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Das kann nicht alles sein

Ein Jahr nach der demokratischen Volkserhebung in Nepal ist sich die Mehrheit der Bürger einig in der Ablehnung der Monarchie, aber auch enttäuscht von den Politikern. Impressionen aus einem Land im Wandel

Von Thomas Berger, Kathmandu *

Der Blick des Fahrers ist angespannt. Mit knappen Bewegungen lenkt er den betagten Kleinwagen durch das Straßengewirr. Taxifahren in Kathmandu, das ist kein einfacher Job. Zwar gibt es die gut ausgebaute Ring Road, die als Außenkreis die Metropole mit dem benachbarten, am anderen Ufer des Bagmati-Flusses liegenden Patan verbindet und einige andere breite Hauptverkehrswege. In der Innenstadt jedoch schieben sich Taxis, einige Lastwagen, Kleinbusse, Fahrradrikschas, Motorräder und Fußgänger in einem wilden Gewirr aneinander vorbei. Bis es irgendwo zu einem Stau kommt. Nicht nur verkehrsbedingt – bisweilen auch durch Demos, Kundgebungen, Straßenblockaden.

Etwas ruhiger ist es am Durbar Square, was daran liegt, daß das zum Weltkulturerbe gehörende Viertel der Tempel und Königsbauten aus dem 17. Jahrhundert autofrei ist. Dafür sind es Scharen von Touristen, die hier die Schnitzkunst an den hölzernen Fassaden und Fenstereinfassungen bewundern, dort von einem der Straßenhändler belagert werden. Auch der Kumari Bahal steht hier, in dem die Kumari wohnt. Jahrhundertealt ist die Tradition, ein kleines Mädchen aus der newarischen Shakya-Kaste (die Newaris sind die buddhistischen Ureinwohner des Kathmandu-Tals) zur lebenden Göttin zu machen. Bis zum Einsetzen ihrer ersten Blutung bleibt sie es, acht bis zehn Jahre getrennt von der Familie, abgesperrt von der Öffentlichkeit bis auf ein paar religiöse Feiertage. Da der König im Grunde nichts mehr zu sagen hat, ist die jetzige neun Jahre alte Inhaberin der Position nicht einmal als Schutzgöttin der Monarchie mehr von Bedeutung. Wenn Nepal Republik wird, entfällt diese Funktion ganz. Die ausländischen Besuchermassen im Innenhof und ein neu in einer Nische eingerichteter Coca-Cola-Stand bringen die Degradierung der Kumari zur reinen Touristenattraktion zum Ausdruck.

Rajesh ist Fremdenführer. Ein durchtrainierter Mann Anfang 30 mit besten Englischkenntnissen. Die sind wichtig, um all die Tempel und Geschichten dazu erklären zu können. Es ist der 14. April – Neujahr, das sich auch in Nepal nach dem buddhistischen Kalender richtet. »Es wird ein gutes Jahr, das uns weiteren Aufschwung bringt«, hofft Rajesh. Die Übergangsregierung, lobt er, leiste gute Arbeit, und er glaubt auch, daß die Achterkoalition einschließlich der zur politischen Partei gewandelten maoistischen Exrebellen trotz aktueller Spannungen halten wird. Keine Zukunft sagt er der Monarchie voraus: »Wir haben diesen König seit Anbeginn nicht gemocht. Da ist seine unklare Rolle beim Massaker (als Kronprinz Dipendra im Juni 2001 nahezu die gesamte Familie und zuletzt sich selbst erschoß – T.B.) und das, was er sich mit seiner absolutistischen Herrschaft herausgenommen hat.«

Weg mit dem König. Das ist die Botschaft, die in den Straßen Kathmandus auf Nachfrage überall zu hören ist. »Wir wollen keinen König mehr. Gyanendras Zeit ist abgelaufen, das hat er mit seinem Machtmißbrauch selbst zu verantworten«, sagt auch Ashok Aryal, der einen Telekommunikationsladen hat. Wie viele Hauptstädter sonnabends, noch dazu am Neujahrstag, ist er in den Wassergarten von Balaju gekommen. Ein kleines grünes Idyll drei Kilometer auswärts, nun hoffnungslos überfüllt. »Wir werden schon dafür sorgen, daß unsere Politiker auf dem eingeschlagenen Weg bleiben«, sagt Ashok zwischen zwei Liedern der Musikgruppe unter dem Zelt in der Mitte. »Korrupte Leute werden aussortiert, und die Bürokratie muß sich der neuen Zeit noch anpassen.« Ein Wirtschaftsaufschwung sei jetzt wichtig, doch nach fast zwölf Jahren Bürgerkrieg mit Angst und Unsicherheit seien die Hoffnungen groß.

Durga Prasad, ein schlaksiger Student Anfang 20, interessiert sich neben seiner Fächerkombination Mathe/Englisch sehr für Politik. Aus seiner Sicht sind sich König und ehemalige Rebellen recht ähnlich, was die Handlungsmethoden und den Machtanspruch betreffe, outet er sich als Ultra-Liberaler. Allgemein gehen ihm die Zugeständnisse an die CPN-Maoist deutlich zu weit. Das sieht Kamal Bhandari, der im Touristenviertel Thamel ein Fotogeschäft betreibt, anders. Er findet alle getroffenen Vereinbarungen ausgewogen, sieht die Interimsadministration trotz Rückschlägen auf gutem Weg. Auf den König kann auch er gut verzichten. In dem Land, wo die Könige noch vor wenigen Jahren als Inkarnation des Hindugottes Vishnu verehrt wurden, sind deren Untertanen binnen kürzester Zeit zu Republikanern geworden.

Vergessen im Tal

Kaulithan liegt am äußersten nordwestlichen Rande des Kathmandu-Tals. Rund zwei Dutzend Häuschen schmiegen sich auf Dreiviertelhöhe eng an den Bergrücken, die Straße windet sich mal in weiten, mal in sehr engen Serpentinen als schmales Band hinauf. Immer dann, wenn sich zwei größere Fahrzeuge begegnen, gibt es ein Problem: Auch die beiden Busse, die gerade in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbei wollen, können dies nur mit viel Fingerspitzengefühl von Fahrern und Hilfspersonal bewältigen. Während sein Helfer mit den Fingern an der Außenwand neben der Tür Klopfzeichen gibt, rangiert der etwa 20jährige Buslenker das ebenso alt wie wie er scheinende, quietschende und scheppernde Gefährt wenige Zentimeter neben dem Abgrund entlang. Noch ein paar Meter, dann ist es geschafft. Alltag auf den schmalen Bergstraßen im Himalaya.

Nur eine Handvoll der Passagiere, die sich im Innern wie Sardinen in der Büchse zusammendrängen, zwischen sich noch jede Menge Säcke, Taschen und anderes Gepäck, steigt in Kaulithan aus. Schon die Bezeichnung Dorf scheint für diesen Siedlungsflecken beinahe übertrieben. Im Erdgeschoß eines Hauses ist ein Shop eingerichtet. Der junge Mann, Sohn der Inhaberin des Gemischtwarenladens, hat fast ständig zu tun. Ein Kunde will eine kühle Pepsi aus dem Kühlschrank, der mit Aufklebern des auch hierzulande präsenten Softdrink-Konzerns übersät ist. Eine junge Frau, kaum älter als 30, verlangt nach einer zweiten Zigarette, obwohl sie eine andere erst kaum zur Hälfte aufgeraucht hat. Der Blick in die Runde verrät: Hier gibt es alles, was die Dörfler so brauchen. Getränke, frische Eier, dunkelrot-feurig leuchtende Chillies, kleine grünorange Tomaten, Gewürze und Öl. Zum Kochen ebenso wie für Fahrzeuge und Maschinen. Dazu ein paar Exponate der Moderne wie Batterien und Kaugummis.

Ziemlich vergessen seien sie hier, sagt die Ladenbetreiberin. Daß die Straße halbwegs in Schuß ist, verdankt man wohl am ehesten dem Militär. Denn das unterhält im Nachbardorf Kakani, weitere viereinhalb Kilometer bergauf, ein Camp. Zunächst kommen ein paar Wohnhäuser in Sicht. Einfache, etwas windschiefe Bauten, teilweise rußgeschwärzt und mit gackerndem Federvieh davor. Ein Kleinkind übt sich im Dreiradfahren, ein paar ältere Mädchen und Jungen spielen, Frauen sind ins Gespräch vertieft. Bescheiden leben die Leute, meist von einem kleinen Feld, was sich über mehrere Ebenen terrassenförmig am Berghang erstreckt. Wer wohlhabender ist, kann sich auch eine bessere Heimstatt leisten – an einer Stelle wächst ein neues Haus in die Höhe, mauern zwei Männer gerade an einer Außenwand.

Auf dem Abschnitt, den sie das Militärcamp durchläuft, ist die Straße gänzlich schlaglochfrei. Aus einiger Entfernung dringen Kommandos, denn auf dem großen Platz wird gerade Marschieren geübt. Andere Soldaten schließen sich mit Feldgeschirr ihren Kameraden an, die auf einem schmalen Weg hangabwärts laufen. Die Offiziere müssen ihre Truppenteile in Bewegung und bei Laune halten. Nach dem Friedensabkommen zwischen der ersten Übergangsregierung und den Maoisten war vereinbart worden, daß im Vorfeld der Wahlen nicht nur die Kämpfer der Exrebellen in speziellen Lagern ausharren müssen. Auch die Soldaten der vormals Königlichen Armee wurden in ihre Camps und Kasernen verbannt. Hintergrund ist, daß viele Politiker, nicht nur die Maoisten, Zweifel an der Loyalität von Teilen des Offizierskorps gegenüber der Demokratie haben. Das Militär war die wichtigste Bastion des entmachteten Königs. Und der viel­umstrittene traditionelle Ehrensalut für den Monarchen ausgerechnet am ersten Jahrestag des siegreichen Volksaufstandes am 24. April einschließlich des Abspielens der ehemaligen royalistischen Nationalhymne erschien vielen als deutlicher Beweis.

Ein zehnjähriger Junge treibt die kleine Ziegenherde nach Hause, die er tagsüber gehütet hat, in der Ferne zieht ein Gewitter auf. Düstere Wolken umspielen eine Bergkuppe, das Kathmandutal ist völlig im Grau verschwunden. Ein Symbol, wie es scheint. Denn obgleich man hier noch im äußeren Dunstkreis der Hauptstadt ist, fühlen sich die Leute weitab der Entscheidungszentren der Politik. Die asphaltierte Straße und Elektrizität für ihre armseligen Häuser – viel mehr hat der Staat ihnen an Anschluß an die moderne Welt bisher nicht gebracht. Um wieviel trostloser, vergessen von den Regierenden sieht es da in anderen, von der Hauptstadt weiter entfernten Landesteilen aus – die Einwohner der dünnbesiedelten Hochgebirgsregionen ebenso wie in der Tiefebene des Tarai sehen sich vernachlässigt von den Politikern, die bislang selten über den Tellerrand des Kathmandutals hinausgeblickt haben.

Geburtsort Buddhas

Im Herzen Lumbinis sitzt Gri Baba an einem der kleinen Stände auf einer Bank und nimmt einen Zug von seiner Zigarette. Verdiente Pause für den Enddreißiger, der sich seinen Lebensunterhalt mit der Fahrradrikscha verdient. Die Luft flirrt von der Hitze, fast 40 Grad herrschen nachmittags an manchen Tagen hier im Flachland vor den Bergen. Wer es sich leisten kann, bleibt im Schatten, bis die Sonne tiefer steht. Doch an diesem Tag ist ohnehin nicht viel los. Es ist das Finale eines dreitägigen Generalstreiks, den das Madhesi Janadhikar Forum (MJF) im ganzen Tarai ausgerufen hat. Es ist jene Organisation, die sich mehr als alle anderen in letzter Zeit als radikale Interessenvertreterin der Bevölkerung der Ebene zu profilieren vermochte. Eine föderale Republik, Autonomierechte für den Tarai, gleichberechtigter Zugang der Tieflandbewohner zum Staatsdienst. So die zentralen Forderungen, die von vielen unterstützt werden. Auch Rikschafahrer Gri Baba, in seiner bedächtigen Art über den Verdacht des Extremismus erhaben, findet den Streik als Warnsignal an die Regierung und Druckmittel richtig. »Die Politiker im fernen Kathmandu sollen unsere Probleme ernst nehmen«, wünscht sich der Mann, der für Frau und vier Kinder zu sorgen hat. Acht, sechs und vier Jahre alt sind die Söhne, dazu das Baby, kaum ein Jahr. Er will ihnen eine ordentliche Bildung ermöglichen – er ist nie über die Mittelschule hinausgekommen, hat sich sein erstaunlich gutes Englisch selbst beigebracht.

Lumbini gilt als eine der Touristenattraktionen des Landes. Vor mehr als 2000 Jahren wurde hier der Überlieferung nach Buddha geboren. Ein alter Tempel, der daran erinnert, bildet das Herzstück des Historischen Parkes, dessen Eingangsportal in Sichtweite von Gri Babas Ruheplatz hinter der staubigen Straße liegt. Überall auf dem mehrere Quadratkilometer großen Gelände wachsen prunkvolle neue Tempelanlagen der buddhistischen Länder in die Höhe. Ein chinesischer, ein tibetischer und ein burmesischer sind schon fertig, der koreanische im Rohbau, ein nepalesischer und ein vietnamesischer kurz vor Fertigstellung. Während die Familien von Gri Baba und seinen Kollegen wie auch die der Bauern in den Dörfern ringsum, die ihre Ernte einfahren, mit wenigen hundert Rupien auskommen müssen, werden bei den Tempeln Millionen verbaut.

Gri Baba glaubt an die Republik, hat vom König ebenfalls die Nase voll. Zugleich aber auch von der Politikerkaste in der Hauptstadt, die das Land seit Jahren dominiert und von der die Tarai-Bevölkerung, wie er meint, wenig erwarten könne. Wenn das Madhesi-Forum, das sich auch gegen interne Widerstände als Partei hat registrieren lassen, zu den Wahlen antreten sollte, wird es vermutlich auch Gri Babas Stimme erhalten.

Einer, der keinerlei Verständnis für das MJF und dessen Aktion aufbringt, ist Lila Mani Sharma. Er ist Inhaber einer der Lodges im neuen Teil Lumbinis. Streiks sind nicht nur schlecht für das Geschäft. Sharma zweifelt auch an der Seriosität des Forums. Vielleicht liegt es ja daran, daß er nach dessen Maßstäben auch ein »Fremder« ist. Zwar wurde er 1983 hier in Lumbini geboren – »ganz nahe der Stelle Buddhas« –, doch seine Familie stammt aus den Bergen. Er ist skeptisch, was die Fähigkeit der Regierung betrifft, die wachsenden regionalen Spannungen abzubauen.

Auf der Hauptstraße in Pokharas Stadtteil Lakeside, benannt nach dem malerischen Fewa-See, hält ein Kleinbus. Fähnchenschwenkende Aktivisten sitzen im Innern und auf dem Fahrzeugdach – Mitglieder der jungen Garde der Maoisten. Mit gemischten Gefühlen blicken Gita und Narayan Sigdel von der anderen Straßenseite auf den nun langsam im Klang von Sprechchören davonrollenden Bus. »Ja, die haben hier noch immer großen Einfluß«, sagt dann die junge Frau mit Blick auf die ehemaligen Rebellen. Obwohl die Stadt selbst, wie ihr Mann erläuternd hinzufügt, eher eine Hochburg der Vereinigten Marxisten-Leninisten (UML) ist, hat die CPN-Maoist ihre Hauptbastion doch in den Dörfern der Umgebung.

Skepsis macht sich breit

Narayan Sigdel und seine Frau stammen selbst vom Dorf. Doch dann sind sie in die Stadt gezogen: »Nur hier können wir unseren Kindern eine ordentliche Zukunft bieten«, sagt der Geographielehrer mit 19 Jahren Berufserfahrung auf die Bildungschancen bezogen. In Pokhara, wo Gita Sigdel ein mit Kredit aufgebautes Internetcafé betreibt, gehen die Jungs in die 2. und 5. Klasse von Privatschulen, die gerade im urbanen Raum Nepals neuerdings wie Pilze aus dem Boden schießen. Da es staatlichen Bildungseinrichtungen oft am Notwendigsten fehlt, ist der Ansturm groß, da viele Eltern bei den Privatschulen für das gezahlte Geld auch bessere Qualität vermuten. Ein Anspruch, der nicht immer befriedigt wird, wie eine staatliche Untersuchungskommission gerade belegt hat.

Narayan Sigdel, das Basecap in den Nacken schiebend, läßt kaum ein gutes Haar an den politischen Kräften im Himalayastaat. Die Monarchie sei am Ende, diesen Glauben teilt er mit der Mehrzahl seiner Landsleute. Doch neben seiner Skepsis gegenüber den Maoisten hat er auch kein Vertrauen in die anderen Mitglieder der Acht-Parteien-Regierung. »Was da läuft, ist doch nur Gerede. Jeder will einen Ministerposten mit großem Büro und Dienstwagen. Um die Probleme der Menschen schert sich niemand – die Dörfer, in denen es manchmal nicht mal Strom gibt, keine medizinische Versorgung und kaum ordentliche Schulen.« Ein Jahr nach der friedlichen Revolution, die Nepal zur Demokratie zurückbrachte und den eine Dekade währenden Bürgerkrieg offiziell beendete, werden die grundlegenden Errungenschaften der neuen Zeit zwar gefeiert. Doch Freiheit allein macht nicht satt, sichert nicht das tägliche Überleben – und die scheinbar zunehmende Beschäftigung der Politiker mit sich selbst hat viele Nepalis enttäuscht, einige gar verbittert.

* Aus: junge Welt, 12. Mai 2007


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