Nigeria: Die Gewaltkonflikte verschärfen sich
Sind die Tage der Zivilherrschaft gezählt?
Der folgende Beitrag erschien im Neuen Deutschland unter dem Titel "Nigeria: Pulverfass unter Dauerdruck. Explosionen der Gewalt sind in Nigeria nahezu Alltag"
Von Hannes Jakob
Nach dem fürchterlichen Explosionsunglück Ende Januar mit seinen über 1000 Toten ist Lagos
nun von einem Töten erfasst, dessen Opferzahlen momentan zwar noch geringer, dessen
Dimensionen indes viel gefährlicher sind.
Seit letztem Wochenende forderten in der 9-Millionen-Megastadt an der ehemaligen Sklavenküste des
Atlantik die Auseinandersetzungen rivalisierende Volksgruppen bereits mindestens 100 Todesopfer.
Polizei und Justiz zeigten sich ebenso machtlos, wie sie es bei all jenen Gemetzeln bereits waren, die
Nigeria Jahr für Jahr nahezu regelmäßig heimsuchen und in den letzten zwei Jahren rund 10.000 Tote
und ungezählte Flüchtlinge zur Folge hatten. Auch wenn sich die Lage in Lagos erst einmal wieder
beruhigt hat, ist die nächste Auseinandersetzung nur eine Frage der Zeit.
Der Hintergrund dieser Massaker ist vielgestaltig, seine ethnischen, religiösen, politischen wie
wirtschaftlichen Komponenten sind zudem eng miteinander verwoben. Wenn sich derzeit neuerlich die
beiden größten Volksgruppen des multiethnischen 120-Millionen-Staates - die im Norden
dominierenden muslimischen Haussa-Fulla und die im Südwesten vorherrschenden christlich oder
animistischen Yoruba - gegenseitig der Schuld an den Vorgängen bezichtigen, spricht das nur zum Teil
für ein ethnisches Duell. Vielmehr geht es wieder einmal um die Neuverteilung der Macht, die bis Ende
der Diktatur 1999 politisch vom Norden dominiert war, während sich im Süden das ökonomische
Potenzial, das vor allem Erdöl heißt, konzentriert.
Seit Olusegun Obasanjos Amtsantritt im Mai 1999 ist die Friedhofsruhe der Militärdiktatur vorbei, die
Begehrlichkeiten wachsen und werden oft mit Gewalt ausgetragen. Bei den meisten Konflikten geht es
jedoch weder um Stammeszugehörigkeit noch um Religion, sondern um den Zugang zu einem besseren
Leben: sei es in Form von fruchtbarem Land, Jobs oder politischer Macht. Die Bevölkerung des reichen
Ölstaates verarmt zunehmend. Immer weniger haben die Möglichkeit, sich zu bilden. Immer mehr
frustrierte, arbeitslose Jugendliche dominieren die Unterschicht in den Städten.
Obasanjo hatte eigentlich gute Voraussetzungen, die Haussa-Fulla mit den Yoruba auszusöhnen: Er ist
zwar Yoruba, hielt jedoch stets gute Kontakte zu Vertretern der nördlichen Eliten um den ehemaligen
Militärdiktator Ibrahim Babangida (1985 bis 1993). Dieser sponserte einst Obasanjos Kandidatur, der
von 1976-79 selbst Juntachef war. Doch die Zeiten haben sich geändert: Babangida ist Obasanjos
politischer Rivale geworden. Seine Anhänger verlangen seit längerem die Zulassung als Partei und
wollen Babangida als Präsidentschaftskandidat gewinnen.
Der Trend, die Scharia, die islamische Gerichtsbarkeit, in immer mehr Teilen des Bundesstaates
rechtlich verbindlich zu machen, hat den militanten Kräften bei den Muslimen wie den Christen einen
ebenso willkommenen Anlass für eine Konfliktverschärfung geboten wie die verhängnisvolle
Pauschalstigmatisierung des Islam seit dem 11. September von New York ihrerseits. Die dramatische
Zuspitzung der Ereignisse ist aber auch in dem angelegt, was das westliche Abendland der einstigen
Kolonie an Erbe hinterlassen hat, und wo es auch heute noch höchst eigennützige Interessen verfolgt.
Denn wie so oft im Gefolge der von Bismarck initiierten Berliner Kongo-Konferenz von 1884/85 hatten die
Neuverteiler der kolonialen Einflusssphären bei der »Staatenbildung« auf ethnische und kulturelle
Eigenständigkeit der Afrikaner keine Rücksicht genommen. In dem britischen Protektorat wurden so
mehr als 250 Ethnien mit meist eigenen Sprachen von vorn herein in einem Pulverfass »national
vereint«, woran sich nichts änderte, als man es 1960 in die politische Unabhängigkeit entließ. Dieses
explosive Kunstgebilde hat sich seither nahezu ausschließlich durch Militärdiktaturen regieren lassen.
Obasanjo, seit langer Zeit erstmals wieder ein aus dem christlichen Süden stammender Staatschef,
erklärte bei seinem Amtsantritt die außerhalb jeder Kontrolle geratene Korruption zum Hauptfeind des
Landes. »Gier, Stammesrivalitäten, Bigotterie und andere negative Faktoren« wolle er überwinden. Das
war und ist ganz sicher ehrenwert, denn Nigeria ist laut der Anti-Korruptions-Organisation
»Transparency International« das korrupteste Staatswesen auf Erden. Rund 200 Milliarden Dollar, fast
das Siebenfache der nigerianischen Auslandsschulden, gelten als veruntreut. Obasanjo hat im Herbst
2000 mit großer Emphase auch eine diesbezügliche Kommission eingesetzt, deren Ergebnisse sind
aber mehr als dürftig.
Explosiver als in Nigeria kann eine gesellschaftliche Gemengelage kaum sein. Das Ende der Tage der
Zivilherrschaft in Nigeria ist unter diesen Umständen bereits schon wieder absehbar.
Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2002
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