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Nepals politisches Chaos

Parteiengezänk und Machtkampf erschweren Bewältigung der Erdbebenkatastrophe

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Politische Instabilität und machthungrige Parteien, die traditionell gegeneinander arbeiten, erschweren die Bewältigung der Folgen des verheerenden Erdbebens in Nepal zusätzlich. Ministerpräsident Sushil Koirala und Innenminister Bam Dev Gautam haben zugegeben, dass die Regierung auf eine Naturkatastrophe dieses Ausmaßes nicht vorbereitet war. Zwar ist offensichtlich, dass keine Regierung, auch keine eines hoch entwickelten Industriestaates, auf ein solches Desaster vorbereitet sein kann. Doch die nepalesischen Behörden waren auch nicht in der Lage, die Auswirkungen zügig, koordiniert und effektiv in den Griff zu bekommen sowie die Hilfsmaßnahmen zu organisieren.

Schon vor dem Erdbeben waren die Straßen sowie die Wasser- und Stromversorgung, die Bausubstanz und die hygienischen Verhältnisse in einem miserablen Zustand. Der Großteil der Gebäude, auf dem Lande fast alle, sind nicht erdbebensicher. Selbst etliche Bauwerke jüngeren Datums stürzten in Kathmandu ein. Die weit verbreitete Armut treibt Hunderttausende Menschen seit Jahren auf Arbeitssuche ins Nachbarland Indien, in die Golfregion und in südostasiatische Staaten. Mit ihren Geldüberweisungen halten sie ihre Familien zu Hause über Wasser. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei durchschnittlich etwa 1.000 US-Dollar.

Im jüngsten Sozialen Fortschrittsindex liegt Nepal als eines der ärmsten Entwicklungsländer der Welt auf Platz 98 von 133 erfassten Staaten. Dieses Ranking berücksichtigt Faktoren aus dem sozialen Bereich und Leistungen im Umweltschutz. Dazu zählen der Zugang zu Bildung und Wohnraum, die sanitären Verhältnisse, Gesundheit und Wohlfahrt, Wasserversorgung und Nahrungsmittelsicherheit, persönliche Rechte und Freiheiten sowie ein nachhaltiges Ökosystem. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO sind in Nepal durchschnittlich 2,1 Ärzte für 10.000 Menschen zuständig. Pro 1.000 Einwohner gibt es in dem Himalaja-Staat fünf Krankenhausbetten. Das Beben offenbarte auf dramatische Weise, was das bedeuten kann: völlig überforderte Kliniken, zu wenige Medikamente, unzureichende Blutkonserven und Personalmangel.

Politisch ist Nepal geprägt von schwachen demokratischen Strukturen und permanentem Parteiengezänk. Seit dem Sturz der Monarchie im Jahre 2008 liefern sich die opponierenden Lager ein Tauziehen um die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Der Stichtag für die Vorlage des neuen Grundgesetzes wurde in den vergangenen sieben Jahren viermal verschoben. Die Dutzenden politischen Parteien – sozialdemokratische, maoistische, marxistische, monarchistische, hindufundamentalistische und zentristische – können sich nicht auf ein neues Wahlsystem, Justizwesen, eine Regierungsform und nicht einmal auf die Bildung der Bundesstaaten einigen. Das alles wirkt sich nicht nur auf die Entwicklung des Landes, sondern auch auf die Reaktion des Staates in akuter Not hemmend und erschwerend aus.

Die vier Hauptparteien Nepali Congress (NC), KPN-Vereinte Marxisten und Leninisten (KPN-VML), die Vereinte KPN-Maoistisch und die Madhesi-Front kämpfen in zwei Lagern. Auf der einen Seite stehen der NC und die KPN-VML in der Regierungskoalition, die auch nicht immer einer Meinung ist. Auf der anderen Seite sind die Maoisten im Bunde mit 30 oppositionellen Parteien und mit der Madhesi-Front, die der Regierung das Leben schwer machen. Dazu kommen Gewerkschaften, für die Streiks und Demonstrationen zum Alltag gehören, sowie geldgierige Politiker und korrupte Beamte. Den Querelen fiel auch die Erstellung eines Konzeptes zum Katastrophenmanagement zum Opfer. Ein Plan dazu liegt zwar seit 2008 vor, aber seine Umsetzung scheiterte am Chaos auf der politischen Bühne.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. Mai 2015


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