Verfrühte Siegesmeldung
Nigeria: Islamisten im Norden kämpfen mit libyschen Waffen
Von Christian Selz, Kapstadt *
Mit den ersten Luftschlägen im eigenen Land seit dem Ende des Biafra-Kriegs 1970 hat Nigerias Regierung in der vergangenen Woche eine neue Phase im Kampf gegen die islamistische Boko Haram eingeläutet. Präsident Goodluck Jonathan verhängte den Ausnahmezustand über die drei Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe im äußersten Nordosten des Landes. Er wurde am Montag auch von den beiden Parlamentskammern des Landes abgesegnet. Bereits am Mittwoch vergangener Woche hatte die Armee nach eigenen Angaben Ausbildungslager der Boko Haram im dünn besiedelten Grenzgebiet zu Niger und Kamerun angegriffen. Am Wochenende konzentrierten sich die Aktionen des Militärs dann auf die Millionenmetropole Maiduguri, die als Hochburg der Islamisten gilt.
Nach offiziellen Armeeangaben vom Montag seien bei der Offensive sämtliche Basen der Rebellen erobert worden, Boko Haram gelte damit als »zerschlagen«. Der für das Scheitern seiner Antikorruptionspolitik in der Kritik stehende Regierungschef Jonathan ordnete gestern in einer als Akt der Versöhnung dargestellten Maßnahme sogar die Entlassung Hunderter angeblicher Terroristen an, darunter die aller inhaftierten Frauen. Doch die gleichzeitige Demonstration von militärischer Stärke und generöser Größe scheint kaum mehr als eine PR-Aktion zu sein. Ein hoher Armeeangehöriger zeichnete unter dem Schutz der Anonymität gegenüber der britischen Tageszeitung The Guardian ein klareres Bild der tatsächlichen Lage. »Sie haben starke Gegenwehr geleistet und sind sehr, sehr gut mit Waffen aus Libyen ausgerüstet«, so der Offizier über die islamistischen Kämpfer, die sich infolge der Offensive über die Halbwüste im nordöstlichen Nigeria und in den Nachbarländern verteilt hätten.
Die nigerianische Armee scheint sich zumindest intern des Risikos anhaltender Terroranschläge weiterhin bewußt zu sein. Über große Teile von Maiduguri verhängte das Militär eine Ausgangssperre. Bewohner berichten von systematischen Hausdurchsuchungen, Schüssen zur Einschüchterung der Zivilisten, Menschenrechtsverletzungen und einer Fluchtwelle nach Kamerun. Augenzeugen zufolge stauen sich vor der Stadt Lastwagen mit Lebensmittellieferungen. Selbst US-Außenminister John Kerry zeigte sich »zutiefst beunruhigt« über den Konflikt und rief »die Sicherheitskräfte in Nigeria zur Zurückhaltung bei der Anwendung von Gewalt, zum Schutz von Zivilisten sowie zum Respekt der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit« auf. Die nigerianische Armee verkündet derweil, zahlreiche Waffenlager in Privatwohnungen ausgehoben und »Dutzende« Boko-Haram-Kämpfer getötet zu haben. Drei nigerianische Soldaten seien ebenfalls ums Leben gekommen, einer werde noch vermißt. Im Grenzgebiet zu Kamerun haben die islamistischen Kämpfer nach von beiden Seiten bestätigten Angaben einen nigerianischen Kampfhubschrauber abgeschossen. Angaben von Menschenrechtsorganisationen zufolge sind in dem seit vier Jahren andauernden Konflikt im Norden des Landes bereits mehr als 3600 Menschen ums Leben gekommen.
Großbritannien und die USA haben Nigeria unterdessen Hilfe im Kampf gegen die Rebellen angeboten – allerdings nicht gegen Boko Haram, sondern lediglich zur Eindämmung des Öldiebstahls im Niger-Delta. Dort hatte die »Bewegung für die Emanzipation des Niger-Deltas« (MEND) eine Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes angekündigt, nach einem ersten Anschlag auf ein Polizeiboot Anfang April aber keine weiteren Attentate verübt. Die MEND kämpft nach eigener Darstellung dafür, daß die Gewinne aus den Ölvorkommen den Bewohnern der durch die Ölförderung extrem verschmutzten Delta-Region zugute kommen. Nigerias Ölministerin Diezani Alison-Madueke macht dagegen »Saboteure und Vandalen« für den Verlust von 150000 Barrel Öl täglich verantwortlich – was für Nigerias Regierung und die mit ihr kooperierenden westlichen Ölkonzerne einen Jahresverlust von vier Milliarden Euro bedeutet.
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 23. Mai 2013
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