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Anschlagsserie in Nigeria

Mindestens 178 Tote bei koordinierten Attacken

Von Christian Selz, Kapstadt *

Bürgerkrieg« – immer häufiger fällt dieses Wort in Nigeria. Präsident Goodluck Jonathan verglich die Gewalt der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram bereits vor Wochen mit dem Bürgerkrieg, dem in dem westafrikanischen Land in den 1960er Jahren Millionen Menschen zum Opfer fielen. Seit Freitag abend (20. Jan.), als Boko Haram in der nördlichen Millionenmetropole mit mehreren Bombenanschlägen nach aktuellen Zahlen mindestens 178 Menschen tötete, scheinen derartige Vergleiche realistischer denn je.

Die Sekte bezeichnete die Attacken, die mit mindestens 20 koordinierten Bombenanschlägen auf Polizeiwachen, ein Gebäude der Geheimpolizei, die Residenz eines Polizeioffiziers und Büros der Einwanderungsbehörde auch eine neue Qualitätsstufe des Terrors bedeuten, als Vergeltungsaktion für die Verhaftung ranghoher Gruppenmitglieder. Boko Haram, das hat selbst Jonathan bereits öffentlich angesprochen, ist keine isolierte Terrorsekte, sondern im Norden des Landes inzwischen eine mächtige, gut vernetzte Machtinstitution. Die Terroristen, so der Präsident, hätten gute Kontakte bis hoch in den Regierungs- und Geheimdienstapparat. Sie sind Werkzeuge von Machtinteressen und haben es einfach, Sympathisanten zu finden.

Jonathan ist daran nicht unschuldig. Seine neoliberale Kürzungspolitik hat zum Chaos im Land beigetragen und treibt vor allem Jugendliche in die Arme der Terroristen. 70 bis 80 Prozent der Nigerianer leben in bitterer Armut, während sich die Offiziellen und Beamten im chronisch korrupten Regierungsapparat großzügig selbst bedienen. Insbesondere die Moslems im Norden des Landes fühlen sich von der Regierung unter dem aus dem Süden stammenden Christen Jonathan nicht repräsentiert.

Es ist aber nicht die Religion, die die Nigerianer spaltet. Deutlich wurde das, als vor einer Woche Christen und Muslime das Land gemeinsam mit einem Generalstreik zum Stillstand brachten. Grund war die Abschaffung von Treibstoffsubventionen, was die Benzinpreise mehr als verdoppelte und zu einer drastischen Verteuerung von Lebensmitteln führte. Jonathan hat die Subventionen inzwischen teilweise wieder eingeführt, will an seinem neoliberalen Kurs aber festhalten – gegen heftige Kritik der Gewerkschaften. Die Organisation Action Youth Movement hatte der Regierung vorgeworfen, der Bevölkerung mit den Subventionsstreichungen den Krieg zu erklären. In Nigeria ist das dieser Tage nicht als Metapher zu verstehen.

* Aus: junge Welt, 23. Januar 2012


Nigerianer befürchten Bürgerkrieg

Mindestens 180 Tote bei Anschlägen im Norden **

Bei neuen Bombenanschlägen im Norden Nigerias sind am Sonntag (22. Jan.) mindestens elf Menschen getötet worden. Die Anschläge seien im Bundesstaat Bauchi verübt worden, berichtete das nigerianische Fernsehen. Zuvor hatte der Terror der radikal-islamischen Sekte »Boko Haram« neue Ausmaße erreicht: Bei Anschlägen in der Millionenstadt Kano am Freitagnachmittag wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörden mindestens 180 Menschen getötet und viele verletzt.

Die jüngsten Anschläge der »Boko Haram« sind eine gezielte Provokation gegen den nigerianischen Staat. Ein Sprecher der Islamisten, die einen Gottesstaat in Nigeria errichten wollen, nannte die Attentate eine »Vergeltung« dafür, dass mehrere Mitglieder der Gruppe nicht wie gefordert aus der Haft entlassen worden seien. Doch vor allem sollen die Anschläge wohl beweisen, was der mutmaßliche »Boko-Haram«-Anführer Abubakar Shekau vor einigen Wochen an Nigerias Präsidenten Goodluck Jonathan gewandt höhnisch ankündigte: »Uns zu besiegen, ist jenseits deiner Fähigkeiten, Jonathan.«

Jonathan versprach in einer Fernsehansprache erneut Härte. »Die Verantwortlichen werden den vollen Zorn des Gesetzes zu spüren bekommen. Als verantwortungsvolle Regierung werden wir nicht unsere Hände in den Schoß legen und zusehen, wie diese Feinde der Demokratie in unserem Land nie gesehenes Übel verbreiten.« Doch das Inferno von Kano zeigt, wie leer die Drohungen sind.

Es scheint fraglich, ob die Sicherheitsbehörden noch in der Lage sind, einen Bürgerkrieg im Vielvölkerstaat Nigeria mit mehr als 160 Millionen Einwohnern zu verhindern. Seit den Anschlägen der »Boko Haram« auf vier Kirchen am ersten Weihnachtstag sind Zehntausende Christen aus dem mehrheitlich muslimischen Norden geflohen. Millionen sitzen auf gepackten Koffern.

** Aus: neues deutschland, 23. Januar 2012


Die offene Tür

Von Martin Ling ***

Die Tür zum Bürgerkrieg in Nigeria steht offen. Vielleicht noch nicht sperrangelweit, doch weiter denn je seit dem Biafra-Krieg vor 45 Jahren, dem einst mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen. Das zumindest ist die Einschätzung vieler nigerianischer Kommentatoren, afrikanischer Wissenschaftler und auch von Afrikas erstem Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, der während des Biafra-Krieges über zwei Jahre in Isolationshaft saß.

Die seit 2002 bekannte radikalislamische Gruppe Boko Haram (Moderne Bildung ist Sünde) lässt ihren Hetzreden mehr denn je blutige Taten folgen. Dass sie selbst vor bestens gesicherten Polizeistationen nicht mehr Halt macht, zeigt, wie stark und wie sicher sie sich fühlt. Boko Haram hat allen Christen den Kampf angesagt und will das ethnisch und religiös tief gespaltene 160-Millionen-Einwohner-Land ins Chaos stürzen. Dabei ist die Gruppe auf einem guten Weg, wobei nicht mal klar ist, ob es sich bei Boko Haram eher um einen Sammelbegriff für islamisch motivierten Terror oder um eine organisierte Struktur handelt.

Nigerias Regierung um Präsident Goodluck Jonathan hat bisher weder eine klare Problemanalyse noch eine Strategie vorgelegt. Um Nigerias Einheit zu erhalten, kommt er um eine zielgerichtete Umverteilung vom relativ reichen christlich animistischen Süden in den armen muslimischen Norden nicht herum. Sonst bleibt nur die Spaltung.

*** Aus: neues deutschland, 23. Januar 2012 (Kommentar)


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