Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nigeria denkt voraus

Wie viele Einwohner kann ein Land verkraften? Staatspräsident Goodluck Jonathan hat eine kontroverse Debatte um Bevölkerungswachstum entfacht

Von Thomas Berger *

Im Raum stand die Frage schon länger. Doch nun hat einer sie offen ausgesprochen: Nigerias Staatspräsident Goodluck Jonathan formulierte sie ohne Fragezeichen am Ende, eher als vorsichtige Mahnung an seine Landsleute. Familien, so das Staatsoberhaupt Ende Juni, »sollten nur so viele Kinder haben, wie sie sich leisten können«. Der Hintergrund für diese Äußerung: 162 Millionen Einwohner hat das Land heute. Jeder sechste Afrikaner ist Bürger Nigerias. Bei etwa 2,5 Prozent Zuwachsrate jährlich muß im Jahr 2050 mit 400 Millionen Einwohnern kalkuliert werden. Schätzungsweise 730 Millionen Menschen würden zur nächsten Jahrhundertwende dann in Nigeria leben – das wäre hinter Indien, das bis dahin China überrundet haben soll, und dem Reich der Mitte Platz drei der globalen Rangliste.

Auch für die beiden asiatischen Giganten ist ihre stetig wachsende Bevölkerung ein großes Problem. Im Falle Nigerias, das weiß auch der Präsident, kann eine absehbare Vervierfachung der Einwohnerzahl in den nächsten Jahrzehnten nur in einer Katastrophe enden. Schon heute ist Nigeria also mit Abstand das bevölkerungsreichste Land des Kontinents. Im Durchschnitt kommen 160 Personen auf einen Quadratkilometer. Sechs Millionenstädte hat das Land, allein die Wirtschaftsmetropole und einstige Hauptstadt Lagos verzeichnet offiziell wenigstens zwölf Millionen Einwohner – und gehört als sogenannte Megacity in eine Liga mit Jakarta, Manila, Rio de Janeiro und São Paulo.

Weniger Kinder? Allein die Idee ist in Nigeria für viele Menschen eine Zumutung. Jonathan, selbst ein gläubiger Christ aus dem Landessüden, weiß das. Ganz egal, ob Muslim aus dem Norden oder weiter südlich Anhänger von Christentum bzw. traditionellen einheimischen Religionen – jede Konfession glorifiziere Kindersegen als Geschenk Gottes, konstatierte das Staatsoberhaupt. Entsprechend schwierig sei es, überhaupt eine Diskussion darüber anzuschieben.

Die ersten Reaktionen haben das bestätigt. Er habe 16 Kinder von drei Ehefrauen, und wenn sich weiterer Nachwuchs einstelle, werde er diesen selbstverständlich ebenso willkommen heißen, ließ beispielsweise Sheikh Ibrahim Umar Ibrahim Kasuwar verlauten. Sein Wort hat Gewicht, gehört er als Mitglied des Hohen Rates der Scharia doch zu den wichtigsten islamischen Würdenträgern Nigerias. Übermäßiger Kinderreichtum mit durchschnittlich fünf oder sechs, nicht selten sogar zehn oder mehr Söhnen und Töchtern ist keineswegs nur auf die Muslime im Norden beschränkt. Die Christen, oft evangelikalen Sekten angehörend, stehen ihnen nicht nach – und auch im Süden ist Polygamie weit verbreitet.

Doch dieser Reichtum hat seine Kehrseiten: Täglich sterben offiziellen Angaben zufolge 145 Frauen schon während der Schwangerschaft oder im Kindbett 2300 Kinder werden pro Tag registriert, die nicht einmal ihren fünften Geburtstag erlebt haben. So hoch die Zahl der Kinder ist, so groß ist auch ihre Gefährdung gerade in den ersten Jahren nach der Geburt. Oft fehlt es an medizinischer Versorgung. Armut und Unterernährung sowie Krankheiten halten die Sterberate ebenfalls auf hohem Niveau. Es fehlt weiterhin an Schulen, Ausbildungsplätzen und Jobs, um all den neuen Bürgern wenigstens eine elementar menschenwürdige Perspektive zu bieten.

Lange Zeit war Nigeria Erdölfördernation Nummer eins auf dem Kontinent. Noch immer sprudelt das schwarze Gold, es gibt zudem Erdgas und andere Rohstoffe. Das Problem ist seit Jahrzehnten, daß nur eine kleine Oberschicht davon profitiert und ein Großteil der Bevölkerung leer ausgeht. Verschärft wird diese Situation durch ausufernde Korruption, mit der das Land im kontinentalen Maßstabe ebenfalls mit an der Spitze steht.

Das Statement von Präsident Jonathan fiel im Zusammenhang mit der Amtseinführung der Mitglieder einer neugegründeten Kommission für Bevölkerungswachstum (NPC), die eben jenes mit geeigneten Maßnahmen zügeln soll. Notfalls auch mit einem Gesetz zur Geburtensenkung. Kritik gegen mögliche Zwangsmaßnahmen kommt beinahe von allen Seiten, zumal der Präsident bei seinem Vorstoß weder die soziale Schieflage noch das Korruptionsproblem angesprochen hat. Das religiöse Establishment hat er dabei mit wenigen Ausnahme ohnehin gegen sich. Aber auch ohne Glaubensbezug wird gegen jegliche Familienplanung polemisiert. So schreibt das Autorenduo Thompson Ayodele und Olusegun Sotola in der Tageszeitung Guardian, in der hohen Geburtenrate liege sogar eine ökonomische und politische Chance. Nur mit vielen Einwohnern sei Nigeria ein globales Schwergewicht, und der riesige Markt mit all diesen Menschen kurbele die Wirtschaft an, locke Investoren. Nicht zu vergessen sei der Alterungsprozeß der Gesellschaft, dem sich nur mit einer hohen Zahl von Kindern begegnen ließe – womit die Autoren nicht ganz unrecht haben.

Heute ist fast die Hälfte der Bevölkerung jünger als 15 Jahre. Auf mittlere Sicht ändert sich das dramatisch – mit allen sozialökonomischen Konsequenzen. Auch mit einem anderen angesprochenen Problem treffen die Autoren ins Schwarze. Weil die nigerianische Bevölkerung so patriarchalisch strukturiert sei, bestehe die Gefahr, daß eine Reduzierung der Kinderzahl zu Lasten des Geschlechterverhältnisses geht. Gezielte Abtreibungen von Töchtern – wie in Indien und China üblich – wären die Folge.

Trotz aller emotionalen Aufregung und unterschiedlicher Interessenlagen ist es ein Verdienst Jonathans, das Thema benannt zu haben. Was bisher fehlt, ist eine sachliche Debatte. Die könnte und müßte das gesamte Gesellschaftsmodell Nigerias zum Gegenstand haben.

* Aus: junge Welt, Montag, 30. Juli 2012


Zurück zur Nigeria-Seite

Zurück zur Homepage