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Jihad vs. Miss World:

Politik, Religion und Geschichte in Nigeria

Im Folgenden dokumentieren wir einen Vortrag, der am Zentrum Moderner Orient, Berlin, am 22. September 2003 gehalten wurde.


Von Axel Harneit-Sievers*

Der plakative Titel meines Beitrags ist ein Beinahe-Zitat: Es stellt den Bezug auf die Thesen des US-amerikanischen Politologen Benjamin Barber her, die erstmals 1992 im "Atlantic Monthly" erschienen, unter dem Titel "Jihad vs. McWorld". Bei Barber bezeichnen die beiden Begriffe die, wie er es nennt, "axiale Prinzipien" unseres Zeitalters. Die Kategorien erinnern oberflächlich an Huntington's "clash of cultures", doch bestimmt Barber sie ganz anders:
  • Auf der einen Seite sieht er die Welt der Fundamentalismen, nicht nur in ihrer islamischen Variante: die Welt der Identitätspolitik, sei sie kommunal, national oder religiös bestimmt, eine "libanisierte Welt", wie Barber sie nennt - für all dies steht der "Jihad".
  • Auf der anderen Seite steht die "McWorld": die Welt der Globalisierung, wirtschaftlich ebenso wie kulturell (verstanden als Homogenisierung, Amerikanisierung usw.).
Das Prinzip McWorld, so Barber, vereinheitlicht die Erde bis zur Ununterscheidbarkeit. Das Prinzip Jihad dagegen beansprucht das Recht des Spezifischen bis hin zur Ausgrenzung des "Anderen", gar dessen Exterminierung.

McWorld und Jihad reagieren auf- und gegeneinander. Barber zufolge bekämpfen sich Jihad und McWorld an allen Fronten, und in jedem einzelnen Punkt - bis auf einen einzigen, aber für Barber zentralen Aspekt: Beide bedrohen die Demokratie. Die Radikalismen des Jihad, organisiert nach dem Führerprinzip, bekämpfen die Demokratie aktiv. Aber auch der Demokratiebedarf der McWorld ist begrenzt: Solange nur einigermaßen Rechtssicherheit für Privateigentum besteht, kooperiert das Kapital auch gern mit Oligarchien. Aus Barbers Sicht schaffen weder radikale Identitätspolitiker noch transnationale Konzerne eine sichere Basis für demokratische Entwicklung. Barber war denn auch nicht allzu optimistisch, was die Zukunft der Demokratie in einer von McWorld und Jihad zerrissenen Welt betrifft.(1)

Zur Darstellung der gegenwärtigen Situation in Nigeria sind Barbers Kategorien recht nützlich; um so besser, wenn sie sogar Wortspiele erlauben, wie im Beinahe-Zitat meines Titels. Wir finden in Nigeria dreierlei:
  1. den "Jihad": die Politik religiöser Identität, in Nigeria vor allem, aber eben auch nicht nur in ihrer islamischen Version (und bisweilen mit Bezügen zu einem realhistorischen islamischen Jihad vor fast 200 Jahren);
  2. die "McWorld", im vorliegenden Fall vor allem kulturell: d.h. die Werte der säkularen Moderne; Ausdruck des Lebensstils der nigerianischen Mittelklasse, aber auch Ausdruck des Selbstverständnisses des nigerianischen Staats;
  3. die Gefahr für die Demokratie: Der Zusammenprall spielt sich in einem Land ab, das seit 30 Jahren fast ununterbrochen von Militärregierungen beherrscht wurde. Seit 1999, als Olusegun Obasanjo zum Präsidenten gewählt wurde, befindet es sich in einem demokratischen Transitionsprozess, der durch Konflikte wie den hier geschilderten permanent gefährdet wird.
Mein Beitrag ist in vier Abschnitte gegliedert:
  1. Zuerst gebe ich einen Rückblick auf die Krise um den Miss World-Wettbewerb gegen Ende letzten Jahres. Die Krise verdient eingehendere Betrachtung, weil sich hier - im scheinbar abseitigen Einzelereignis - grundlegendere Strukturen von Politik und Gesellschaft in Nigeria verdichten.
  2. Im zweiten Schritt ordne ich die Ereignisse in den weiteren Kontext der umstrittenen Einführung des islamischen Sharia-Strafrechts in Nord-Nigeria seit Ende 1999 ein.
  3. Im dritten Teil schlage ich einige Pfade ins Dickicht der Debatten um die Sharia in Nigeria heute - Debatten auf nationaler Ebene, aber auch solche innerhalb der muslimischen Gemeinschaft selbst. Ich gehe auch darauf ein, wie die Anhänger die Sharia-Einführung begründen, unter anderem durch einen Verweis auf eben jenen Jihad vor fast 200 Jahren.
  4. Viertens, und zum Abschluss, gehe ich dann noch darauf ein, wie wir - als Heinrich Böll Stiftung in Nigeria - uns in dieser Konfliktkonstellation positionieren.
1. Der Miss World Schönheitswettbewerb

"Miss World" steht für einen Schönheitswettbewerb mit tödlichem Ausgang. So etwas geschieht nicht alle Tage, nicht einmal in Nigeria, einem Land, das für überraschende Wendungen bekannt ist. Vielleicht erinnern sich einige unter Ihnen noch an die Schlagzeilen im November 2002: der "Miss World" Schönheitswettbewerb in Nigeria; die Boykottdrohungen, die ihn begleiteten; die schweren Unruhen, die folgten; schließlich der Abbruch des Wettbewerbs in Nigeria. Wie konnte zu solch einer Krise kommen?

Nigeria wurde zum Austragungsort des 2002 Miss World Wettbewerbs, weil eine Nigerianerin, Agbani Darego, den Wettbewerb im Vorjahr gewonnen hatte. Offizielle Stellen in Nigeria - der Chef des staatlichen Fernsehens, auch verschiedene Regierungsstellen, bis hin zur "First Lady", Mrs. Stella Obasanjo, der Frau des Präsidenten - waren von den Möglichkeit begeistert, mit dem Wettbewerb ein positives Bild Nigerias in der Welt zeichnen zu können. Damit war die Hoffnung verbunden, Investoren und Touristen ins Land zu locken.

Der schöne Schein des Schönheitswettbewerbs erhielt allerdings schon im Sommer 2002 Brüche, als mehrere Beauty Queens (insbesondere Miss Frankreich und Miss Norwegen) einen Boykott ankündigten. Sie wollten zu dem Wettbewerb nicht in ein Land kommen, wo Sharia-Gerichte Frauen wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs zum Tode durch Steinigung verurteilt haben. Um der Boykottdrohung zu entgegen, erklärte die nigerianische Regierung offiziell, sie garantiere die Sicherheit des Schönheitswettbewerbs, und die umstrittenen Urteile würden im Laufe des geordneten Gangs islamischer Justiz ohnehin aufgehoben.(2)

Seit Herbst gab es Proteste gegen den Wettbewerb in Nigeria selbst, vor allem seitens muslimischer Organisationen. Einige kritisierten den Wettbewerb schlicht als unmoralisch und frauenverachtend. Radikalere Gruppen kündigten an, sie würden seine Durchführung verhindern. Auch gemäßigte Muslime kritisierten das Timing, denn der Wettbewerb fiel in den islamischen Fastenmonat; die Veranstalter verlegten daraufhin zumindest die Schlussveranstaltungen. Aber Gegner fanden sich nicht nur unter Muslimen. Christliche Kirchenvertreter teilten das Argument der Amoralität des Wettbewerbs. Gegenüber dieser selbsterklärten "moralischen Mehrheit" war der Wettbewerb allerdings durchaus populär, gerade unter der mehrheitlich christlichen, gebildeten Mittelklasse, und vor allem im Süden des Landes. Aus der Sicht dieser Schichten repräsentierte er die eigene und Nigerias "Modernität" und Weltoffenheit.

Mitte November reisten die Beauty Queens zu den Schlussveranstaltungen in die Hauptstadt Abuja, und dort kam es zum Eklat. Am 16. November veröffentlichte ThisDay, eine angesehene Tageszeitung aus Lagos, im Lifestyle-Teil der Samstagsausgabe einen Artikel über den Miss World-Wettbewerb. Dort hielt eine junge, in England aufgewachsene und mit heimischen Sensibilitäten offenbar wenig vertraute Journalistin der muslimischen Kritik entgegen: Der Prophet selbst hätte sicher nichts gegen den Wettbewerb einzuwenden gehabt, sondern er hätte vermutlich eine der Schönheitsköniginnen geheiratet. Ein solcher Witz kann in jeder Bierbar in Lagos gemacht werden, aber nicht in einer nationalen Zeitung. Ab Montag begannen die Herausgeber von ThisDay sich für solche Blasphemie öffentlich zu entschuldigen. Aber es nützte ihnen nichts. Am Mittwoch brannten erzürnte Muslime das ThisDay-Büro in Kaduna nieder. Am Donnerstag brachen dort schwere Unruhen zwischen Muslimen und Christen aus; konkret: zwischen Gruppen christlicher und muslimischer meist junger Gewalttäter, die systematisch Wohnquartiere, Kirchen und Moscheen angegriffen. Die Zahl der Opfer betrug offiziell 100 Tote, real wohl weit mehr. Derweil saßen die Beauty Queens im Hilton Hotel in Abuja fest, zwei Autostunden von Kaduna entfernt - beschützt von einem massivem Sicherheitsaufgebot, und unter ständiger Beobachtung der Kameras von CNN und BBC World. Zum Freitagsgebet schließlich brachen auch in Abuja Unruhen aus. Der Mob zog auch hier zum lokalen ThisDay Büro und die Polizei drohte die Kontrolle zu verlieren. Da sagte die Veranstalterin den Rest des Wettbewerbs in Nigeria ab, ließ die Beauty Queens ausfliegen und verlegte den Rest der Veranstaltung nach London (wo niemand, der ernstgenommen werden will, sich weiter um ihn gekümmert hat).

Wie, um Himmelswillen, konnte ein so unsinniger und irrelevanter Event wie der Miss World Beauty Contest eine Krise derartigen Ausmaßes hervorrufen?

Eine Lesart des Konflikts ist: Es handelte sich um den Versuch einer Destabilisierung der Obasanjo-Regierung durch deren Gegner aus dem islamischen Norden im Vorfeld der Wahlen vom Frühjahr 2003. Teile des Nordens hatten Obasanjo 1999 unterstützt, begannen aber bald danach, die Verdrängung des Nordens aus Machtpositionen zu beklagen. Die Krise um den Miss World Wettbewerb erscheint so als Kraftprobe: Auf der einen Seite stand eine Regierung, die (mit vollmundigen Sicherheitsgarantien und beruhigenden Erklärungen zum Sharia-Recht) ihr Prestige für die Durchführung des Miss World Wettbewerbs in die Waagschale geworfen hatte. Auf der anderen Seite standen Religionsführer und Politiker - unter ihnen zumindest ein Gouverneur, nämlich aus Zamfara State - die versuchten, die Grenzen der Regierungsmacht in Nigeria vorzuführen. Und darin waren sie recht erfolgreich. Der fragliche Artikel in ThisDay gab islamischen Führern und Politikern einen Moment lang sozusagen die ideologische Lufthoheit über Nigeria: Öffentlich wagte zunächst niemand mehr, die Empörung über den Artikel infrage zu stellen. Es war wie beim Domino: Der Artikel brachte den Miss World Wettbewerb endgültig in Misskredit, und der Miss World Wettbewerb seinerseits tat dasselbe mit der Regierung, die sich hinter ihn gestellt hatte.

Diese, politische, Lesart des Konflikt erklärt allerdings nicht unbedingt die Unruhen in Kaduna. Verschwörungstheorien sind in Nigeria gang und gäbe, und es lag und liegt der Verdacht nahe, dass die Unruhen von interessierten radikal-islamischen Kreisen gezielt gesteuert wurden. Dies mag so gewesen sein, doch wäre es zu kurz gegriffen, in den Kaduna-Unruhen allein einen Angriff auf Obasanjo zu sehen. Die alte "kosmopolitische" Hauptstadt Nord-Nigerias hat in den vergangenen Jahren mehrere schwere religiöse Unruhen erlebt; am schlimmsten war es im Umfeld der Sharia-Einführung im Frühjahr 2000, als es dort mehr als 1.000 Tote gab. Die Stadt liegt genau an der Grenzzone zwischen muslimischen und christlichen Gemeinschaften, die alle in Kaduna State gebürtig sind. Nach mehreren Gewaltausbrüchen ist die Stadt heute ethnisch und religiös in verfeindete Zonen gespalten - ein Beirut in der Savanne, in dem Wünsche nach Rache für vergangene Morde immer wieder neue Gewalt hervorbringen.

Die Unruhen in Kaduna im November letzten Jahres kosteten viele Menschenleben, blieben aber lokal begrenzt. Politisch schwerwiegender war denn eher auch das Übergreifen der Unruhen (wenn auch in kleinerem Umfang) in die Hauptstadt Abuja.

Abuja war in den 1980er Jahren als neue Hauptstadt und Symbol der nationalen Einheit - quasi auf neutralem Territorium - errichtet worden. Das Konstrukt Abuja bezieht seine Legitimität aus der Idee, dass alle widerstreitenden Gruppen und Interessen Nigerias dort in Frieden miteinander kommunizieren und verhandeln können. Dass die nigerianische Bundesregierung nicht fähig war, die Durchführung des Miss World Wettbewerbs, der immerhin die Sympathie breiter Bevölkerungskreise und eine Schutzgarantie der Regierung hatte, in dieser Hauptstadt sicherzustellen, bedeutete nicht nur eine schwere symbolische Niederlage der Regierung. Sie war auch ein schwerer Schlag für Abuja - denn wenn diese künstliche Hauptstadt nicht zumindest Sicherheit für alle Bewohner des Landes bieten kann, droht ihr Funktionslosigkeit.

Soweit die eher kurzfristige politische Bewertung der Ereignisse. Die Miss World Unruhen vom November 2002 waren ein kritischer Moment für die Regierung, doch haben sie sie nicht dauerhaft destabilisiert. Tatsächlich ist Obasanjo im April 2003 in durchaus umstrittenen Wahlen als Präsident bestätigt worden - das wäre noch einen eigenen Vortrag wert. Stattdessen will ich jetzt auf die Dynamik eingehen, die den weiteren Kontext des Konflikts bildet.

2. Politischer Islam und Einführung des Sharia-Strafrechts

Das historische Kerngebiet Nord-Nigerias - auf der ethnopolitischen Landkarte mehr oder weniger identisch mit der Gruppe der "Hausa und Fulani" - ist seit vorkolonialer Zeit durchweg islamisch. Wie lange und wie sehr islamisch - das ist eine andere Frage, auf die ich noch eingehen werde. Hausa und Fulani machen einen erheblichen Anteil der nigerianischen Bevölkerung aus, vielleicht 25-30%. Unter Einbeziehung Berücksichtigung anderer ethnischer Gruppen in Nord-Nigeria sowie des starken Anteils von Muslimen im südwestlichen Yorubaland, machen Muslime etwa die Hälfte der Bevölkerung Nigerias aus.

Seit den 1970er Jahren gibt es in Nord-Nigeria islamische Erneuerungsbewegungen - parallel zur Entwicklung fundamentalistischer oder islamistischer Strömungen und Bewegungen in der arabisch-islamischen Welt und im Iran, und vielleicht ein wenig verzögert gegenüber dem Nahen Osten. Darunter waren messianistische Bewegungen marginalisierter Muslime, speziell die Maitatsine, die 1980 in Kano einen Aufstand unternahm, der mit massivem Militäreinsatz niedergeschlagen wurde. Politisch wichtiger aber waren die gebildeten islamistischen Gruppen; Organisationen wie die Yan Izala, die dem bekannten Geistlichen Abubakar Gumi nahestand, forderten eine Rückbesinnung auf "wahre" islamischen Werte und wendeten sich gegen als "unislamisch" betrachtete Praktiken der etablierten islamischen Sufi-Bruderschaften, Quadiriyya und Ahmadiyya. Gumi selbst vertrat in der Öffentlichkeit einen selbstbewussten, konservativen Islam. Aus Jugend- und Studentenorganisationen wie der Muslim Student Society gingen zahlreiche gebildete Islamisten hervor, von denen manche im Lauf der Jahre einflussreiche Positionen auch im Staatsdienst einnahmen.

Parallel dazu kam es zu wachsender Politisierung religiöser Fragen nicht nur im Norden Nigerias, sondern auch auf nationaler Ebene. 1978/79, als die Militärregierung erstmals die Macht an eine Zivilregierung abgab (sie hatte nur vier Jahre Bestand), gab es eine kontroverse Verfassungsdiskussion über die Einführung einer islamischen Gerichtsbarkeit auf nationaler Ebene. Ende der 1980er Jahre führte der zunächst geheimgehaltene Beitritt Nigerias zur "Organisation der islamischen Konferenz" zum Verdacht, die Militärregierung wolle in dem Land, dessen Einwohner immerhin rund zur Hälfte Christen sind, den Islam zu einer Staatsreligion erklären. Eine wachsende Zahl von Unruhen mit religiösem Unterton verschärften den Konflikt zwischen den Religionen in Nigeria ebenso wie eine wachsende verbale (und zum Teil auch missionarische) Aggressivität mancher christlicher Kirchenvertreter.

Unter den Militärregierungen blieben die religiösen Gegensätze dennoch begrenzt, weil die jeweiligen Militärchefs selbst eine Eskalation religiöser Fragen fürchteten. Mit dem Ende der Militärregierung Sani Abacha und der Rückkehr zu einer - wie auch immer fragilen - Demokratie im Jahre 1999 haben religiöse Auseinandersetzungen in der nigerianischen Politik eine neue Größenordnung erreicht, weil der demokratische Prozeß eigene Anreize dazu liefert.

Im Herbst 1999 - nur Monate nach dem Regierungsantritt einer gewählten Zivilregierung - kündigte der Gouverneur des Zamfara State, Ahmed Sani Yerima, an, "die Sharia" einzuführen. Mit "Einführung der Sharia" war konkret die Einführung des Sharia-Strafrechts gemeint, denn die zivilrechtliche Dimension des islamischen Sharia-Rechts bildete in Nord-Nigeria ohnehin die Grundlage der Rechtsprechung an den sogenannten "Area Courts", d.h. die unterste Ebene der Rechtsprechung.

Die Einführung der "vollständigen" Sharia (oder ihre Wieder-Einführung, wie viele es heute sehen) umfaßte also speziell das durch mehrere islamische Rechtsschulen kodifizierte Sharia-Strafrecht. In Nigeria gilt gemeinhin die Interpretation der Maliki-Rechtsschule. Sie sieht u.a. die Prügelstrafe als Strafe für Alkoholgenuss, die Amputation der Hand als Strafe für Diebstahl, sowie die Steinigung als Strafe für Ehebruch vor (die in Nigeria sogenannten "hudud"-Strafen, etwa für den "zina" genannten strafrechtlichen Tatbestand des illegitimen Geschlechtsverkehrs). All dies gilt ausdrücklich nur für Muslime. Verfahren gegen Andersgläubige können allenfalls mit deren Zustimmung vor Sharia-Gerichten geführt werden.

Passend zum christlichen Millenium, trat die Sharia in Zamfara State im Januar 2000 in Kraft. Innerhalb eines Jahres folgten 11 weitere (von insgesamt 36) Bundesstaaten. Die Sharia-Staaten (wie sie verkürzend genannt werden) umfassen fast den gesamten Norden Nigerias. In einigen von ihnen leben auch große christliche Gruppen, Ortsansässige ebenso wie Migranten. Die politische und soziale Dynamik der Sharia-Einführung verdient genauere Betrachtung. In Zamfara, dem Vorreiter-Staat, ging die Initiative vom Gouverneur aus - er gehört zu einer Generation relativ junger Politiker, der das Sharia-Thema offenbar zum Karriere-Motor gemacht hat. Aber solch ein populistischer Opportunismus bei der Sharia-Einführung war vergleichsweise selten. In fast allen anderen Bundesstaaten standen nicht nur die Gouverneure (also die gewählten politischen Amtsinhaber), sondern auch die etablierte islamische Aristokratie (die nach wie vor mächtigen Emire, die traditionellen Herrscher) der Einführung der Sharia mit Skepsis gegenüber - zu unkalkulierbar erschien ihnen die Bewegung. Allerdings gab es großen öffentlichen Druck auf zögernde Gouverneure, bis hin zu physischen Angriffen etwa auf den Gouverneur von Kano State. Tatsächlich war die Einführung der Sharia, nachdem sie einmal begonnen hatte, außerordentlich populär. Über das Land zog eine Welle der Sharia-Begeisterung. Zigtausende reisten über hunderte von Kilometern zur offiziellen Einführungsfeier nach Zamfara State. Der Londoner Ethnologe Murray Last, seit Jahrzehnten ein ausgewiesener Kenner Nord-Nigerias, bereiste im Frühjahr/Sommer 2000 den Norden und beschrieb ein fast millenarisches Klima: Für die große Masse der armen Bevölkerung des Nordens, von denen viele über keine moderne Schulbildung verfügen, knüpfte sich an die Einführung der Sharia vor allem die Hoffnung auf Gerechtigkeit: die Erwartung auf Eindämmung von Kriminalität und Amtsmißbrauch, auf den Zugang zu Recht an den notorisch korrupten lokalen Gerichten, schlicht: die Hoffnung auf eine moralische Neuordnung eines seit 20 Jahren von Krisen geschüttelten Gemeinwesens im Zeichen des Islams und der "Rückkehr" zu seinen wahren Werten.

Die Popularität der Sharia beruht - es ist fast trivial dies festzustellen - auf der tiefgreifenden Krise der modernen nigerianischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse. Weniger trivial ist die Feststellung, dass zumindest einzelne Mitglieder derselben politischen Klasse das Sharia-Thema dennoch als Karriere-Vehikel benutzen konnten. Jedenfalls konnte sich in den Jahren 2000/2001 keiner der gewählten oder traditionellen Machthaber in Nord-Nigeria der Sharia-Welle widersetzen; doch vorangetrieben wurde sie nur von einigen politischen Populisten, unterstützt vom niedrigen islamischen Klerus sowie radikalen islamischen Gruppen. Auch in der Krise um den Miss World Wettbewerb wurde das populistische Spiel noch einmal deutlich, als der stellvertretende Gouverneur von Zamfara State von Zamfara State eine "Fatwa" gegen die Autorin des inkriminierten ThisDay-Artikels ausrief und sie mit dem Tode bedrohte. Allerdings wurde er von vielen Seiten - auch von zahlreichen islamischen Gelehrten - ob dieser Anmaßung zurückgepfiffen.

Es ist eine durchaus offene Frage, ob die Populisten den Tiger, den sie losgelassen haben, längerfristig noch werden reiten können - wenn nämlich eine absehbare Enttäuschung über die mangelnden Erfolge der Sharia bei der Durchsetzung von Gerechtigkeit in dieser Welt zutage tritt. Derzeit sind allerdings keine noch Anzeichen dafür spürbar, dass sich die populäre Unterstützung der Sharia abschwächt, oder dass sie sich gegen die Regierenden selbst wenden könnte. Und wenn - glücklicherweise, möchte ich sagen - die Sharia (bzw. ihre "unzureichende" Umsetzung) in den Wahlen im Frühjahr 2003 auf nationaler Ebene keine wirklich wichtige Rolle gespielt hat, so hat sie doch zumindest in einem Bundesstaat im Norden - Kano - zu einem politischen Wechsel beigetragen.

3. Debatten um die Sharia

Ich will jetzt auf Debatten eingehen, die in Nigeria um die Sharia geführt werden. Zunächst einmal die Diskussionen auf nationaler Ebene - also letztlich zur Frage: "Sharia - ja oder nein?". Später komme ich dann auf einige Aspekte der Diskussion innerhalb der muslimischen Gemeinschaft zu sprechen, also Debatten zur Frage: "Sharia ja - aber wie?" Zunächst also zur Debatte auf nationaler Ebene. Hier treffen ausgesprochen konträre Positionen aufeinander. Von Seiten der Befürworter heißt es, die Einhaltung der Sharia sei Pflicht und zugleich fundamentales Recht aller Muslime. Neben der religiösen Begründung steht die juristische: Die nigerianische Verfassung erlaubt den Bundesstaaten die Einrichtung (oder auch Abschaffung) bestimmter Typen von Gerichten. Dies trägt - wie auch sonst in Afrika weit verbreitet - dem de facto existierenden Rechtspluralismus Rechnung, der staatlichem und Gewohnheitsrecht eigene Sphären und oft auch eigene Gerichtsbarkeiten zugesteht. Allerdings lässt sich die Sharia nicht vollständig dem Gewohnheitsrecht subsumieren, denn letzteres ist im Konfliktfall eindeutig dem staatlichen Staat untergeordnet. Für die Sharia ist dies dem Anspruch nach - als Gott-gegebenes Gesetz - nicht der Fall; in der Praxis ist dieser Widerspruch noch nicht höchstgerichtlich entschieden worden.

Viele Gegner - im wesentlichen Christen und Süd-Nigerianer - stereotypisieren die Sharia-Einführung als Ausdruck der "Rückständigkeit des Nordens". Oft sprechen sie von einer "politischen Sharia", die - wie im beim Miss World Wettbewerb - auf Destabilisierung einer erstmals von einem Süd-Nigerianer geführten Regierung abziele. Nicht nur Sprecher christlicher Kirchen kritisieren die Sharia als Einführung einer "Staatsreligion" in den jeweiligen Bundesstaaten. Letzteres stünde klar im Gegensatz zur Verfassung, die Nigeria als säkularen Staat definiert. Viele Moslems betrachten umgekehrt das Konzept des säkularen Staats selbst als ein westlich-christliches Konzept - entweder als Ausdruck von Gottlosigkeit oder aber als Ausdruck christlicher Dominanz im Staatsverständnis. Wie schon beim Miss World Wettbewerb finden sich hier auch christliche Stimmen: Säkularismus impliziere Gottlosigkeit; die Verfassung solle Nigeria besser als einen "multi-religiösen Staat" definieren.(3) Schließlich argumentieren vor allem Menschenrechtsorganisationen, dass die "hudud"-Strafen gegen diverse in der nigerianischen Verfassung garantierten Menschenrechte sowie gegen internationale Menschenrechtsabkommen verstößt, die auch die nigerianische Regierung unterzeichnet hat. Zur Zeit läuft gerade eine Auseinandersetzung um die vom Präsidialamt angestrebte Abschaffung der Todesstrafe in Nigeria. Gegen die Abschaffung argumentieren nicht nur klassische Vertreter von Law and Order, die die Todesstrafe zur Abschreckung für unentbehrlich halten, sondern gerade auch der Nigerian Supreme Council for Islamic Affairs, dessen Vorsitzender die geplante Abschaffung jüngst als Angriff auf das Recht der Muslime auf freie Religionsausübung kritisierte.(4)

Konkrete Konflikte um die Sharia entzünden sich an einigen herausragenden Gerichtsurteilen sowie an den Auswirkungen der Sharia-Implementierung auch auf nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen in Nord-Nigeria. Zunächst zu den Gerichtsurteilen. Es hat bereits einige Verurteilungen zu Amputationen wegen Diebstahls gegeben, sowie Prügelstrafen. Diese Urteile wurden und werden ohne weitreichende nationale oder internationale Proteste umgesetzt, trotz gängiger Kritik daran, dass sie gegen gängige Menschenrechte verstoßen. Große Aufmerksamkeit haben dagegen zwei Urteile gegen Frauen erhalten, die wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs - sie waren nach einer Scheidung schwanger geworden - zum Tod durch Steinigung verurteilt wurden. Das erste der beiden Urteile - gegen Safiyat Husseini - wurde bereits im Frühjahr 2002 von der Folgeinstanz aufgehoben, allerdings aus rein formalen Gründen. Das zweite Urteil - gegen Amina Lawal - erging ebenfalls im Frühjahr 2002; es wurde zweitinstanzlich bestätigt und befand sich ein Jahr lang in der Revision. Am 25. September 2003 wurde Amina Lawal vor dem Katsina State Sharia Court of Appeal endgültig freigesprochen - wie es scheint, wiederum aus formalen Gründen. Allerdings ist absehbar, dass ähnlich gelagerte Fälle in Zukunft Justiz und Öffentlichkeit weiter beschäftigen werden.

Die Fälle Husseini und Lawal haben zu Recht massive Proteste hervorgerufen, in Nigeria wie international. Die Empörung entzündet sich nicht nur an der Tatsache, dass Menschen für eine Handlung zum Tode verurteilt werden können, die ansonsten - wenn überhaupt - allenfalls als gängiges minderes Vergehen behandelt wird. Sie entzündet sich auch und vor allem an der inhärenten Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, denn nur eine Schwangerschaft gilt als wirklich starkes Beweismittel. Dies hat den Fall Amina Lawal zu einer cause celčbre der internationalen Menschen- und Frauenrechtsbewegung werden lassen. Dies hat leider einige problematische Auswüchse mit sich gebracht: Monatelang kursierten im Internet Aufrufe zu Protestschreiben an die nigerianische Regierung, in denen zu lesen war, dass die Steinigung Amina Lawals unmittelbar bevorstehe. Das war definitiv falsch. Kampagnen, die auf solchen Fehlinformationen beruhen, sind kontraproduktiv, weil sie Trotzreaktionen auf nigerianischer Seite zu provozieren drohen. Amina Lawal wurde von Anwältinnen und Frauenrechtsorganisationen in Nigeria kompetent vor Gericht vertreten, und BAOBAB, eine der an der Verteidigung beteiligten Frauenorganisationen, hat vor einigen Monaten dringend vor solchen Kampagnen gewarnt. Dahinter steht nicht zuletzt die Befürchtung, solche Kampagnen könnten islamische Radikalen dazu provozieren, instant justice qua Lynchmord zu üben.(5)

Neben solchen Gerichtsurteilen entzünden sich Konflikte oft an den Auswirkungen der Sharia-Einführung auf nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen in Nord-Nigeria. Zwar wird die Sharia vor Gericht nicht auf Christen angewandt.(6) Als Ausdruck eines islamischen way of life hat sie dennoch Auswirkungen auf Lebensweise und Ökonomie christlicher Gruppen im Norden, seien sie Einheimische oder Migranten. Geschlechtertrennung bei öffentlichen Verkehrsmitteln betrifft Frauen aller Religionsgruppen; das Verbot von Alkoholverkauf und Prostitution gefährdet die wirtschaftliche Basis zahlreicher Migranten aus dem Süden, v.a. Igbo aus dem Südosten, die viele "Hotels" unterhalten. In Kano etwa sind sie auf die Sabon Gari, ein Migrantenstadtviertel beschränkt. Andernorts wurden "Mammy Markets" auf Kasernengelände, das dem Bundesrecht untersteht, geschaffen. Dort sind die neuen Zentren des Nachtlebens in Nord-Nigeria entstanden, und die schlecht bezahlten Soldaten verbessern durch Vermietung ihre Einnahmen auf. Diese Entwicklungen werden national stark wahrgenommen und im Süden Nigerias als Diskriminierung kritisiert (manchmal auch wegen ihres Pragmatismus gelobt). Weit weniger nationale Aufmerksamkeit erhalten die Aktivitäten der sogenannten "Hisbah", d.h. islamischer Wächter oder Milizen, die teilweise staatlich organisiert, teils unabhängig sind, und deren Aktivitäten sich oft gegen als unislamisch betrachtete Aktivitäten und Subkulturen (etwa von Jugendlichen oder Anhängern traditioneller Kulte wie dem Bori) innerhalb der muslimischen Gemeinschaft selbst richten.

Soweit zu den Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene - vor allem zwischen Christen und Muslimen - zur Grundsatzfrage "Sharia - ja oder nein?". Innerhalb der muslimischen Gemeinschaft selbst - zumal in den islamischen Kerngebieten im Norden - wird eine solche Grundsatzfrage nicht gestellt, schon gar nicht öffentlich. Der Konsens darüber, dass die Sharia zu Recht eingeführt wurde, ist derzeit fast allumfassend. Derzeit ist es für niemanden, der öffentliche Wirkung erzielen will, opportun, sich diesem Konsens und damit eventuell einhergehenden Denkverboten zu widersetzen. Das bedeutet jedoch keineswegs, alle Debatten seien beendet - im Gegenteil. Die Sharia-Einführung selbst eröffnet eine neue Arena für durchaus kontroverse Diskussionen in der muslimischen Gemeinschaft: "Sharia ja - aber wie?"

Ich selbst bin kein Arabist oder Experte für islamisches Recht und kann diese Debatten nur summarisch darstellen, so wie ich sie aus Gesprächen, Zeitungsartikeln und vor allem Konferenzen kenne. (Auch vermute ich, dass es ähnliche Debatten in vielen anderen islamischen Ländern gibt.) Für mich werden in diesen Diskussionen folgende Grundlinien erkennbar:
  1. Offenbar als Reaktion auf die Sharia-Kritik von Menschenrechtsorganisationen werden zahlreiche Versuche unternommen, die islamischen Grundlagen der Menschenrechte aufzuzeigen. Meist erfolgt dies als direkte "Ableitung" aus Koran und anderen Rechtsquellen. So werden Islam und Sharia in ihrer Gesamtheit geradezu zum Inbegriff der Sicherung grundlegender Menschenrechte. Es gibt hier offenkundig eine ganze Bandbreite von Argumentations- und Interpretationsmöglichkeiten und damit Themen für Kontroversen.
  2. Vielfach ist Kritik an einer mangelhaften Implementierung der Sharia zu hören. Dies betrifft nicht etwa nur eine rein politische Kritik an einer "unvollständigen Einführung". Vielmehr richtet sich die Kritik häufig auf die Realität der Sharia-Gerichte, die zwar im Prinzip gut und richtig sein, in der Praxis aber die an sie gerichteten Erwartungen (auf schnellen, fairen und nichtkorrupten Zugang zu Recht) nicht erfüllen. Ein Grund dafür liegt schlicht in der Tatsache, dass die Sharia-Gerichte vielerorts nicht mehr als umfunktionierte Area Courts sind, und dass deren Personal oft übernommen und nicht adäquat ausgebildet wurde.
  3. Insbesondere richtet sich dieser Kritikstrand auf die mangelhafte Berücksichtigung der prozeduralen Regeln des Sharia-Strafrechts, die zu unqualifizierten Urteilen führen. Islamische Rechtsexperten, Juristen und selbst Politiker (wie etwa Zamfara State-Gouverneur Ahmed Sani kürzlich im BBC "Hard Talk") argumentieren, dass die Beweisregeln speziell für "zina"-Vergehen und "hudud"-Strafen, in Fällen wie Amina Lawal, außerordentlich restriktiv sind. So muss es beispielsweise vier Zeugen geben, die den inkriminierten Vorgang persönlich beobachtet haben. Bis zu fünf Jahren nach einer Scheidung kann der geschiedene Mann immer noch als Vater gelten und ein Kind wäre somit nicht "außerehelich". Rechtsexperten unter Sharia-Befürwortern konzedieren üblicherweise, dass es "eigentlich" nur bei nicht-adäquater Anwendung dieser Regelungen und bei unzureichender Ausnutzung von Rechtsmitteln überhaupt zu einer Verurteilung kommen könne, und dass Urteile wie die gegen Safiyat Husseini und Amina Lawal überhaupt nur ergehen konnten, weil die Richter an unteren Sharia-Gerichten nicht über hinreichende Qualifikationen verfügen, um diese Verfahrensregeln adäquat zu berücksichtigen.
  4. Eine weiter gehende Linie der Kritik beruht auf dem Argument, es sei unangebracht, die Sharia als Strafrecht vollständig einführen, solange die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für eine wahrhaft islamische Gesellschaft nicht erfüllt seien. Solange es Armut und Unwissenheit gebe, könnten Menschen sich nicht immer den Idealen des islamischen Staats entsprechend verhalten, und ihre Vergehen dürften dementsprechend auch nicht strikt nach Sharia-Regeln beurteilt werden. Eine radikale Version dieses Arguments vertritt der bekannte Schiitenführer Ibrahim al-Zakzaky, der die Einführung der Sharia für Nigeria in seinem heutigen staatlichen Rahmen überhaupt ablehnte.
  5. Besonders interessant erscheinen mir einige Versuche, durch Bezugnahme auf die Sharia sozusagen emanzipatorische Inhalte durchzusetzen. Die Muslim Sisters in Kano haben eine Ableitung von Menschenrechten aus dem Koran und anderen Rechtsquellen erarbeitet, die besonderen Wert auf Frauenrechte legt, auch wenn ihr Konzept von Frauenrechten nicht unbedingt mit dem der Heinrich-Böll-Stiftung übereinstimmt. Auf einer Konferenz dieses Frühjahr, die wir unterstützt haben, konnte ich beobachten, wie Vertreterinnen von Frauengruppen aus Jigawa State die versammelten Rechtsexperten um Rat dazu angingen, wie sie für ihre Sozialprojekte den Zugriff auf vom Zakat-Komitee verwalteten Ressourcen erhalten könnten. Eine andere auf derselben Konferenz geäußerte Idee war die Institutionalisierung einer Art "Ombudsman", wie es ihn im Sokoto Kalifat gab, und dessen Aufgabe die Überwachung der religiösen und politischen Korrektheit der Herrschenden war. Ein junger, in Harvard ausgebildeter Anwalt, war gerade dabei, eine entsprechende Gesetzesvorlage für Kano State zu erarbeiten. Es bleibt natürlich abzuwarten, ob solche Ideen durchsetzungsfähig sind; klar ist aber, dass das von der Sharia-Einführung geschaffene Umfeld kreative Ideen über soziale und politische Reform nicht etwa nur erstickt, sondern in ganz eigene Wege lenkt.
  6. Bemerkenswert schließlich erscheinen mir die vor allem von Intellektuellen unternommenen Versuche, die Sharia nicht nur religiös - als quasi-Grundrecht und way of life der Muslime - zu begründen, sondern über eine weitgefasste historisch-politische Argumentationslinie. Diese findet sich inzwischen in zahllosen Papers und Publikationen aus dem Universitätsmilieu des Nordens. Sie geht mit eine Re-Interpretation der Regionalgeschichte einher.(7)
Der akademischen Mainstream-Geschichtsschreibung zufolge drang der Islam über mehrere Jahrhunderte sukzessive in die Region ein, vermittelt über die transsaharischen Handelswege. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam es zum Jihad Usman dan Fodios, der die Islamisierung weiter vorantrieb, islamische Kleriker an der Staatsspitze verankerte und mit dem Sokoto-Kalifat eines der großen Reiche seiner Zeit begründete. In der Folgezeit wurde das Kalifat durch interne politische Konflikte geschwächt, was die koloniale Eroberung durch die Briten zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichsweise einfach machte. Die Briten etablierten in Nord-Nigeria ein Paradebeispiel indirekter Herrschaft, das vorkoloniale Herrschafts- und Administrationsstrukturen weitgehend intakt ließ. Selbst das islamische Recht hatte im zivilrechtlichen Bereich bestand, teilweise auch im Strafrecht. Allerdings wurden einzelne menschenunwürdige Formen der Bestrafung (Amputationen, Steinigung) abgeschafft; und nach islamischem Recht urteilende Gerichte durften keine Todesstrafe verhängen.

Dieser Mainstream-Geschichtsschreibung setzt die neue islamische Geschichtsbetrachtung, wie sie im heutigen Nord-Nigeria sehr populär ist, deutlich andere Akzente entgegen. Ihr zufolge war die Region im Prinzip schon seit langem im Grundsatz islamisch, und Usman dan Fodio etablierte einen wahrhaft islamischen Staat, in dem die Sharia so "vollständig" implementiert war wie nirgendwo sonst außerhalb der arabischen Welt. Entsprechend habe dort ein hohes Maß an Sicherheit und Gerechtigkeit geherrscht. Die Briten schränkten das islamische Rechtssystems ein und zerstörten damit die Grundlage der islamischen Gesellschaftsordnung. Die Krise der Gegenwart wird so als Degeneration verstanden - als Folge des Abweichens vom wahren Islam. Aus dieser Sicht führt eine direkte Linie vom Jihad Usman dan Fodios im frühen 19. Jahrhundert zur Wiedereinführung der Sharia-Strafrechts im Jahr 2000, die damit auch zum Ausdruck einer vollständigen Entkoloniserung und politisch-kulturellen Unabhängigkeit wird.

4. Schlussbemerkung: Was tun?

Zum Abschluss möchte ich einige praktisch-politische Überlegungen zur Diskussion stellen. Wie kann und soll sich eine politische Stiftung - eine grün-nahe politische Stiftung zumal - im Konflikt um die Sharia in Nigeria verhalten?

Wir, d.h. das Länderbüro in Lagos, haben uns entschlossen, uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Grundsatzdebatten zur Frage "Sharia - ja oder nein", zur Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit usw. einzumischen. Über die Fragen erscheint Annäherung derzeit so wenig herbeiführbar, dass man eigentlich nur davor Angst haben kann, es könne wirklich eines Tages zu einer abschließenden Entscheidung des Supreme Court kommen. Diese wäre nämlich wohl nur als Sieg einer Seite denkbar, was den Konflikt nur weiter eskalieren lassen würde. Stattdessen wird es wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass die Grundsatzfragen längerfristig unentschieden bleiben. Nigeria hat zahlreiche Konflikte durch Aussitzen - freundlicher: "muddling through" - zwar nicht gelöst, aber doch einigermaßen unter Kontrolle gehalten. Das könnte in puncto Sharia auch so geschehen.

Statt fruchtlos über Grundsatzfragen zu verhandeln, haben wir uns entschlossen, zwei andere Ziele in den Vordergrund zu stellen, die eher konsensfähig erscheinen: Erstens, ein Fokus auf Menschenrechte und Rechtssicherheit; zweitens, Beiträge zur De-Eskalation des politischen Konflikts um die Sharia durch "vertrauensbildende Maßnahmen".
  • Wir unterstützen seit Ende letzten Jahres eine Reihe von Konferenzen, die einerseits Menschenrechtsorganisationen (die vor allem im Süden des Landes beheimatet sind) und andererseits Spezialisten für öffentliches oder islamisches Recht aus Universitäten und auch Richter an nordnigerianischen Gerichten an einen Tisch bringen. Ziel dabei es, die Aufmerksamkeit auf Durchsetzung der Menschenrechte und des "Zugangs zu Recht" ("access to justice") zu lenken. Dabei werden Fragen der Sharia-Rechtspraxis, der anzuwendenden prozeduralen Regeln, aber auch die problematischen Rahmenbedingungen (Armut; Unwissenheit; geringe Qualifizierung von Richtern an Sharia-Gerichten) thematisiert. Damit werden die Ansprüche und Hoffnungen vieler Sharia-Befürworter ernst genommen, der Sinn für die real vorhandenen Defizite wird geschärft; damit, so hoffen wir, werden Anstöße für praktische Verbesserungen gegeben.(8)
  • Diese Konferenzen dienen zugleich auch als vertrauensbildende Maßnahmen. Üblicherweise stehen sich Menschenrechtsorganisationen und islamische Rechtspezialisten voller Mißtrauen gegenüber, da sie sich in der Sharia-Frage zunächst einmal als politisch motivierte Gegner wahrnehmen. Allein die Erkenntnis, dass die jeweils andere Seite ebenfalls über akzeptable Ziele und Maßstäbe zur Begründung der eigenen Position verfügt, ist angesichts der politischen Polarisierung schon ein gewisser Erfolg. Über begrenzte Zielsetzungen - Achtung der Menschenrechte als Grundprinzip, Verbesserung der Rechtssicherheit für die Bevölkerung - lässt sich eher Einigung herbeiführen, wenigstens in Teilbereichen. Zu den vertrauensbildenden Maßnahmen, die wir fördern, gehört auch die Unterstützung eines Informations- und Dokumentationsbüros in Kano, das Mitte des Jahres seine Arbeit aufgenommen hat und aus einer liberalen islamischen Perspektive und mit sozialwissenschaftlicher Unterfütterung über die Lage und Ereignisse in den Sharia-Staaten in Form kleiner Studien, Newsletter usw.(9)
Längerfristig hoffen wir auch, Bildungsmaßnahmen zur Förderung von Frauenrechten in den Sharia-Staaten selbst zu fördern - in Analogie zu Projekten, die wir im Süden bereits seit langem und mit einigem Erfolg unterstützen.(10) Eine Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen, die wirklich in den Sharia-Staaten verankert sind, ist allerdings schwierig, vor allem bei der Mehrheit religiös gebundener Organisationen. (Das ist bei kirchlich gebundenen Frauenorganisationen in christlichen Regionen deutlich anders). Ein indirekter Zugang zur Frauenrechts-Problematik ist im islamischen Raum oft notwendig. Im islamischen Norden besteht allerdings selbst schon ein großes Misstrauen gegen Interventionen westlicher Geber generell, und speziell dann, wenn sie Frauenrechts-Konzepte über Themen wie "reproductive health" / "reproductive rights" zu vermitteln suchen. Dahinter wird oft eine Verschwörung des Westens zur Reduktion der muslimischen Bevölkerung vermutet.(11) Wir selbst unterstützen inzwischen zumindest ein Projekt im Norden - im Bundesstaat Gombe - das thematisch an der Schnittstelle zwischen Gesundheitspolitik und einem anderen Schwerpunktthema der Stiftungsarbeit, nämlich dem Budget Monitoring (der Herstellung von Transparenz in öffentlichen Haushalten und Ausgaben) angesiedelt ist. Wir werden sehen, ob sich auf diese sehr indirekte Weise ein wenig zur Stärkung von Frauenrechten in den Sharia-Staaten beitragen lässt.

Als letztes noch eine Anmerkung dazu, was wir nicht tun können und werden: Trotz häufiger Nachfragen aus Kreisen islamischer Juristen unterstützen wir keine regelrechten Fortbildungsmaßnahmen für Richter an unteren Sharia-Gerichten. Solche Maßnahmen könnten dem Ziel dienen, die Qualifikation der Richter in der Anwendung des Sharia-Rechts und seiner prozeduralen Details zu verbessern. So ehrbar und nachvollziehbar solche Anfragen auch sind, wäre es für eine deutsche politische Stiftung, zu deren Kernidentität die Förderung von Frauenrechten und "Gender-Demokratie" (wie wir es nennen) gehört, unakzeptabel, den Ausbau eines Rechtssystems aktiv zu unterstützen, das - jedenfalls im Prinzip - immer noch schwangeren geschiedenen Frauen den Tod durch Steinigung androht. Das gilt auch dann, wenn solche Trainingsmaßnahmen letztlich genau darauf zielen, solche Urteile zu verhindern. An diesem Punkt findet dann auch aus meiner Sicht der Kulturrelativismus seine Grenzen.

Fußnoten
  1. Barber war übrigens auch skeptisch über die Erfolgschancen von Demokratieförderung unter solchen Bedingungen - also eine der Aufgaben, mit denen ich derzeit in Lagos befasst bin.
  2. Das Präsidialamt sagte allerdings nicht, was es zu tun gedenke, falls das Urteil vor den Gerichten wider Erwarten Bestand haben sollte.
  3. Das Parlament des Cross River State im Südosten drohte bereits Ende 1999, den Bundesstaat zu einem "christlichen Staat" zu erklären.
  4. Vielleicht treibt der Präsident die Abschaffung der Todesstrafe tatsächlich vor allem deshalb voran, um der Gefahr weiterer "hudud"-Todesstrafen vor Sharia-Gerichten ein für allemal zu begegnen.
  5. In diesem Zusammenhang war die Verleihung eines Menschenrechtspreises an Safiyat Husseini im vergangenen Jahr, ausgerechnet in Rom (!), wenig hilfreich und hat die Sicherheit der Betroffenen eher gefährdet als ihr genutzt.
  6. Ein Extremfall, allerdings rein hypothetisch, wäre der Tatbestand der Apostasie - wenn ein Moslem seiner Religion abschwört und etwa zum Christentum konvertiert, um einer eventuellen Verurteilung vor einem Sharia-Gericht zu entgehen. Dem klassischen Verständnis von Sharia nach wäre dies ein Kapitalverbrechen. Entsprechend drastische Szenarien finden sich manchmal in der öffentlichen Diskussion. Allerdings findet sich m.W. in keinem der Sharia Penal Codes aus Nord-Nigeria ein entsprechender Apostasie-Paragraph. Offenbar haben die Verfasser der Codes eine solche Regelung, die dem Grundrecht auf freie Wahl der Religionszugehörigkeit unmittelbar widerspräche, nicht aufgenommen - ob aus Rücksicht auf die nigerianische Verfassung oder aus anderen Erwägungen, sei dahingestellt.
  7. Argumentationsstränge und zitierte historischen Quellen sind in verschiedenen Arbeiten oft sehr ähnlich. Es wäre eine Untersuchung wert, die Entstehungsgeschichte dieser historischen Re-Interpretation (vermutlich seit den 1970er Jahren) eingehender zu verfolgen.
  8. Auch haben wir versucht, durch Einladung von Experten und ExpertInnen aus anderen islamischen Ländern in Afrika, die die Sharia nicht in der in Nigeria praktizierten Weise implementieren, andere Möglichkeiten der Gestaltung einer islamischen Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Ich muss allerdings zugeben, dass letzteres zunächst gescheitert ist, da der Verweis etwa darauf, dass eine größtenteils islamische Gesellschaft wie der Senegal mit einem bürgerlichen Gesetzbuch auskommt, aus Sicht nigerianischer Sharia-Befürworter nur bedeutet, dass der Senegal eben deshalb keine wirklich islamische Gesellschaft sei.
  9. Ein Großteil der nigerianischen Presse konzentriert sich im Süden und ist tendenziell, wenn nicht explizit, Sharia-kritisch; auch der Löwenanteil der internationalen Berichterstattung bezieht seine Informationen aus diesem Umfeld. Wir hoffen, mit dem Informationsbüro einen gewissen Kontrapunkt zur unausgewogenen Berichterstattung über die Sharia zu setzen, die vor allem über die Skandal- (oder "skandalisierten") Fällen wie Amina Lawal berichtet und darüber die weiteren Probleme, aber auch Reformansätze, die sich aus der Sharia-Einführung und dem von ihr geschaffenen politischen Klima im Norden ergeben, übersieht.
  10. Im Süden geht es dabei vor allem um Formen der Frauendiskriminierung im gewohnheitsrechtlichen Bereich - das Spektrum der Probleme reicht von Witwenrechten bis zur Genitalverstümmelung.
  11. Das hat teilweise fatale Auswirkungen: Dem Erfolg der aktuellen Anti-Polio-Kampagne der WHO droht Gefahr aufgrund von Gerüchten, die Impfungen seien selbst krankheitserregend und/oder hätten empfängnisverhütende Wirkungen.
* Dr. Axel Harneit-Sievers ist der Leiter des Länderbüros Nigeria der Heinrich-Böll-Stiftung, Lagos

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