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Tage des Zorns

Hintergrund. Zum Stand der Proteste in Nordafrika und der arabischen Welt

Von Karin Leukefeld *

Die Aufstände der Bevölkerung in Nordafrika und der arabischen Welt lösen laut einer ARD-Umfrage vom Februar 2011 eher Sorge als Optimismus aus. Die Befragten fürchten »Instabilität und Chaos, Flüchtlingsströme in Richtung Europa, eine Machtübernahme durch Islamisten, Gefahr für die Sicherheit Israels und Armut, Elend und Gewalt.« Die Angst vor »Islamisten« ist tief im Denken der deutschen Mehrheitsgesellschaft eingeprägt; »Islamisten« werden mit »Arabern« weitgehend gleichgesetzt. Schon 2008 fand das Allensbacher Institut heraus, daß 56 Prozent der Deutschen sich durch einen »Kampf der Zivilisationen« zwischen Christentum und Islam bedroht fühlten. Beim Stichwort »Islam« denken die Deutschen an »Unterdrückung der Frau«, stellte das Institut im Oktober 2010 fest. Und das PEW-Forschungszentrum in Washington berichtete, acht von zehn Deutschen setzten Islam gedanklich mit Fanatismus gleich.

Mit solchen Stereotypen und Vorurteilen haben die Umbrüche in der arabischen Welt nichts zu tun. Schon 2008 wiesen der Anthropologe Emmanuel Todd und der Soziologe Youssef Courbage (Die unaufhaltsame Revolution – Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern, München 2008) vom »Institut für Demographische Studien« (Paris) auf eine »unaufhaltsame Revolution« hin, die die »scheinbar so festgefügten Gesellschaften der islamischen Welt in einer stillen, aber dramatischen Revolution (...) komplett verändern« würde. Dabei ist die arabische Welt nur ein Teil der islamischen Welt, die von Asien über die arabische Halbinsel bis tief in den afrikanischen Kontinent reicht. In nur 30 bis 40 Jahren seien dort Entwicklungsprozesse verlaufen, die in Europa seit dem 18. Jahrhundert bis heute anhalten, so Todd und Courbage. Die rasante Alphabetisierung in der islamischen Welt habe das demographische und kulturelle Gefüge verändert, Frauen haben sich emanzipiert, das Konsumverhalten ändert sich, die Bedeutung der Religion geht zurück. Der intensive Austausch von arabischen Einwanderern in Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland mit ihren Familien im Herkunftsland habe die »kulturelle und geistige Modernisierung« in diesen Ländern beschleunigt, so Youssef Courbage im Gespräch mit der Autorin. Während Vertreter der These vom »Kampf der Zivilisationen« die westliche, christliche Zivilisation als rational und Muslime als irrational bezeichneten, zeige die Entwicklung, daß verschiedene Kulturen und Religionen aufeinander zustrebten. »Die Menschen überall in der Welt denken und handeln rational«, sagt Courbage. »Sie befinden sich lediglich historisch auf unterschiedlichen Stufen.«

Respekt und Teilhabe

Die Folgen dieser Veränderung sind seit Anfang des Jahres in den arabischen Staaten zu sehen. Die Menschen holen ihre »historische Verspätung« auf, sie fordern Respekt und Teilhabe, was ihnen von langjährigen Machthabern zwar immer versprochen, doch systematisch vorenthalten wurde. Nun haben sie die Tür in die Zukunft selber aufgestoßen.

In Tunesien und Ägypten begannen die Aufstände mit dramatischen Selbstverbrennungen einzelner, die keinen anderen Ausweg sahen, um auf ihre aussichtslose wirtschaftliche und soziale Lage hinzuweisen. Damit war ein zentraler Nerv der Bevölkerung getroffen; Armut, Ausgrenzung und Erniedrigung kannten die meisten. Die daraufhin von Aktivisten einer jungen, gut ausgebildeten Generation in den Städten organisierten Proteste explodierten innerhalb kürzester Zeit und wurden zu Massendemonstrationen. Keiner der Organisatoren hätte sich das je träumen lassen. Berufsverbände und Gewerkschaften schlossen sich an, legale und illegale Parteien folgten nach anfänglichem Zögern ihren Jugendorganisationen, die ihnen einfach davonliefen. Besondere Kraft entwickelten die Aufstände dadurch, daß sie sich über das ganze Land verteilten und gewaltsamen Angriffen von Polizei und Sicherheitskräften entschieden trotzten, ohne selber zu Waffen zu greifen. Entscheidend für ihren Erfolg war, daß die Streitkräfte ihre bisherigen Oberkommandierenden und Regierungschefs nicht mehr stützten.

Beflügelt von dem Mut und der Entschlossenheit der Tunesier und Ägypter folgten Massenproteste in fast allen Staaten der Arabischen Liga. In Jordanien, Jemen, Bahrain und Irak, auch in Algerien, Marokko, in Libyen und Sy­rien, in Oman und Saudi-Arabien gingen die Leute auf die Straße. Im Libanon protestiert die Jugend seit Wochen für ein säkulares politisches System, selbst in den besetzten palästinensischen Gebieten organisierte die Jugend schließlich Proteste. Nicht gegen die israelische Besatzung, sondern für die Einheit der palästinensischen Parteien.

Bürgerkrieg in Libyen

Die Proteste in Libyen weiteten sich rasch zu einem Bürgerkrieg aus, was die Demonstranten, die am 14. Februar in Bengasi für mehr Rechte auf die Straße gingen, vermutlich nicht im Sinn gehabt hatten. Sie forderten Gerechtigkeit für erfahrenes Unrecht, hatten aber seit Jahren kein Gehör (mehr) bei Muammar Al-Ghaddafi gefunden. Irritiert von den Entwicklungen in Tunesien und Ägypten – ein auf dem Tahrir-Platz kursierender Witz sagt, Ghaddafi habe den Freitag aus dem Kalender gestrichen, nachdem sowohl Ben Ali (Tunesien) als auch Hosni Mubarak (Ägypten) an einem Freitag abtraten –, ließ der libysche Machthaber bewaffnete Sicherheitskräfte gegen die jungen Leute marschieren, ausländische Medien sorgten für einen Aufschrei gegen die Gewalt. Bald darauf schlossen sich den jungen Menschenrechtlern und Angehörigen politischer Gefangener Stammeskämpfer und ehemalige Ghaddafi-Getreue an, die sich mit dem Machthaber überworfen hatten. Als dann noch Soldaten und Offiziere zu ihnen überliefen, bestimmten Waffen, Kämpfe und entsprechende Bilder die Schlagzeilen. Politische Forderungen traten in den Hintergrund, was blieb, war der Ruf nach dem »Sturz des Diktators«. Durch das Agieren westlicher Geheimdienste und das massive einseitige Eingreifen der westlichen Allianz und dann der NATO ist dieser Bürgerkrieg inzwischen zu einer westlichen Intervention geworden. Weil man Bodentruppen (noch) nicht schicken mag, wird laut über Waffenlieferungen an die Ghaddafi-Gegner nachgedacht. Die Forderung »Ghaddafi muß weg« von USA und EU verbaute von Anfang an alle diplomatischen Bemühungen für eine Verhandlungslösung. Entsprechende Angebote aus Venezuela, aus der Türkei und von der Afrikanischen Union ignorierte der Westen. Die großen Öl- und Gasreserven des Landes dürften ein Grund für die übereifrige Begierde sein, militärisch zu intervenieren. Aber man will auch kurzen Prozeß machen mit dem früheren Unterstützer linker und nationaler Bewegungen im Trikont. Dabei hatte der sich von seinen einstigen Prinzipien längst weit entfernt und pflegte in den letzten Jahren mit denen, die ihn heute jagen, enge Beziehungen. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy scheint die Erinnerung an seine engen Beziehungen zu Ghaddafi geradezu wegbomben zu wollen. Die alte Kolonialmacht Libyens, Italien, löste stillschweigend einseitig einen Friedensvertrag mit dem nordafrikanischen Land und stellt Basen für Luftwaffe und Marine zur Verfügung. Das massive Eingreifen der westlichen Militärallianz verhindert die Formierung einer genuinen libyschen Oppositionsbewegung.

Aufruhr in Syrien

Zu Unruhen kam es auch in Syrien. Ausländische Medien und Menschenrechtler betonen, die Demonstranten hätten Freiheit und den Sturz des Regimes gefordert, das seinerseits von einer »ausländischen Provokation« spricht. Die Hintergründe der Proteste bleiben unklar, zumal sie sich auf zwei Städte konzentrieren. Die Syrer wollen seit langem mehr Freiheit und vor allem die Aufhebung des Ausnahmezustandes, doch vieles hat sich in den letzten zehn Jahren auch geändert, seit Baschar Al-Assad die Macht übernahm. Inzwischen kündigte die syrische Regierung Reformen an, der Ausnahmezustand – in Kraft seit 1963– soll aufgehoben, die Neugründung von Parteien zugelassen, gegen Korruption schärfer vorgegangen werden. Landesweite Massendemonstrationen für Präsident Assad und sein Reformprogramm haben die anderen Proteste in den Schatten gestellt, und auch, wenn sie staatlich organisiert waren, zeigen sie den Wunsch nach Reformen, nicht nach Revolution.

Auf die Geschehnisse in Syrien blicken sowohl die Araber als auch der Westen mit ähnlicher Spannung wie zuvor auf die Entwicklung in Ägypten. Beide Staaten gelten als arabische Schwergewichte und politische Kontrahenten. Syrien behauptet sich trotz Sanktionen und ständigem Druck als Widersacher einer (westlichen) Neuordnung des Mittleren Ostens, die mit der Invasion in den Irak 2003 eingeleitet werden sollte. Als Bündnispartner der libanesischen Hisbollah und der palästinensischen Hamas und wegen der strategischen Partnerschaft mit dem Iran wird Syrien von Israel und dessen westlichen Verbündeten attackiert. Auch arabische Staaten reagieren auf die Nähe Syriens zum Iran mit Mißtrauen. Ägypten hingegen galt unter Mubarak als westliche Bastion in der Region und Stütze Israels zur Isolation und Befriedung der Palästinenser. Sollten die beiden Staaten sich in Zukunft verbünden, hätten Israel und der Westen in der Region ein weiteres Problem. Wie das neue Ägypten sich positionieren wird, bleibt abzuwarten. Mitte März erklärte der ägyptische Verteidigungsminister, General Mohammed Hussein Tantawi, man sei darauf bedacht, mit Syrien »beste Beziehungen« aufzunehmen.

Unterschiedliche Gesellschaften

So wie die politischen Systeme unterscheidet sich auch der Entwicklungsstand in den arabischen Ländern, die jetzt mit Aufständen von sich reden machen. Dabei sind die nordafrikanischen Länder in ihrer Entwicklung am weitesten, die Golfstaaten gehören vom Bruttosozialprodukt her zu den reichsten Staaten der Welt, sind ansonsten aber stark von einem konservativen Gesellschaftsbild geprägt. Die Mehrheitsbevölkerung in allen 22 Staaten der Arabischen Liga ist jünger als 25, wobei der Anteil der Analphabeten unter den 15- bis 25jährigen unterschiedlich hoch ist. In Marokko beträgt ihr Anteil 30 Prozent, in Tunesien vier Prozent, in Ägypten sind es 15 und in Libyen nur ein Prozent, wie einem Bericht in der Le Monde Diplomatique (LMD März 2011) zu entnehmen ist. Unterhalb der Armutsgrenze (zwei US-Dollar/Tag) leben in Tunesien und Libyen etwa zehn Prozent der Bevölkerung, wobei Libyen nur etwa sechs Millionen Einwohner hat, Tunesien aber zehn Millionen. In Ägypten leben etwa 50 Prozent der 84 Millionen Menschen in Armut, im Jemen (knapp 30 Millionen) sind es mehr als 60 Prozent.

Die gesellschaftlichen Strukturen in den Ländern der arabischen Liga differieren ebenfalls stark. Sind in Ländern wie Libyen, Jemen, Saudi-Arabien, Jordanien, Irak und den Golfstaaten die Strukturen traditioneller Stammesfamilien sehr ausgeprägt, wirken Tunesien, Algerien und Marokko, Ägypten, Libanon und Syrien vor allem in den Städten eher europäisch. In fast allen Ländern zieht es die Bevölkerung in die Städte, weil die Entwicklung in ländlichen Gebieten vernachlässigt wird. Alle Länder sind mehrheitlich muslimisch, doch haben Christen in Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien und Irak bedeutenden Anteil an der Bevölkerung. Es gibt zwar islamische Parteien, wie die Muslimbruderschaft, die Hamas, Hisbollah und andere, doch keine dieser Parteien vertritt einen radikalen Islam wie er beispielsweise von den Wahabiten in Saudi-Arabien vertreten wird. Allerdings lehnen sie ausländische Einmischung und die Besatzungspolitik Israels ab. Bei den Protesten spielten diese Parteien keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle.

In Anbetracht der westlichen Darstellung, die Proteste seien vor allem durch Internet und Twitter organisiert worden, lohnt ein Blick darauf, wie viele Menschen eigentlich dort regelmäßig das Internet nutzen. Aus den Informationen der LMD geht hervor, daß in Ägypten beispielweise nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung das Internet nutzt. In Libyen sind es nur etwa zehn Prozent, im Jemen etwa fünf Prozent. Was die Menschen zusammengebracht hat, war wohl weniger eine »Internet-, Facebook- oder Twitter-Revolution« als vielmehr der Umstand, daß sie sich nicht länger von den Politikern beleidigen lassen wollten und ihre Angst überwunden haben. Die Betonung dieser »sozialen Medien« durch westliche Medien hat wohl eher damit zu tun, daß diese Technik diesen nutzt, da sie nur wenige Korrespondenten in der Region haben.

Von Tunis bis Manama

Während in Tunesien und Ägypten neue politische Systeme entstehen, haben die Aufstände in den anderen Ländern bis jetzt wenig erreicht. Im Jemen herrschen zudem kriegsähnliche Zustände, das Land gilt als das Armenhaus der arabischen Welt. Präsident Ali Abdullah Saleh ist seit mehr als 30 Jahren an der Macht, vor der Wiedervereinigung Jemens 1990 war Saleh bereits Präsident im nördlichen Teil des Landes. Hunderttausende protestieren weiter für den Rücktritt des Präsidenten, der von Saudi-Arabien und dem Westen gestützt wird. Die USA »helfen« Saleh finanziell und militärisch im »Kampf gegen den Terror«, der sich im Jemen in Gestalt von »Al Qaida der arabischen Halbinsel« angeblich auf eine neue Offensive vorbereiten soll.

Im Irak herrschen Krieg und Besatzung, das Land ist sozial und wirtschaftlich zerstört und zunehmend konfessionell gespalten. Die Proteste der vorwiegend jungen Bevölkerung richten sich gegen Korruption und Vetternwirtschaft, sie fordern Arbeit, eine bessere Versorgung mit Strom und Wasser und ein Ende der Gewalt.

In Marokko blieben die Proteste bisher überschaubar, waren allerdings über das ganze Land verstreut und flackern immer wieder auf. König Mohammed VI. verkündete Reformen und erklärte sich bereit, einen Teil seiner Macht abgeben zu wollen, Parlament und Regierung sollen gestärkt werden.

In Algerien wurde nach ersten Protesten der Ausnahmezustand aufgehoben, Präsident Abdelaziz Bouteflika versprach ein umfassendes Reformprogramm, wobei die Schaffung von Arbeitsplätzen und neuen Wohnungen Priorität habe. Gleichwohl kommt es weiter zu Demonstrationen, gegen die regelmäßig Sicherheitskräfte vorgehen.

Jordanien, enger Verbündeter der USA mit ähnlichen Aufgaben zur Befriedung der Palästinenser wie bisher Ägypten, wird von dem in den USA ausgebildeten König Abdullah in einer konstitutionellen Monarchie beherrscht. Die dortigen Proteste gingen zunächst von Muslimen aus, die mehr Rechte forderten und einen Regierungswechsel, den König aber nicht angriffen. Ähnlich positionieren sich die Studenten und jungen Leute, die inzwischen die Protestbewegung anführen und – ähnlich wie auf dem Tahrir-Platz in Kairo, in Bahrain und Jemen – auch im Zentrum Ammans Protestzelte aufgebaut haben.

Das Sultanat Oman ging schnell auf die Forderungen der Demonstranten ein, seitdem ist es wieder ruhig im Land geworden. Saudi-Ara­bien unterdrückte gewaltsam kleine Proteste und schickte demonstrativ seine Truppen in den Inselstaat Bahrain. Dort ist der Standort der 5. Flotte der US-Marine, zuständig für den Persisch-Arabischen Golf, das Rote Meer und die Arabische See. Die Medien reduzieren den Konflikt mittlerweile auf einen Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, entsprechende Stellungnahmen aus der (schiitisch) Islamischen Republik Iran verstärken den Eindruck. Der seit 1783 in der Erbmonarchie herrschenden Königsfamilie Khalifa dürfte das recht sein, so kann man die Demonstranten als von Iran gesteuert abtun und braucht sich mit deren Forderungen nicht mehr zu befassen. 60 Prozent der Bevölkerung sind schiitische Muslime, die wirtschaftlich und politisch wenige Chancen haben. Daß Aktivisten auf dem Perlenplatz in Manama immer wieder betonen, es ginge nicht um Religion, sondern um politische Reformen und mehr Rechte, wird weitgehend ausgeblendet.

Einmischung von außen

Israel, Europa und die USA standen zunächst sprachlos vor den Entwicklungen in Tunesien und Ägypten. Die arabische Jugend stürzte die Figuren, die jahrzehntelang mit finanzieller und militärischer Unterstützung des Westens an der Macht gehalten worden waren. Die »einzige Demokratie« im Mittleren Osten, wie Israel sich nennt, hat plötzlich Gesellschaft bekommen. Aus eigener Kraft, ohne Kriege, ohne Hilfe von außen, zeigt die arabische Jugend, welche Veränderung sie will und was sie unter Demokratie versteht.

Nun hat der »Kampf um die Herzen und Köpfe« begonnen. Hektisch machen sich westliche Vertreter auf die Suche nach »Führungspersönlichkeiten«, mit einer »Transformationspartnerschaft« sollen die Menschen in Ägypten und Tunesien in »Demokratieprogramme« eingebunden werden. Ausländische Stiftungen, staatliche und halbstaatliche Entwicklungsagenturen und Hilfsorganisationen sitzen in den Startlöchern und bereiten sich auf ihren Einsatz vor. Andererseits setzt der Westen mit dem Krieg gegen Libyen alles daran, die arabische Welt zu spalten. Mit Katar und Saudi-Arabien beteiligen sich inzwischen zwei Golfstaaten am Luftkrieg gegen das libysche Regime.

Für Europa und für die USA steht viel auf dem Spiel. Die Straße von Gibraltar, der Suezkanal und die Straße von Hormus sind wirtschaftlich und militärstrategisch wichtige Wasserstraßen. Die Öl- und Gasquellen in Libyen, am Golf und im Irak sind von höchster strategischer Bedeutung für den energiehungrigen Westen. Nordafrika und die arabische Halbinsel sind als Standorte in einem überregionalen Netz für Sonnen- und Windenergie für Europa fest eingeplant. Aus Marokko soll Strom nach Spanien geliefert werden. Öl- und Gas aus Libyen decken 70 Prozent des europäischen Bedarfs. Ägypten liefert Gas nach Israel. Der Zugriff auf die reichen Ressourcen der Region sollte durch die Mittelmeerunion abgesichert werden, in die auch Israel eingebunden ist, wogegen sich nicht nur der libysche Machthaber Ghaddafi aussprach, solange Tel Aviv nicht zum Frieden mit seinen arabischen Nachbarn bereit ist. Gleichzeitig sollen Abkommen – zum Beispiel mit Libyen – dafür sorgen, daß die europäische Schutzmauer gegen unerwünschte Flüchtlinge durch die Mittelmeeranrainerstaaten verstärkt wird.

Langer Prozeß

Europa und die US-Administration sind zu weit gegangen. In ihrer Gier nach Macht und Einfluß, nach Ressourcen und militärischer Dominanz haben die Aufstände der arabischen Welt ihnen Grenzen gesetzt. Ob sie diese halten und eine Politik im eigenen Interesse entwickeln können, ist noch nicht ausgemacht.

Auch wenn man von revolutionären Umwälzungen in den arabischen Staaten sprechen kann, handelt es sich doch keineswegs um Revolutionen. Revolutionär ist, daß Menschen, die lange Zeit stillhielten und Repression hinnahmen, widersprechen, ihre Forderungen klar formulieren, auf die Straße tragen, erheblichem Druck standhalten und selbst den Tod in Kauf nehmen. Der Erfolg in Tunesien und Ägypten wurde durch ein großes Bündnis aus allen Teilen der Gesellschaft möglich, die sich darin einig waren, die jeweiligen Regime zu stürzen. Doch nun, nach dem Sturz der Regime, beginnt der eigentliche Kampf, sagt Mamdouh Habashi, Vorstandsmitglied in dem von dem linken ägyptischen Ökonomen Samir Amin mitbegründeten »Arab & African Research Center« (www.aarcegypt.org) in Kairo. Mit der »Übergangszeit beginnt ein langer Prozeß, um die Forderungen der Revolution tatsächlich zu erreichen«, sagt er. »Das wird die eigentliche Revolution sein.«

* Karin Leukefeld ist freie Journalistin und berichtet regelmäßig für junge Welt aus dem Nahen und Mittleren Osten.

Aus: junge Welt, 2. April 2011



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