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Es ist eine Tragödie

"Weil es um Menschen geht, darf man nicht resignieren", sagt die Journalistin Karin Wenger

Wie kein anderer Konflikt polarisiert der israelisch-palästinensische die Meinung der Weltöffentlichkeit. Mit der Reise von US-Außenministerin Hillary Clinton diese Woche in den Nahen Osten keimte Hoffnung auf neue Friedensverhandlungen auf. Seit Jahren vor Ort ist die Schweizer Journalistin KARIN WENGER (Jg. 1979), u. a. Korrespondentin der "Neuen Zürcher Zeitung". Mit ihr sprach für das "Neue Deutschland" ADELBERT REIF.
Wir dokumentieren das Interview im Folgenden.


ND: In Ihrem jüngst bei Diederich erschienenen Buch »Checkpoint Huwara« kommen die Betroffenen auf beiden Seiten zu Wort. Wie erklären Sie es, dass deren Leiden von der Weltöffentlichkeit weiterhin nur relativ geringe Aufmerksamkeit geschenkt wird?

WENGER: Zunächst einmal ist es ein politischer Konflikt, der zwischen politischen Parteien verhandelt wird. Zum anderen haben Politiker einfach eine lautere Stimme als die Zivilbevölkerung. Die ist auf beiden Seiten ermüdet von dem nun schon Jahrzehnte währenden Konflikt und bringt keine Energie mehr auf, sich in der Welt Gehör zu verschaffen. Auch gibt es unter den Opfern viele unterschiedliche Stimmen. Ich denke, dass die meisten in der Welt mit der Komplexität des Konflikts überfordert sind. Da stützt man sich lieber auf ein paar grelle politische Propagandaphrasen, die ständig wiederholt werden.

Die Realität ist jedoch eine ganz andere als in der Propaganda.

Es besteht eine enorme Diskrepanz zwischen der Realität und den Botschaften, die von der Politik vermittelt werden. Die israelischen Politiker beispielsweise sprechen die ganze Zeit von Roadmap und dem Stopp des Baus von Siedlungen. Aber wenn man dort lebt, merkt man, dass genau das Gegenteil geschieht, nämlich ein Ausbau der Siedlungen. Und im letzten Gazakrieg haben wir zu hören bekommen, dass der Krieg der Selbstverteidigung Israels dient.

Die erschütternde Erkenntnis nach der Lektüre Ihres Buches ist, dass sich die auf beiden Seiten herrschende Gewalt zu einer Art pathologischem Dauersyndrom entwickelt hat. Folgt daraus, dass diese Gewaltspirale nie ein Ende finden kann? Wenn man das sagt, dann hat man bereits resigniert. Aber: Der Menschen wegen darf man nicht resignieren, sondern muss vielmehr nach Lösungen suchen. Es ist ein von Menschen gemachter Konflikt, und folglich müsste es auch eine von Menschen gemachte Lösung geben.

Wie könnte eine solche Lösung aussehen?

Da gibt es ganz klare Vorgaben: ein Ende der Besetzung und der Siedlungspolitik sowie eine Öffnung der Grenzen. Dann endet auch der Raketenbeschuss. 2008 hatten wir ein halbes Jahr lang einen Waffenstillstand. Das war eine politische Entscheidung. Solche Entscheidungen müssen ausgehandelt werden. Aber dazu muss Israel die Hamas als politischen Verhandlungspartner akzeptieren. Die Hamas ist heute eine Tatsache. Sie kann nicht wegboykottiert werden.

Israel behauptet, die Palästinenser im Gazastreifen wollten alle Israelis ins Meer werfen. Und genau diese Angstmentalität wird durch diesen Boykott und die Abschottung herangezüchtet. Natürlich wird es immer Spielverderber und Extremisten auf beiden Seiten geben. Solche müssen von den Regierungen klar in ihre Schranken gewiesen werden. Aber so lange die Palästinenser kein eigenes Land haben, so lange die Besetzung anhält, wird es Gewalt geben.

Auf welche Weise kann in dieser verfahrenen Lage die Erfüllung der Vorgaben erreicht werden?

Ein erster Ansatz wäre, wenn man erreicht, dass die Bevölkerungen beider Seiten einander wieder als Menschen begegnen können. Das ist nicht mehr der Fall. Wir haben zwei getrennte Gesellschaften, und diese Trennung schreitet fort. In den letzten paar Jahren ging sie ganz stark voran. Dazu trugen der Bau der Mauer und der Boykott des Gazastreifens bei. Seither nimmt man den anderen nur noch als Soldaten oder Terroristen wahr.

Was ich immer wieder gespürt habe, waren die extrem tiefen Ängste der Menschen, die von der Politik wiederum geschürt werden. Die Angst der Bevölkerung in Israel ist reell. Ob sie berechtigt ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber unter Angst leiden die Menschen nicht nur in Sderot und Aschkelon, sondern auch in Tel Aviv, obwohl es dort überhaupt keine Angst geben müsste. Anschläge hat es in Tel Aviv bereits lange nicht mehr gegeben.

Es ist ein Verbrechen, wie die Politik diese Ängste instrumentalisiert. Da gibt es Scharfmacher auf beiden Seiten. Es werden Gedanken an Rache geschürt, und es wird an das tiefste Niveau von Instinkt appelliert. Das muss überwunden werden. Aber dazu bedarf es zunächst einmal der Ruhe.

Traumatisiert der Konflikt die israelische Gesellschaft?

Es gibt in Israel einerseits das kollektive Trauma des Holocausts. Andererseits haben wir die individuellen Traumata der Zivilisten, die Angehörige und Freunde bei Anschlägen und Kriegen verloren haben und der Soldaten, die zurückkommen und sich in ihrem Leben nicht mehr zurechtfinden. Es gibt in Israel keine Generation, die nicht im Krieg war. Und jeder kennt auch wieder jemanden, der im Krieg war, verletzt wurde oder umkam. Das Absurde ist, dass beide Welten unmittelbar nebeneinander liegen. Die Soldaten können in Tel Aviv am Abend ein Fest feiern und am nächsten Tag ein Haus in Nablus besetzen.

Sie zitieren israelische Militärs, die meinen, ohne Zynismus nicht überleben zu können.

Zynismus entsteht, wenn man mit der Realität nicht mehr zu Rande kommt. Wenn man das Erlebte nicht mehr verarbeiten kann, wird man zynisch. Das ist eine Fluchtstrategie. Zynismus oder Alkoholismus habe ich auch sehr oft bei Journalisten gesehen und natürlich bei den Soldaten, die sich in ganz extremen Situationen befinden. Sie sind jung, 18, 19 Jahre alt und die Wenigsten von ihnen haben eine Ahnung, was es bedeutet, Besatzungssoldat zu sein. Sie treten in die Armee ein in dem Bewusstsein, etwas Gutes für ihr Land zu leisten und Helden sein zu wollen. Mit diesen Heldenmythen wachsen sie auch auf. In der Armee aber merken sie auf einmal, dass sie belogen wurden. Sie müssen zum Beispiel die Häuser von Familien besetzen, die mit Terrorismus überhaupt nichts zu tun haben. Oder sie werden Zeugen gezielter Demütigungen von Palästinensern.

Israel verfolgt offenbar das Ziel einer totalen moralischen Erodierung der Palästinenser. Welche Bedeutung hat dabei der Ausbau des Netzwerkes palästinensischer Kollaborateure?

Dieses Netzwerk ist der Höhepunkt der inneren Zerfressenheit der palästinensischen Gesellschaft. Man traut seinem Nachbarn nicht mehr. Nicht seiner Ehefrau. Das zerfrisst eine Gesellschaft. Und das ist bewusste Strategie des Gegners.

Ist Israel überhaupt an einem Frieden mit den Palästinensern interessiert?

Die israelische Gesellschaft wünscht sich meiner Einschätzung nach wirklich Frieden. Ob sie bereit ist, den Preis dafür zu bezahlen, ist eine andere Frage. Sie ist selbst kein homogenes Gebilde und kämpft mit großen inneren Problemen. Es leben in ihr 1,2 Millionen Palästinenser, weit über eine Million Russen und eine große Anzahl äthiopischer Einwanderer. Das erzeugt viele innere Spannungen. Und Spannungen bestehen auch zwischen säkularen und orthodoxen Juden. Vor diesem Hintergrund hat man in Israel Angst, dass die Spannungen das Land spalten oder zerbrechen, sobald sie an die erste Stelle rücken. So lange ein Konflikt nach außen besteht, stehen sie dort nicht.

Gehört die Aufrechterhaltung des Konflikts zur machtpolitischen Selbstidentifikation Israels?

Ich habe den Eindruck, dass sich in der israelischen Politik eine Verselbständigung von militärischem Denken breit macht. Die Politik ist durchtränkt mit militärischer Logik. Auch die Art, wie jetzt auf diese Gaza-Provokation reagiert wurde, folgte einer rein militärischen Logik: härter, länger, zerstörerischer. Die urjüdischen Ideale wurden damit preisgegeben. Diese unglaublich lebendige Gesprächs- und Dialogkultur und diese Debattierkunst, die sich gerade im Judentum entwickelten und die ich bei jüdischen Freunden oft bewunderte, werden durch diese militärische Logik völlig zerstört. Es ist eine Tragödie.

Würden Sie so weit gehen zu sagen, dass sich die Palästinenser im Zustand einer Art Geiselhaft der Israelis befinden?

Einerseits sind sie Geiseln von Israels Politik, weil in dem Konflikt nicht zwei gleich starke Parteien einander gegenüberstehen. Es gibt eine sehr starke Besetzungspartei mit einem bestens bestückten Waffenarsenal und einer schlagkräftigen Armee, und wir haben die Palästinenser mit ein paar selbstgebauten Raketen. Andererseits aber sind die Palästinenser auch Geiseln ihrer eigenen Führer.

Diese innerpalästinensische Spaltung, wie wir sie heute zwischen dem Hamas-regierten Gazastreifen und dem Westjordanland unter der Kontrolle der Fatah sehen, ist eine Tragödie. Denn sie verhindert, dass die Palästinenser mit einer Stimme sprechen. In der Fatah war es die Korruption, die zerstörerisch wirkte. Unter Hamas sieht man jetzt die absolute Kontrolle über den Gazastreifen. Hamas ist sicher nicht nur zu verteufeln. Aber sie regiert durch Abschreckung. Die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen hat Angst vor Hamas. Unglücklicherweise aber gibt es keine Alternative mehr zu ihr.

Die Hamas ist eine zweiseitige Organisation ...

Eine dreiseitige. Hamas wurde durch soziale Aktivitäten aufgebaut und dafür auch gewählt. Die Bevölkerung hatte genug von Fatah und sah, dass Hamas sich wirklich um die Menschen kümmerte. Hamas ist keine elitäre Organisation. Sie formierte sich aus der palästinensischen Gesellschaft und ist ein Teil von ihr. Diese Seite von Hamas wird meist vernachlässigt. Darüber hinaus gibt es den politischen und den militanten Flügel.

Was mich allerdings nachdenklich stimmt, ist, dass Hamas gegenwärtig dieselben Fehler begeht wie Fatah. Ich besuchte unter Fatah Gefängnisse. Da wurden Hamas-Anhänger gefoltert. Heute werden in Hamas-Gefängnissen Fatah-Anhänger gefoltert.

Welchen Einfluss hat die palästinensische Intelligenz?

Der ist marginal. Ich kenne einige Intellektuelle in Gaza, die immer wieder versuchen, Vorstöße zu unternehmen. Das Problem ist, dass diese Intellektuellen in der Gesellschaft nicht verankert sind. Eine Ausnahme bildet vielleicht Mustafa Barghouti, der Begründer der Medical Relief Committees. 2005 war er Präsidentschaftskandidat der palästinensischen Autonomiebehörde. Und es gibt die Abdul-Shafi-Familie. Haider Abdel Shafi war ein bekannter Arzt und Politiker. Seine Söhne arbeiten heute in internationalen Organisationen, einer ist Botschafter in Schweden. Sie sind bekannt, weil sie unsere Sprache sprechen.

Das Problem der Hamas ist unter anderen, dass man bei uns ihre Sprache nicht versteht, die in einer für uns unverständlichen Weise mit islamischen Bildern aufgeladen ist. Israel hingegen findet deshalb mehr Gehör, weil es eine unglaublich gute PR-Maschine besitzt und genau weiß, wie es in unserer Sprache sprechen muss. 10 000 bis 15 000 Journalisten sind in Israel akkreditiert. Es gibt wahrscheinlich keinem Ort auf dieser Welt, wo so viele Journalisten arbeiten. Dieser Konflikt ist auch ein Medienkrieg, ein Kampf um die öffentliche Meinung.

Wie würden Sie die psychische Befindlichkeit der Palästinenser beschreiben?

Einerseits scheint es, dass Israel bis zu einem gewissen Grad mit seiner Zermürbungsstrategie Erfolg hat. Die intelligenten Köpfe wurden entweder umgebracht, befinden sich in Gefängnissen oder sind ausgewandert. Andererseits sind die Palästinenser ein unglaublich zähes und ausdauerndes Volk. Ihre Strategie ist im Augenblick weniger der Widerstand als das Ausharren. Die israelische Strategie, dass die Palästinenser irgendwann weggehen, funktioniert dagegen nicht. Die Palästinenser lassen sich nicht vertreiben, sondern harren aus, bekommen Kinder und bleiben.

Israel rühmt sich, ein demokratischer Staat zu sein. Das bedeutet, dass es irgendwann mehr arabische als jüdische Wähler gibt. Davor hat Israel eine unglaubliche Angst. Bereits heute gibt es 1,2 Millionen arabische Wähler in Israel. Das ist die demografische Bombe, die immer beschworen wird.

Und wie steht es um die Zukunft der Palästinenser in den palästinensischen Gebieten?

Es wird zwar immer noch von einem palästinensischen Staat gesprochen. Aber wenn man sich heute die Landkarte anschaut, muss man feststellen, dass einem solchen Staat in den letzten Jahren jeglicher Boden entzogen wurde. Der Abzug der Siedler unter Ariel Scharon wurde seinerseits als großer politischer Friedensschritt bewertet. Das waren 8000 Siedler. Heute haben wir im Westjordanland beinahe 300 000 israelische Siedler. In Ostjerusalem gibt es 180 000 israelische Siedler. Und diese Siedlungen werden ausgebaut. Demgegenüber haben wir zwei komplett getrennte palästinensische Gebiete.

Wie sich bei meinem letzten Besuch zeigte, wird der Gazastreifen immer mehr nach Ägypten abgedrängt. Es gibt etwa tausend Schmugglertunnel. Der Schmuggel von Waffen mag ein Grund für diese Tunnel sein. Aber der Hauptgrund ist die wirtschaftliche Anbindung an Ägypten. Israel will den Gazastreifen nicht mehr. Er ist ein Problem, und man will ihn loswerden. Der letzte Krieg war eine Möglichkeit zu zeigen, wer der Stärkere ist. Aber wenn wir von einer Lösung sprechen und dabei einen palästinensischen Staat im Blick haben, dann ist der Zug langsam abgefahren.

Kann von außen noch Einfluss genommen werden?

Es ist ein internationaler Konflikt. Gerade in diesem letzten Krieg wurde diese Internationalität wieder sehr klar sichtbar. Wir haben eine große internationale Abhängigkeit der beiden Konfliktparteien. Israel könnte nicht ohne die Hilfe der Vereinigten Staaten bestehen und die Palästinenser sind auf die Hilfe Europas angewiesen, respektive im Falle von Hamas im Gazastreifen auf die Hilfe Irans.

Wir haben es also nicht mehr mit zwei freien Parteien zu tun. Dementsprechend hätte die internationale Gemeinschaft sehr wohl Einflussmöglichkeiten auf den Konflikt, die sie aber nicht nutzt und sich stattdessen parteiisch verhält, wie die USA über Jahre. Es ist zu hoffen, dass diese Haltung jetzt korrigiert wird. Die ersten Signale waren mehr oder weniger positiv. Aber man muss eine eindeutige und klare Sprache sprechen. Wenn Ehrlichkeit nicht Einzug in die Politik hält, wird es keine Lösung geben.

* Aus: Neues Deutschland, 7. März 2009


Karin Wenger: Checkpoint Huwara. Israelische Elitesoldaten und palästinensische Widerstandskämpfer brechen das Schweigen.
Mit einem Nachwort von Arnold Hottinger und Bildern von Kai Wiedenhöfer. Verlag Neue Zürcher Zeitung und Diedrichs, Zürich 2008, 271 Seiten; CHF 38.00 / EUR 19.95 ; ISBN 978-3-03823-408-1




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