Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gottkönig stürzt vom Dach der Welt

Nepal wählt seine verfassunggebende Versammlung

Von Hilmar König, Delhi *

Über 17 Millionen wahlberechtigte Nepaler sind aufgerufen, am heutigen Donnerstag eine verfassunggebende Versammlung zu wählen. Das Ereignis bildet den vorläufigen Höhepunkt im 2006 eingeleiteten Friedensprozess.

»Ich trage die Flamme der Revolution und die Flagge Nepals im Herzen.« So tönt ein Lied aus dem Lautsprecher vom Dach eines Parteibüros in Katmandu. »Schulter an Schulter lasst uns ein neues Nepal errichten«, schallt es noch lauter aus dem Megaphon einer anderen Partei. Nepal ist – obwohl die Polizei erst am Dienstag acht Wahlkämpfer erschossen hat – in Festtagsstimmung. Die Schüler haben zwei Wochen Sonderferien, die Erwachsenen fünf Tage Urlaub. Das Tragen von Waffen, der Ausschank von Alkohol und selbst der Autoverkehr sind am Wahltag verboten. Die Bürger sollen mit klarem Kopf, entspannt und in sicherer Umgebung abstimmen. Rund 100 000 Ordnungshüter sollen darüber wachen.

Hinter den Nepalern liegt ein angespannter, von Gewalt begleiteter Wahlkampf. 20 überwiegend linke Kandidaten und Parteiaktivisten kamen dabei ums Leben. Allein im März und April gab es über 200 Zwischenfälle – Sprengstoffanschläge, Entführungen, Schlägereien, Überfälle und Streiks. In verschiedenen Gegenden verhängten die Behörden Ausgangssperren. Mehrmals riefen Wahlleiter Bhojraj Pokharel und Vertreter der UN-Mission in Nepal zur Zurückhaltung auf – mit wenig Erfolg.

Unabhängig davon schwelt in der südlichen Terai-Region, wo rund die Hälfte aller Nepaler siedelt, ein verzwickter Konflikt. Militante politische Gruppen fordern Autonomie oder gar Unabhängigkeit von Katmandu. Von einer »normalen Wahl« kann also nicht die Rede sein.

Die Maoisten, die sich als eigenwillige, energische Neulinge im politischen Geschäft für »volksdemokratische« Verhältnisse engagieren, sind vielen etablierten Politikern ein Dorn im Auge. Auch deshalb wurde der Wahlkampf derart erbittert geführt. Immerhin war es den Rebellen zu verdanken, dass die Monarchie schließlich in die Knie ging und »ein Gott vom Dach der Welt stürzte«. Die Maoisten hatten ihren »Volkskrieg« 1996 begonnen, »um die alten Feudalstrukturen der Monarchie aufzubrechen,« erklärte dieser Tage KPN(M)-Führungsmitglied Baburam Bhattarai. Nach dem Friedensabkommen 2006 wechselten sie auf die politische Bühne. So kann Innenminister Krishna Prasad Koirala jetzt verkünden: »Wir wollen der Welt zeigen, dass es möglich ist, die Monarchie mit friedlichen, demokratischen Mitteln abzuschütteln.«

Doch die Meinungen über die ehemaligen Rebellen bleiben geteilt. Die USA führen sie auf ihrer »Terroristenliste«. Ministerin Sujata Koirala fürchtet sich vor der »linken Demokratie«. UN-Missionschef Ian Martin warnt, man werde die Wahlen nicht akzeptieren, falls sich die ehemaligen, noch in Lagern internierten Kämpfer ins Wahlgeschehen einmischen. Von einem Wähler war zu hören: »Die 13 000 Kriegstoten werden den Maoisten immer anhaften. Sie werden niemals die Herzen der Menschen gewinnen.« Ein anderer äußerte: »Wir favorisieren die Maoisten, weil ihr Kampf die Chance für einen neuen Typ der Gesellschaft und der politischen Kultur eröffnet hat. Sie haben sich dafür engagiert, das Volk zu ermächtigen.« Krishna Bahadur Mahara, Informationsminister und KPN(M)-Sprecher, glaubt viele Wähler froh darüber, dass es »eine neue Partei, ein neues Programm, eine neue Führung und eine neue Ideologie gibt«.

Nach hartem Kampf hat sich Nepal für ein einzigartiges Wahlsystem entschieden. Von 601 Sitzen in der verfassunggebenden Versammlung werden 26 von der Regierung vergeben, 240 Abgeordnete werden direkt gewählt, 335 Sitze werden nach einem Proporzschlüssel an die Parteien vergeben, die sie wiederum nach Quoten für Frauen, Kastenlose, Terai-Bewohner und Angehörige der indigenen Janajatis besetzen müssen. So soll gesichert werden, dass sich die soziale und ethnische Vielfalt in der Versammlung widerspiegelt, deren Beschlüsse Nepal politisch, wirtschaftlich und administrativ verändern werden.

Wo Buddhas Wiege stand

Fläche: 147 181 km². Nepal grenzt auf 1690 km an Indien und auf 1236 km an China. Es besteht aus der südlichen Terai-Ebene, dem mittleren Bergland und dem Himalaja im Norden.

Bevölkerung: 28,9 Millionen Bewohner (Schätzung 2007) gehören zahlreichen Völkerschaften und verschiedenen Religionen an: 80,6 Prozent Hindus; 10,6 Prozent Buddhisten; 4,2 Prozent Muslime; 3,6 Prozent Mundhum (Religion des indigenen Kirat-Volkes); 0,5 Prozent Christen. Hindus sahen im König die Inkarnation des Gottes Vishnu.

Buddhismus: In Lumbini an der heutigen Südgrenze wurde Prinz Siddharta Gautama, der spätere Buddha, geboren. Aus der Lehre des »Erleuchteten« (563 – 483 v.u.Z) ging der Buddhismus hervor.

Sprachen: Amtssprache ist Nepali; außerdem Maithili, Bhojpuri und weitere 18 regionale Sprachen mit zahlreichen Dialekten. In Katmandu und anderen Städten versteht und spricht man Englisch.

Wirtschaft: Landwirtschaft (Reis, Weizen, Mais, Zuckerrohr, Ölsaaten und Tabak) bildet für 76 Prozent der Nepaler die Existenzgrundlage und steuert 40 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Der Dienstleistungssektor liefert ebenfalls 40, die Industrie (Verarbeitung von Agrarerzeugnissen, Teppichknüpferei) 20 Prozent. Entwicklungshilfe leisten vor allem Indien, China, Japan, die Schweiz, Skandinavien, EU und USA.

Soziales: 31 Prozent der Nepaler leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenrate liegt bei 42 Prozent, viele Nepaler suchen Arbeit in Indien, Malaysia und den Golfstaaten oder dienen in den Gurkha-Einheiten der Streitkräfte Indiens und Großbritanniens. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 60 Jahre, 76 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Männer sind Analphabeten.
H.K.



* Aus: Neues Deutschland, 10. April 2008


Zurück zur "Nepal"-Seite

Zurück zur Homepage