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Gewalt destabilisiert Nigeria

Präsident Goodluck Jonathan sucht Hilfe bei Nachbarländern

Von Christian Selz, Kapstadt *

In der Hauptstadt Abuja fuhr der Selbstmordattentäter am letzten Donnerstag im April seinen mit Sprengstoff beladenen Wagen direkt bis an die Rezeption der Zeitung This Day. Drei Tage später explodierten während der Sonntagsmesse auf dem Universitätsgelände der nordnigerianischen Stadt Kano Bomben mehrere Bomben, in der Stadt Maiduguri im Nordosten des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas eröffneten bewaffnete Attentäter in einer Kirche ihr tödliches Gewehrfeuer. Die Auflistung ist nicht vollständig, sie wird beinahe täglich durch neue Terrorakte erweitert. Über hundert Menschen sind so in den vergangenen anderthalb Wochen gestorben. Auch wenn die Op­ferzahlen größtenteils ungesichert sind, wird deutlich, daß die trügerische Ruhe, die in Nigeria nach den Anschlägen der islamistischen Gruppe Boko Haram im Dezember und Januar herrschte, vorbei ist. Das Land wirkt instabiler denn je, und es stellt sich die Frage, wer von dieser Situation profitiert.

»Das Ausmaß der Gewalt ist solange nicht gestiegen, bis der gegenwärtige Präsident erklärt hat, daß er zu den Wahlen antreten werde«, führt Andrew Owoye Azazi die Gewaltwelle auf die Wiederwahl des Präsidenten Goodluck Jonathan im April 2011 zurück. Azazi ist dabei nicht irgendein Beobachter, er ist Nationaler Sicherheitsberater, von Jonathan 2010 selbst auf den Posten berufen. Azazi spricht von einer »Politik des Ausschließens«, die mächtige Kreise im muslimisch dominierten Norden des Landes an den Rand gestellt und schließlich zur Gewalt habe greifen lassen. Diesbezügliche Drohungen hatte es bereits vor Jonathans Wiederwahl gegeben, auch wenn heute von den Hintermännern nicht mehr die Rede ist und Boko Haram als relativ anonyme Gruppierung die Verantwortung für die Terroranschläge übernimmt.

Jonathan hatte das Präsidentenamt 2010 nach dem Tod seines Vorgängers Umaru Yar’Adua übernommen und in den Augen der nördlichen Eliten das ungeschriebene Gesetz gebrochen, nach dem sich bei allen Wahlen christliche und muslimische Kandidaten an der Staatsspitze abwechseln. Seine Schwäche beruht allerdings nicht nur auf der Vielzahl seiner unter religiösem Vorwand agierenden Feinde: Jonathan hat auch mit neoliberalen Marktöffnungen die trotz der großen Bodenschätze bitterarme Bevölkerung des Landes gegen sich aufgebracht – ganz unabhängig von deren religiösen Überzeugungen. Zum Jahreswechsel hatten tagelange Proteste gegen die Rücknahme von Benzinsubventionen das Land lahmgelegt. Diese garantierten einerseits günstige Transport- und Nahrungsmittelkosten, unterhielten andererseits aber auch ein gigantisches Netzwerk von korrupten Politik- und Wirtschaftszirkeln – ein kürzlich veröffentlichter Bericht spricht von Veruntreuungen von umgerechnet über fünf Milliarden Euro. Ähnlich dürften die Interessen bei den Agrarimporten gelagert sein. Nigeria gibt jährlich über sechs Milliarden Euro für Reis, Weizen, Zucker und Fisch aus, während 60 Prozent der eigenen Ackerfläche brachliegen. Die Öffnung der Märkte verdrängt die verarmten Kleinbauern noch weiter, während reiche Eliten über dunkle Kanäle an den Lizenzvergaben für Importe verdienen sollen. In der Konsequenz kämpft Jonathan damit gegen zwei Gruppen gleichzeitig: Die mittellose Bevölkerung und die einflußreiche Herrschaftselite samt deren internationalen Verbündeten, vornehmlich aus der Ölindustrie.

Für eine starke Rolle im Kampf gegen den Terror, die vom Präsidenten vor allem aus der Armee immer vehementer gefordert wird, scheint Jonathan zu schwach. Daran ändert auch die eilige Wiederaufnahme von Gesprächen mit den Nachbarländern über eine Wiedereinsetzung der multinationalen Sicherheitstruppe der Kommission des Tschadsee-Beckens wenig. Sollte Boko Haram Nigeria tatsächlich zerreißen, droht zwar auch den Nachbarn wirtschaftliches und sicherheitspolitisches Unheil, doch ob die internationale Zusammenarbeit eine schnelle Antwort geben kann, scheint dennoch fraglich. Die 1998 formal gegründete Truppe hat real bis heute nie existiert.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Mai 2012


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