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Fünf Jahre Bürgerkrieg in Nepal

Ist der Himalaya-Staat am Ende?

Im Folgenden wollen wir über Entwicklungen im Himalaya-Staat Nepal informieren, die selten einmal in die Schlagzeilen der deutschen Presse gelangen. Es geht um die tiefgehenden sozialen Spannungen im Land, die seit Jahren bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen und quasi sezessionistische Bestrebungen begünstigen. Die Krise in Nepal hat längst auch die politischen Machtstrukturen, den Machtapparat erfasst.

Am 28. November meldete die Neue Zürcher Zeitung:

"Nach fast fünf Jahren Untergrundkrieg mit 1500 Toten sind in Nepal militante Maoisten und Vertreter der Regierung erstmals zu Gesprächen zusammengekommen. «Sie waren sehr positiv», sagte der Menschenrechtsaktivist Padma Ratna Tuladhar, der das informelle Treffen vermittelt hatte. Offizielle Verhandlungen seien geplant. Die Maoistenkämpfen seit 1996 für die Abschaffung der Monarchie in Nepal und verlangen mehr Geld für die Entwicklung der ländlichen Regionen."

In der Frankfurter Rundschau erschien ein halbes Jahr später ein Hintergrundbericht über den Untergrundkrieg der "maoistischen" Organisation, aus dem wir Auszüge dokumentieren:

Nepals langer Marsch zur Demokratie

Seit fünf Jahren kämpft eine maoistische Guerillaorganisation gegen die zerstrittene Regierung des Himalaya-Staates
Von Michael Netzhammer

Die Bergstraße nach Surkhet im Südwesten von Nepal eignet sich bestens für einen Hinterhalt. Und so läuft der Feuerüberfall auf den Fahrzeugkonvoi des obersten Richters von Nepal, Keshav Prasa Upadhaya, zur vollsten Zufriedenheit der "United People's Front" ab. Fünf Polizisten und ein Gerichtsdiener sterben, der Richter überlebt unverletzt. ...

... Was im Februar 1996 mit Scharmützeln gegen lokale Polizeiposten begann, hat sich zu einem Guerillakrieg in 30 von 75 Bezirken Nepals ausgewachsen. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass Maoisten einen Polizeiposten angreifen oder eine Bank überfallen. Die Polizei reagiert mit groß angelegten Aktionen, bei der sie sich auch an der Zivilbevölkerung vergreift. Mehr als 1.500 Menschen sind den Auseinandersetzungen bereits zum Opfer gefallen. Erste zwischen den Konfliktparteien angebahnte Gespräche verliefen erfolglos ...

Amnesty International registriert zahllose Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten. So tötet die "Volksfront" missliebige Personen häufig auf besonders grausame Weise. Politische Überlegungen scheinen nur selten eine Rolle zu spielen. "Der so genannte Volkskrieg ist nichts anderes als die Umschreibung für Wucher, Erpressung und eine lokale Vendetta", sagt der Politikökonom Dipak Gyawalig.

Die Polizei steht ihrem Gegner nicht nach. Mindestens 400 Menschen wurden von Antiterroreinheiten hingerichtet, berichtet Amnesty. Die Polizei lässt Menschen verschwinden, unterhält geheime Haftorte und nutzt Fahrzeuge ohne Nummernschild. Die Menschenrechtsorganisation hat bisher über 1.500 politische Häftlinge in den Gefängnissen ausgemacht.

Diese zügellose Vorgehensweise der Polizei spielt den Rebellen in die Hände. Die haben die Distrikte Rolpa, Rukum, Salyan und Jajarkot zu befreiten Gebieten erklärt und dort damit begonnen, ihre Vorstellungen von einem demokratischen Nepal umzusetzen. Die Landwirtschaft wurde kollektiviert und ein kooperatives Bankensystem eingeführt, das preisgünstige Kredite vergibt. Die Maoisten finanzieren ihre Revolution mit Banküberfällen, erpressen Großgrundbesitzer und erheben Steuern.

Es ist eine der Eigentümlichkeiten des nepalischen Guerillakrieges, dass die "befreiten Gebiete" keineswegs mit der Abwesenheit staatlicher Organisationen gleichgesetzt werden kann. Nach wie vor lässt die Regierung dort Brücken bauen oder Gesundheitsposten in Stand setzen. Die Post öffnet regelmäßig, und die Lehrer rufen ihre Schüler zum Unterricht, berichtet Sudheer Sharma, Journalist der Nepali Times. Nur die Polizisten sind verschwunden, deren Aufgaben die "Volksfront" übernommen hat. Die "United People's Front" (UDF) kämpft für eine "Republik der Bauern". Dabei orientiert sie sich an der Ideologie des "Leuchtenden Pfades" aus Peru. Der Regierung wirft sie Verrat an den Idealen der nepalischen Revolution vor. Im April 1990 fegte die nepalische Bevölkerung das Panchayat-System mit seinem absolutistisch regierenden König Birendra mit einem Volksaufstand von der politischen Bühne. Der Monarch musste das Parteienverbot aufheben und der Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung zustimmen. Die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie aber ging dem Führer der UDF, Babu Ram Bhartarai, nicht weit genug. Er forderte ein Ende der königlichen Privilegien und die Ausrufung der Republik. Als seine Forderungen ungehört blieben, erklärte er der Regierung den Krieg.

Die Erwartungen der 22 Millionen Einwohner Nepals an die Demokratisierung wurden in keiner Weise erfüllt. Nach wie vor zählt das Land im Himalaya zu den ärmsten der Welt. Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt bei 270 Mark, fast jeder zweite Nepali lebt unter der Armutsgrenze. Und die Not wächst. ...

... Viele internationale Hilfsorganisationen haben sich aus den umkämpften Regionen zurückgezogen. So auch die deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ). Bis heute fehlt der politischen Elite des Landes ein Konzept gegen die bewaffneten Kämpfer. Statt zu regieren, frönt das politische Establishment des Landes lieber endlosen Machtkämpfen. Allen voran die Regierungspartei Nepali Kongress. Mal gibt der 78-jährige Krishna Prasad Bhattarai den Premier, mal sein Rivale, der nicht jüngere Girija Prasad Koirala. Allein 1998 brachte es das Land auf vier Regierungen. Da verwundert es nicht, wenn die wichtigsten Probleme auf die lange Bank geschoben werden. Auch in Sachen Maoisten ist die Regierung uneins. Während Sher Bahadu Deuba von Bhattarai unterstützt mit den Rebellen spricht, unterminieren andere Regierungsstellen die Gespräche. ... Die Armee verhält sich auf kaum nachvollziehbare Weise neutral. Während Polizeieinheiten die "befreiten Gebiete" meiden, bauen Armeeangehörige - von der Guerilla unbehelligt - eine Straße von Salyam nach Rukum, im Gebiet der Aufständischen gelegen. Als im vergangenen Herbst Guerilleros das Polizeihauptquartier in Dunai angriffen und 14 Polizisten töteten und 41 verwundeten, hielten sich die Truppen auffallend zurück. Sie verweigerten der Polizei sogar die Bitte, die Armeehubschrauber nutzen zu dürfen.

Diese Neutralität gibt Gerüchten über einen Komplott zwischen Maoisten und dem königsnahen Militär Auftrieb. Demnach käme die wachsende Verunsicherung der Bevölkerung letzteren sehr gelegen, weil sie den Boden für eine etwaige Machtübernahme durch den König vorbereite. Näher an der Wahrheit dürfte die Einschätzung liegen, dass die Armee nicht in einen Konflikt hineingezogen werden will, der militärisch kaum zu gewinnen ist. "Die Armee sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden", zitiert die Nepali Times einen hohen Offizier. Ein Engagement könnte zu einem "neuen Vietnam führen".

Dass die UDF ihre Unterstützung vor allem der sozialen Not zu verdanken hat, scheint langsam auch der politischen Elite des Landes zu dämmern. "Mit ihrer Gewalt haben die Maoisten auf Probleme hingewiesen, die sonst versteckt geblieben wären", gibt Madhav Nepal, Generalsekretär der marxistisch leninistischen KP Nepals und Chef der zweitstärksten politischen Gruppierung im Kongress zu. Inzwischen hat die Regierung 190 Millionen Rupien, rund 5,7 Millionen Mark aufgeboten, um besonders betroffene Regionen zu fördern. Ohne flankierende Maßnahmen ist ein regional begrenztes Hilfspaket aber zum Scheitern verurteilt. Abgesehen von Katmandu und den von Touristen frequentierten Gebieten müssen Menschen, Landwirtschaft und Infrastruktur gezielt gefördert werden. ...

Aus: Frankfurter Rundschau, 13. März 2001

Der folgende Beitrag, den wir ebenfalls nur in Ausügen dokumentieren, fand sich in der Süddeutschen Zeitung. Er handelt vom selben Sachverhalt, setzt aber die Akzente teilweise anders und - vor allem - nimmt eine ganz andere Bewertung der Konfliktparteien vor.

Die blutige Spur der Maoisten

Im Kampf gegen das politische System in Nepal verbreitet die Guerilla Angst und Schrecken

... In den vergangenen Tagen hat die Guerilla unter ihrem Führer Pushpa Kamal Dahal („Comrade Prachanda“) besonders brutal zugeschlagen. Mindestens 70 Polizisten wurden bei Überfällen getötet. Es war die blutigste Woche in Nepal, seit die Maoisten ihren Kampf gegen die Regierung in Kathmandu vor fünf Jahren aufgenommen haben.

Vor allem im westlichen Teil Nepals haben die Rebellen längst weite Teile unter ihrer Kontrolle, auch wenn dies auf Regierungsseite nicht offen zugegeben wird. Und sie bauen ihren Einfluss weiter aus. Die Kader der Maoisten haben in einigen Regionen bereits konkurrierende Verwaltungsstrukturen aufgebaut. Sie kämpfen gegen das parlamentarische System mit dem König als Staatsoberhaupt und wollen stattdessen einen kommunistischen Ein-Parteien-Staat errichten. ...

Einig sind sich die meisten Beobachter hingegen, dass sich der Vormarsch der Maoisten vor allem auf ein Problem zurückführen lässt: die ungleiche Landverteilung. Einige wenige Großgrundbesitzer verfügen über einen erheblichen Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Viele der Bauern besitzen nicht einmal ein kleines Fleckchen Erde und müssen deshalb alles pachten. So herrscht in Nepal nach wie vor bittere Armut, das rasche Wachstum der Bevölkerung hat die Situation noch verschärft. Seit 1965 ist die Bevölkerung von neun auf 23 Millionen gewachsen.

Die verarmten Bauern haben nicht mehr viel zu verlieren. Und sie sind allzu empfänglich für die Ideen der Maoisten, die bestehende Besitzverhältnisse gewaltsam zerschlagen wollen und mit der Vision einer gerechteren Welt die Unzufriedenen und Verzweifelten auf ihre Seite ziehen. Dabei hilft ihnen, dass es die Eliten des Landes bisher nicht verstanden haben, die breite Masse in den politischen Prozess einzubeziehen und sie auch nicht teilhaben lassen an dem Geldsegen, der der Gebirgs-Tourismus ins Land gebracht hat. Gleichzeitig aber bauen die Maoisten ihre Macht auch durch Drohungen und Terror unter der Bevölkerung aus. Wer sie verrät, wird grausam hingerichtet. Geschäftsleute werden zu Schutzgeldzahlungen gezwungen.

... Noch ist schwer einzuschätzen, wie gefährlich die Maoisten der Regierung tatsächlich werden können. Sollten sie einmal die Oberhand gewinnen und gar den König aus dem Land treiben, dann würde Nepals südlicher Nachbar Indien nicht lange zusehen. Denn schon Nehru hatte die Devise ausgegeben: Wenn es um die Sicherheit des Landes geht, dann liegt Indiens Grenze im Himalaya. Ein maoistisches Regime in Nepal wäre für Delhi nicht zu tolerieren und dürfte eine Militärintervention provozieren.
Arne Perras

Aus: Süddeutsche Zeitung, 13. April 2001

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