Dörfer zwischen den Fronten
In Nigeria hat sich die Boko Haram mit brutalen Anschlägen zurückgemeldet
Von Christian Selz *
Bei Überfällen der radikal-islamistischen Sekte Boko Haram sind in Nordostnigeria am vergangenen Wochenende mindestens 56 Menschen getötet worden. Augenzeugen berichteten in lokalen Medien von während des Morgengebets in der Moschee niedergeschossenen Gläubigen und zahlreichen Dorfbewohnern mit zusammengebundenen Händen und durchtrennten Kehlen. Die Attacken sind die schwersten seit der Verkündung des »Waffenstillstands« mit der Terrororganisation durch den »Minister für Spezialaufgaben« und Vorsitzenden des »präsidentiellen Komitees für den Dialog und die friedliche Lösung der Sicherheitsherausforderungen im Norden«, Tanimu Turaki, Anfang Juli. Die Botschaft, die Boko-Haram-Führer Abubakar Shekau am Montag via Video unterstrich, ist eindeutig: Der im Mai verkündete Triumph der Armee über die radikalen Islamisten war ein Pyrrhussieg, Boko Haram existiert weiter.
Die ersten Luftschläge des nigerianischen Militärs seit dem Ende des Biafra-Kriegs 1970 hatten die Boko-Haram-Kämpfer zwar vertrieben, die Organisation aber nicht zerschlagen. Zurückgedrängt in ländliche Gebiete sind die Extremisten im Gegenteil nun noch schwerer greifbar. Die Militärführung reagierte darauf mit der Bildung von größtenteils aus Jugendlichen bestehenden Bürgerwehren – und schuf so das nächste Anschlagsziel der Extremisten: Schulen. Mehrfach stürmten Kämpfer der Sekte in den vergangenen Wochen auf Schulhöfe und in Klassenzimmer und richteten Massaker an. Bereits Mitte Juni hatte Boko-Haram-Sprecher Abu Zinnira deshalb in einer Mail an Journalisten angekündigt, neben »Polizisten, Soldaten, allen Sicherheitskräften, Politikern und anderen Symbolen der Staatsmacht« auch »Jugendliche« auf ihre Attentatslisten zu setzen. Die Massaker an den Dorfbewohnern am vergangenen Wochenende haben einen ähnlichen Hintergrund: Boko Haram wirft ihnen vor, mit den Sicherheitskräften kooperiert zu haben. Die ländliche Bevölkerung, die zuvor nach Berichten verschiedener Nichtregierungsorganisationen schon Menschenrechtsverletzungen seitens der Armee ausgesetzt gewesen sein soll, gerät so immer mehr zwischen die Fronten.
Das Militär würde die Menschen in die Irre führen, wenn es behauptet, Boko Haram sei zerschlagen, ließ Shekau in seiner Videobotschaft vom Montag wissen. Darin bekannte er sich zu den Anschlägen und kündigte weitere an – bis Nordnigeria islamisiert sei. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas ist im Süden christlich und im Norden muslimisch dominiert. Boko Haram kämpft gegen die föderale Republik und »westliche Werte«. Im Norden will sie die Scharia einführen. »Vergeßt die Verfassung und akzeptiert die Scharia«, rief Shekau die Nordnigerianer auf. »Wir haben keinen Sozialismus, wir kennen keinen Kommunismus, wir wollen keinen Föderalismus, sondern wir sind Muslime.« Die nigerianische Regierung sei für ihn kein Gegner, tönte der selbsternannte Sektenführer weiter, er fordere US-Präsident Barack Obama heraus.
Dessen Regierung hatte auf Shekau ein Kopfgeld von sieben Millionen US-Dollar ausgesetzt und Nigeria darüber hinaus militärische Hilfe angeboten. Letztere gilt allerdings nur für den Kampf gegen die Rebellen der »Bewegung für die Emanzipation des Niger-Deltas«, die in der ölreichen südlichen Region gegen die Verschmutzung und Ausbeutung durch internationale Konzerne kämpfen. Mit den nach anonymen Angaben nigerianischer Militärs auch aus libyschen Waffenlagern aufgerüsteten Boko Haram soll die Regierung in Abuja selbst fertig werden.
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 15. August 2013
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