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Nepal will das politische Vakuum ausfüllen

Über 100 Parteien treten zur Wahl einer neuen verfassunggebenden Versammlung an

Von Hilmar König, Delhi *

Durch die Wahl einer neuen verfassunggebenden Versammlung am heutigen Dienstag hoffen die großen Parteien des Himalaja-Staates, Nepal aus der politischen Sackgasse führen zu können.

Über 100 Parteien schicken ihre Kandidaten in die Wahl des neuen verfassunggebenden Organs. 33 Parteien dagegen versuchen, die Abstimmung durch gewaltsame Aktionen zu blockieren. Tausende Bürger können die Wahllokale in ihren Heimatorten wegen eines Transportstreiks nicht erreichen.

Khil Raj Regmi, der im Frühjahr als Ministerpräsident eingesetzte Chefrichter Nepals, appellierte am Montag an alle Stimmberechtigten, trotz der Schwierigkeiten ohne Furcht und Zögern zur Wahl zu gehen. Das sei ihr Recht und ihre Verantwortung – und eine Möglichkeit, auf demokratische Weise einen Ausweg aus der komplizierten politischen Lage zu finden.

Einem zehnjährigen Krieg zwischen maoistischer Guerilla und der Armee des Königs, dem 13 000 Menschen zum Opfer gefallen waren, folgten 2006 ein Friedensabkommen und 2008 die Abschaffung der Monarchie, die Proklamation der Republik und die erste demokratische Wahl. Doch die gewählte verfassunggebende Versammlung erfüllte ihre Aufgabe nicht. Wegen endloser Machtkämpfe zwischen den politischen Hauptparteien und gegensätzlicher Standpunkte zu wichtigen Fragen kam ein neues Grundgesetz nicht zustande.

Wesentliche Streitpunkte bleiben die künftige Regierungsform und die Struktur des Bundesstaates. Soll es ein parlamentarisches System mit einem starken Regierungschef geben oder ein System, in dem der Präsident exekutive Funktionen ausübt? Soll die Republik nach geografischen, ethnischen oder rein verwaltungstechnischen Gesichtspunkten gegliedert werden? Da jeder Verfassungsartikel die Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten braucht, konnte angesichts von mehr als 100 ethnischen und Sprachgruppen sowie der politischen Zersplitterung keine Übereinstimmung erzielt werden. Ob die 601 Abgeordneten der neuen Versammlung diese Hürde überwinden können, bleibt abzuwarten.

Die Vereinte KP Nepals (Maoistisch) bekam bei der Wahl 2008 die meisten Stimmen, verspielte aber durch eigenwillige Entscheidungen in den vergangenen fünf Jahren viel Kredit bei den Bürgern. Als chancenreich gelten die bürgerliche Partei Nepali Congress, die KP Nepals (Vereinte Marxisten-Leninisten) und die regionalen Madhesi-Parteien. Auch die monarchistische Rashtriya Prajatantra Party hofft auf ein respektables Ergebnis. Die radikale KP Nepals (Maoistisch) boykottiert und sabotiert die Wahl im Bunde mit 32 kleineren Parteien. Sie rief einen zehntägigen Streik aus und ist für Zusammenstöße mit politischen Gegnern und der Polizei, für Brandstiftungen und Anschläge verantwortlich. Nicht nur Chefwahlkommissar Neel Kantha Uprety befürchtet, dass es auch am Wahltag zu blutigen Ausschreitungen kommt.

Für die Wähler zählt freilich mehr, dass es in den vergangenen sieben Jahren keine spürbaren sozialen Fortschritte gegeben hat, egal unter welcher Regierung. Auch Pushpa Dahal Prachanda, dem Chef der VKPN(M), gelang es als Premier nicht, das Land wie angekündigt zur »Schweiz Asiens« umzugestalten.

Im Leben der Mehrheit der 27 Millionen Nepalesen hat sich praktisch kaum etwas geändert. Viele sind arm. Mindestens sechs Millionen müssen den Lebensunterhalt für ihre Familien in Indien, den Golfstaaten oder in Südostasien verdienen. Es mangelt an Brennstoffen, in der Hauptstadt Katmandu ist die Versorgung mit Wasser rationiert, über mehrere Stunden am Tag gibt es keinen Strom. Unter der politischen Instabilität leiden die Wirtschaft und der Tourismus. Investoren halten sich zurück. Der Himalaja-Staat gehört nach wie vor zu den am geringsten entwickelten Ländern der Welt – trotz nicht unbeträchtlicher Auslandshilfe.

Nishal Pandey, Direktor des Zentrums für Südasien-Studien in Katmandu, spricht von einem »totalen politischen Vakuum«. Und die Aussichten auf eine Änderung dieses Zustands sind nicht gerade gut. Nach Einschätzung der Zeitung »The Himalayan Times« wird keine der Hauptparteien eine absolute Mehrheit bekommen. So wird nach der Wahl wohl schon die Bildung einer neuen Regierung eine enorme Herausforderung.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 19. November 2013


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