Vorteile zu gewinnen. Instrumentalisieren sie die Scharia, um die Regierung Olusegun Obasanjos, eines Südnigerianers, zu destabilisieren?

Einige der Gouverneure haben die Scharia zu einem gewissen Grad instrumentalisiert. Aber ich glaube nicht, dass das Ziel war, die Zentralregierung zu destabilisieren. Die Scharia ist hier ein wichtiges Mittel für die Gouverneure, eine solide politische Basis für sich zu gewinnen. Sie garantiert, dass die regionalen Politiker weiterhin Zugang zu politischer Macht haben. In diesem Zusammenhang wurde die Scharia ausgenutzt.

Gemäß der nigerianischen Verfassung ist Nigeria ein säkularer Staat. Die Scharia wird jedoch als Gesetz Allahs betrachtet. Wird der Islam damit nicht zur Staatsreligion gemacht?

Die nigerianische Verfassung verbietet es den Bundesstaaten, eine Staatsreligion einzuführen; daran haben sich die Staaten gehalten und Islam nicht zur Staatsreligion erklärt. Die Bundesstaaten haben die Scharia als Zusatzartikel zu den bestehenden Gesetzen eingeführt. In diesem Sinne widersprechen sie juristisch keiner Bestimmung der Verfassung.

Laut Koran darf die Scharia nur für Muslime gelten. Trotzdem hat das In-Kraft-Treten der islamischen Rechtsprechung Auswirkungen auf die nicht-muslimische Bevölkerung. Werden Andersgläubige diskriminiert?

Die Gouverneure bestehen offiziell darauf, dass die Scharia nur für Muslime gilt. Aber trotzdem sind auch andersgläubige Nigerianer davon betroffen. Nicht-muslimische Frauen haben sich zum Teil darüber beschwert, dass sie auf Grund ihres Kleidungsstils beleidigt werden. Christen, die Alkohol trinken wollten, sind in manchen Gegenden daran gehindert worden. Es gibt nicht-kontrollierbare Gruppen, die behaupten im Namen der Scharia zu agieren und mit dieser Begründung Menschen belästigen. Radikalislamische Hisbah-Gruppen haben in der Vergangenheit beispielsweise Busse angezündet, Lastwagen mit Bier am Weiterfahren gehindert oder Hotels und sogar Menschen angegriffen. Ich denke, die bundesstaatlichen Regierungen bestrafen diese Gruppen nicht ausreichend genug; das ist ein Besorgnis erregender Punkt.

Gibt es innerhalb des Landes einen Konsens darüber, die Scharia in einer moderneren Art und Weise zu interpretieren?

Es gibt nur sehr wenig intellektuelle Arbeit, die sich mit der Reform der Scharia auseinander setzt. Hier stehen sich anti-westliche und liberale Muslime, die sich eine modernere Auslegung der Scharia wünschen, gegenüber. Bestimmte Sachfragen werden sehr stark diskutiert. Dazu gehört, inwieweit es möglich ist, dass eine Frau und ein Mann ein Gesetz brechen, und nur die Frau wird verurteilt, weil sie schwanger ist. Oder inwieweit es rechtens ist, die Hand eines Diebes in einem Staat zu amputieren, in dem es kein staatliches Wohlfahrtssystem, aber jede Menge Armut gibt. Wir sollten die Scharia moderner, liberaler und menschlicher interpretieren als im Moment.

Ist Nigerias Stabilität bedroht durch sowohl muslimische als auch christliche fundamentalistische Gruppen?

Nicht nur Nigeria, sondern die ganze Welt ist durch sie gefährdet. Solange sich Christen und Muslime als Gegner wahrnehmen, wie im arabisch-israelischen Konflikt oder in Irak, solange wird es lokale Protagonisten geben, die meinen, auf lokaler Ebene einen globalen Konflikt auszutragen. Diese Gruppen sind gefährlich; sie haben das Potenzial, für Instabilität zu sorgen und Gewalt hervorzubringen.

Was erhoffen Sie sich für Nigeria?

Ich wünsche mir, dass wir eine Nation werden. Wenn Christen und Muslime, Menschen aus dem Süden und Menschen aus dem Norden, an ein Land glauben würden, könnten wir den Traum einer großen afrikanischen Nation verwirklichen.

*Aus: Neues Deutschland, 1. März 2005


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