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"Wir essen keine Gebäude"

Neue Straßennamen statt wirklichen Wandels: 22 Jahre nach der Unabhängigkeit fühlen sich die meisten Namibier noch immer nicht frei. Ein Besuch in der Hauptstadt Windhuk

Von Christian Selz *

Majestätisch thront die Christuskirche über Windhuk. Die grob geschlagenen Steine im sandfarbenen Mauerwerk wirken historisch, die rund geschwungenen Fenster – das über dem Altar ist eine Spende von Kaiser Wilhelm II. – strahlen traditionelle Eleganz aus. Seit ihrer Fertigstellung 1910, als in der jungen Kolonialhauptstadt noch Pferdekutschen und Ochsenkarren über die unbefestigten Schotterpisten holperten, ist die Kirche deren Wahrzeichen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es inzwischen höhere Gebäude in Windhuk gibt. Eines steht mit dem neuen Nationalmuseum, einem häßlich verspiegelten Klotz, direkt nebenan – dort, wo die deutsche Schutztruppe im Zuge des Völkermords einst die unterworfenen Herero in eins der Konzentrationslager pferchte. Beim Bau sollen die Arbeiter hartnäckigen Windhuker Gerüchten zufolge auf menschliche Gebeine gestoßen sein, die Regierung hielt die Sache jedoch unter Verschluß. Geschichtliches wird nicht aufgewühlt in Namibia. Lediglich die Straße, die an der Kirche, am Museum und an der dieser Tage mit vertrockneten Blumenkränzen geschmückten Reiterstatue zu Ehren der »tapferen deutschen Krieger« vorbeiführt, wurde umbenannt. Einst trug sie den Namen des ehemaligen Schutztruppen-Kommandeurs und Deutsch-Südwest-Gouverneurs Theodor Leutwein. Inzwischen schreitet man auf der Robert-Mugabe-Avenue die namibische Geschichte ab.

Issaskar Pejarukani sitzt hinter dem Empfang der Windhuker Touristeninformation. Eine Karte, die die Umbenennungen hervorhebt, gibt es nicht, aber er zeichnet sie bereitwillig in den neuen Stadtplan ein. Ein nachdenklicher Blick ins Leere, ein langer Strich mit dem Marker – die Prozedur geht so im Wechsel ein paar Minuten lang. Am Ende strahlt der Faltplan fast flächendeckend neongelb. »Die Weißen haben ein Jahrhundert lang in diesen Gegenden gelebt, aber andere meinen, daß wir diese Namen ändern müssen, weil sie für uns in einem demokratischen Umfeld keine Relevanz mehr haben«, erklärt Pejarukani den Konflikt um die Straßennamen. Wirklich streitbar ausgetragen wurde der allerdings nur in den wenigsten Fällen. In der Küstenstadt Swakopmund, einst südlichstes Seebad des Deutschen Reichs, war der Punkt 2002 erreicht, als die Stadtverwaltung die Kaiser-Wilhelm-Straße zugunsten des ersten frei gewählten und damals noch amtierenden Präsidenten Sam Nujoma umbenannte. Ein »Komitee besorgter und betroffener Bürgerinnen und Bürger« fühlte sich in seinen Minderheitenrechten verletzt, bemängelte die Kosten für neue Visitenkarten und hängte an den eigenen Wohnhäusern trotzig Schilder mit dem alten Straßennamen auf. Der Protest verlief im endlosen Sand der Namibwüste, und die Umbe­nennungen gingen weiter, schrittweise, bis heute. Große Aufregung gab es allerdings erst 2011, als die Stadtverwaltung die Gloudina Street im Nobelvorort Ludwigsdorf, wie so viele Nebenstraßen in der Gegend unverfänglich nach einem Frauennamen benannt, zu Ehren des verstorbenen Ehemanns der Justizministerin Penduken Iivula-Ithana in Joseph Mukwayu Ithana Street umbenennen wollte. Der deutschstämmige Anwalt und Anwohner Andreas Vaatz, der vor Gericht angab, bereits seit 27 Jahren in dem Straßenzug zu wohnen, klagte – und verlor selbstverständlich. Dabei hätte der erfahrene Rechtsgelehrte sein Unheil kommen sehen müssen: Schon 1989, kurz vor der Unabhängigkeit Namibias von weißer, südafrikanischer Besatzung, hatte er einem Spiegel-Reporter in den Block diktiert, daß es »drunter und drüber« gehen werde infolge der Afrikanisierung.

»Leider hat dieser Gentleman eine verlorene Schlacht gekämpft, er hat sein Geld im Abfluß versenkt«, sagt Pejarukani mit deutlich ironischem Unterton und einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel läßt, wie egal ihm der Fall ist. »Die Leute kümmern sich nicht um diese Sachen«, sagt er. Sie haben andere Probleme. »Weil es kein Komitee dafür gibt, weiß ich nicht einmal, wie diese Sachen verlaufen. Das ist keine Demokratie, denn wenn man eine Menge Menschen hat, die aus Verbundenheit wählen und die in der Mehrheit sind, dann ist das nicht der Wille des Volkes«, bricht es schließlich aus ihm heraus. Pejarukani ist Herero, die Regierung wird aber von der Bevölkerungsgruppe der Ovambo dominiert. Pejarukanis Wut ist charakteristisch für die Risse in der namibischen Gesellschaft. »Wenn man eine ethnische Gruppe hat, die die Hälfte der Bevölkerung ausmacht und regiert, ist das wirklich Demokratie?« fragt er rhetorisch und gibt sogar noch die Antwort: »Ist es nicht!«

Der 46jährige sagt all das natürlich nicht als Mitarbeiter der Touristeninformation, sondern »als freier Namibier«. Auf die Feststellung legt er Wert, auch wenn er erst überlegt, ob es überhaupt gut ist, seinen Namen zu verraten. Doch Pejarukani ist kein Konformist. Als Jugendlicher war er ins Exil gegangen, zunächst nach Botswana, später mit einem Stipendium der Otto-Benecke-Stiftung zum Studium nach Kenia. »Für mich ist der Kampf noch nicht vorbei, politisch, wirtschaftlich und sozial. Ich habe für die komplette Befreiung des Landes gekämpft, aber ohne Land sind wir nicht frei. Unser Land ist noch immer in den Händen derer, die behaupten, sie hätten es von ›ich weiß nicht wem‹ bekommen.« Das sind die wirklichen Themen in Namibia.

»Es gab seit der Unabhängigkeit kein radikales Umverteilungsprogramm irgendeiner Art«, sagt der Mitgründer und jahrelange Direktor des gewerkschaftsnahen Bildungs- und Forschungsinstituts LaRRI (Labour Ressource and Research Institute), Herbert Jauch. »Die Beispiele springen wirklich ins Auge: Die Fisch­industrie ist unter totaler Kontrolle ausländischer Unternehmen, die Minen ebenfalls, und die kommerziellen Farmen sind überwiegend in weißer Hand.« Es gibt zwar eine Umverteilungspolitik nach dem Prinzip williger Käufer und Verkäufer, wobei entweder schwarze Privatpersonen ein Vorkaufsrecht zu Marktpreisen bekommen oder der Staat einen Hof erwirbt und an »ehemals benachteiligte Menschen« weitergibt. Doch die Budgets sind klein, der Prozeß verläuft langsam, und die Landarbeiter bleiben aufgrund ihrer Armur und mangelnder Qualifikationen sowieso außen vor. Ohnehin nur zehn bis 50 Farmen habe der Staat bisher pro Jahr gekauft, rechnet Jauch vor – im ganzen Land gäbe es aber rund 5000. Zudem umgehen verkaufswillige Besitzer die Gesetzgebung vielerorts mit einem juristischen Kniff: Sie bauen ihren Betrieb auf dem Papier zu einem Unternehmen um und verkaufen Aktienpakete – so können sich auch ausländische Farmer mit einem Mehrheitsanteil einkaufen, jedes Jahr einmal auf Urlaub vorbeischauen und ansonsten einen Angestellten mit der Bewirtschaftung beauftragen.

Die einst als sozialistisch geltende Regierungspartei SWAPO – vor allem die Verbände der damaligen South-West Africa People’s Organisation zwangen im Verbund mit angolanischen und kubanischen Einheiten die südafrikanischen Apartheid-Truppen zum Rückzug – hat sich zu einer Partei der neoliberalen Zustandsverwaltung gewandelt. Doch der Prozeß war vorbestimmt. In der Landfrage sind der namibischen Regierung durch ein Abkommen bei den Unabhängigkeitsverhandlungen für radikalere Maßnahmen die Hände gebunden. Auch die Privatisierung der staatlichen Schlüsselbetriebe trieb bereits die Übergangsregierung hastig voran. Krankenhäuser, Postwesen, Wasserwerke und Stromerzeuger, ja selbst die Sozialwohnungen der Ärmsten gingen zumindest teilweise in Investorenhände über. Diese Umwälzungen blieben nicht folgenlos: Die offizielln Arbeitslosenquote beträgt inzwischen 51 Prozent in dem extrem rohstoffreichen Zwei-Millionen-Einwohner-Land. »Der einzige Wandel, der wirklich stattgefunden hat«, sagt Jauch, »war der politische. Nun entscheiden Mehrheiten, wer regiert«. Wegen des fehlenden wirtschaftlichen Umbruchs existiert auch keine soziale Einheit in Namibia. Weil die guten Schulen hohe Gebühren verlangen, findet das Aufeinandertreffen vormals nach Hautfarben getrennter Kinder nur in der Mittel- und Oberschicht statt. Wer arm ist, ist in der Regel schwarz und bleibt bei sozialer Teilhabe, Bildung und Berufschancen außen vor.

Doch selbst gute Bildung ist keine Garantie für gute Arbeit. Auch Namibia funktioniert über Netzwerke und Beziehungen. Im heruntergewirtschafteten zentralen Zoo-Park zwischen der Fidel Castro Street und der nach dem Bremer Händler, Kolonialisten und Städtegründer benannten Lüderitzstraße lungert eine Gruppe hochdeutsch sprechender Ovambo herum. Diese »DDR-Kinder«, wie sie in Namibia genannt werden, brachte die SWAPO nach dem Angriff südafrikanischer Truppen auf das Flüchtlingslager Kassinga mit Unterstützung der SED-Führung ab 1979 in die DDR. In der Schule der Freundschaft in Staßfurt (Sachsen-Anhalt) wurden sie unterrichtet, ehe es in den Wendewirren 1990 zurück nach Namibia ging. Nicht alle haben die Wiedereingliederung geschafft. Die Männer im Park beispielsweise sammeln bei ahnungslosen Touristen Geld für eine Ausstellung über ihre Geschichte. Wirklich viel reden wollen sie darüber mit einem Journalisten aber offensichtlich nicht. Was nicht weiter verwundert, denn die Sache ist frei erfunden, das Geld dient dem Alkohol- und Drogenmißbrauch, den die hektischen Augen der Betrüger allzu offensichtlich preisgeben. Der Freundeskreis der redlichen DDR-Kinder hat sich mehrmals von den kreativen Gaunern distanziert, die lokale Presse immer wieder berichtet. Doch glaubt man den ausgedruckten Spendenlisten, funktioniert die Masche noch immer bestens.

Es ist spät geworden, ein kräftiger Wolkenbruch hat die heiße Nachmittagsluft in Namibias Kapitale gereinigt, den Smog durch die großen Gullys gespült. Gegen 17 Uhr wird das Treiben auf der Independence Avenue am unteren Ausgang des Zoo-Parks kurz ungewöhnlich hektisch. Der Verkehr staut sich, aus den Geschäftsklötzen der Innenstadt strömen die Menschen an den Straßenrand. Die Restaurants heißen hier neben internationalen Ketten wie »Mugg & Bean« noch immer »Kaiserkrone« oder »Café Schneider«. Gegenüber der »Blumen­ecke« schließt gleich der »Bücherkeller« und auch »Leder Chic« bietet seine zu Haute Couture verarbeiteten, gegerbten Häute in deutscher Sprache feil. Die allermeisten Angestellten dieser Geschäfte aber wohnen nicht hier, sondern am anderen Ende der zehn Kilometer langen Straße, die vor der Unabhängigkeit Kaiserstraße hieß und als erste umbenannt wurde. Kleine Sammeltaxis, die häufig wartungsbedürftig wirken, aber stattlichen Soundanlagen haben, bringen sie hin und zurück. Der Fahrer heute hat ein Hühnerkrähen als SMS-Klingelton, und wenn er nicht gerade textet, dann hupt er – um neue Kunden zu finden oder später, näher am Ziel, kleine Kinder auf Plastikmotorrädern von der Straße zu bitten.

Dort, fernab der Innenstadt und weit weg von den ehemals nur von Weißen bewohnten Vierteln liegt das Township Katutura. Der »Ort, an dem wir nicht leben wollen«, wie die Herero es nannten. Während des Apartheidsregimes ließen den Menschen dort Rassismus und Zwangsvertreibungen keine andere Wahl. Heute zieht weg, wer es sich leisten kann, und neu zu, wer auf dem Land noch perspektivloser ist. Insbesondere der ärmste Teil des Viertels wächst. Katutura ist wie eine eigene Welt, vom Rest der Stadt mehr getrennt als mit ihm verbunden durch eine Straße, die die Unabhängigkeit nur im Namen trägt. Bis auf ein paar schwarze Anzugträger, die sich in der Mittagspause schnell an einer Mahlzeit Kapana mit Pap – in Streifen geschnittenem Rindfleisch vom Grill mit festem Hirsebrei – laben, traut sich kaum einer aus den Chefetagen der Gesellschaft auch nur zu Besuch hier raus. Weiße Namibier sind zwischen den Gewürzständen und Mahangu-Bier-Verkäuferinnen nicht zu sehen.

Samuel Kapepo ist hier zu Hause. Er kam vor zwölf Jahren in der Hoffnung auf eine etwas bessere Zukunft aus dem ländlich geprägten Norden, dem ehemaligen Ovamboland, in den Stadtteil, den er heute nicht ohne Stolz »mein Ghetto« nennt. Der damals 15jährige war allein, die Eltern früh an AIDS gestorben. Er hat sich durchgebissen und nach drei Jahren mit Freunden eine Suppenküche für Kinder aufgebaut. »Ich kenne die Schmerzen, in diesem rücksichtslosen Leben aufzuwachsen«, erzählt er relativ kühl von seinen Beweggründen. Heute ist Kapepo Botschafter der Nichtregierungsorganisation Oxfam, die Suppenküche hat 200 regelmäßige Gäste und Kapepo immer noch kein Geld. Als er mal für ein paar Jahre einen festen, einigermaßen gut bezahlten Job hatte, nutzte er seinen Verdienst, um Kindern aus der Nachbarschaft die Schule zu finanzieren. Er selbst lebt bis heute in einer Blechhütte und zeichnet ein dramatisches Bild: »In den reichen Stadtteilen sieht man nachts Polizei und Sicherheitsdienste, hier sieht man sie nicht. Leute werden vergewaltigt, Menschen werden abgeknallt wie Wölfe, jede Nacht hörst du die Pistolenschüsse.« In Havanna, einem Teil des Township, gebe es nicht einmal Toiletten, erzählt er.

Auf die Umbenennung der Straßen angesprochen, geht Kapepo vor Wut in die Luft. »Das ist Geldverschwendung! Was nützen die schönen Namen, wenn unsere Leute wie Hunde, wie wilde Tiere auf der Straße leben?« Die Politiker seiner Regierung hält Kapepo für korrupt, ignorant und verschwenderisch. Er sieht sie nur alle fünf Jahre, sagt er, vor den Wahlen. Bei einer Partie Billard und einer Cola redet er sich seinen Frust von der Seele und gerät immer mehr in Rage. Es geht ihm nicht um Ideologien und große Konzepte, sondern schlicht um Arbeit und eine gesicherte Ernährung für sich und seine Nachbarn. Große Symbole und nach vermeintlichen Helden benannte Straßenzüge spielen da keine Rolle. »Das macht doch keinen Sinn, ein schickes Haus zu haben, aber die Leute drinnen leiden«, bringt er das Dilemma Namibias auf den Punkt. »Die bauen ein schönes Museum – aber wir essen keine Gebäude.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 7. April 2012


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