Der Aufstand des Jahres 1432
Aktuelle Umbrüche im Nahen Osten und die Weltpolitik
Von Lutz Kleinwächter und Raimund Krämer *
1. Der Aufstand ist gekommen; in direkter Nachbarschaft zu Europa. Die politische
Stagnation in der übergroßen Mehrzahl der autoritären Regime dieser
Region zwischen Maghreb und arabischer Halbinsel ist zu Ende. Die „versiegelte Zeit“ (Dan Diner) ist aufgebrochen. Die politische Stabilität war eine scheinbare; sie stand
auf tönernen Füßen. Es begann in Nordafrika, nun finden wir Bewegung zwischen
Rabat, Algier, Tunis, Bengasi, Kairo, Amman, Sanaa und Manama: Demonstrationen
auf den Straßen, Streiks in Betrieben und Banken, hektische Rochaden in Kabinetten
und überstürzte Abreisen der ehemals Mächtigen in entlegene Kurorte, Rücknahmen
von Preiserhöhungen, das Auffahren von Panzern sowie prügelnde und auch schießende
Polizisten. Nach der Flucht des tunesischen Präsidenten Ben Ali hat diese Aufstandsbewegung
mit dem Sturz von Husni Mubarak in Ägypten ihren bisher größten
Sieg errungen. Aber der panarabische Aufstand setzt sich fort: Jemen, Algerien,
Libyen, Bahrain und seine Ausläufer erreichen selbst den nichtarabischen Iran.
Die aktuellen Entwicklungen in diesem Raum und deren mögliche Folgen für die
regionale und internationale Politik stehen im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen.
Dabei sind wir uns bewusst, dass diese Einlassungen angesichts der außerordentlichen
Dynamik der Ereignisse spekulativ sind. Wir mischen uns damit in die
aufkommenden hiesigen Debatten ein und wollen ihnen Impulse geben.
2. Ausbruch und Dynamik des panarabischen Aufstandes überraschten. Dies gilt
sowohl für viele der unmittelbar in den Ländern Beteiligten, die Herrschenden und
die politische Opposition, als auch die internationalen Akteure.
Die Ursachen des panarabischen Aufstands liegen in einer komplizierten Verflechtung
politischer, ökonomischer, religiöser und demografischer Faktoren, die in jedem der
Länder ihre spezielle Mischung hat. Entscheidend und regional übergreifend sind krisenhafte
soziale, binnenwirtschaftliche und innenpolitische Zustände in diesen Staaten.
Mehrfach gescheiterte Modernisierungsansätze haben zu sozialer Stagnation
geführt. Die Umsetzung neokonservativer Konzepte brachte nicht nur in der gesamten
Region Massenarbeitslosigkeit und Armut der Bevölkerung. Diese Wirtschaftspolitik
schadete auch der nationalen Industrie und den einheimischen bürgerlichen
Kräften. In einigen dieser Länder, vor allem in den ölreichen Staaten, hat sich eine
Rentenökonomie herausgebildet, die ein wichtiger Faktor bei der kurz- und mittelfristigen
Stabilisierung der autokratischen Regime war und ist. Die Kluft zwischen
einer kleinen Gruppe von Superreichen, die ihren Reichtum primär aus ihrer staatlichen
Verfügungsgewalt schöpfen, und der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung
vertiefte sich in den vergangenen Jahrzehnten. Die gut ausgebildete Jugend, die heute
mehr als die Hälfte der Bevölkerung dieser Region ausmacht, hat keine Perspektive.
In Tunesien beispielsweise liegt die Arbeitslosigkeit bei der akademisch gebildeten
Jugend bei 60 bis 70 Prozent.
3. Politisch haben sich seit den 1980er Jahren flächendeckend autoritäre Regime
herausgebildet. Einige dieser Regime, wie Tunesien und Ägypten, kann man mit
Juan Linz als „sultanistisch“ bezeichnen. Solche Kleptokratien sind im Inneren
durch skrupellose Bereicherung im Zuge neokonservativer Privatisierungen, massive
Korruption, Machtmissbrauch und selektiven Terror charakterisiert. Die Politik der herrschenden Gruppe, oft nur einige Familien, diente – fern jeden Gedankens an das Gemeinwohl – allein der eigenen Bereicherung. Dies vollzog sich hinter einem orientalischen Teppich aus manipulierten Wahlen, einer domestizierten Opposition und milden Gaben für die Massen. Die Menschen fühlten sich von dieser schamlosen Politik tief in ihrer Würde verletzt. Diese Würde wieder hergestellt zu haben gehört sicherlich zu den bemerkenswerten Ergebnissen der Aufstände. In der Außenpolitik zeichneten sich diese Regime durch eine enge Anbindung an den Westen aus, wofür sie politisch und wirtschaftlich von eben diesem – trotz hehrer Bekundungen zu Demokratie und Menschenrechten – massiv gestützt wurden.
4. Auslöser der gegenwärtigen Aufstände und politischen Umbrüche waren zum einen
die Erhöhung der Lebensmittelpreise, die zu Hungerrevolten führte, und zum anderen
polizeiliche Willkür gegen Jugendliche und Kleinunternehmer. Die angestaute Wut
brach sich Bahn. Die soziale Basis der Aufständischen, vor allem ihrer Anführer, liegt
vornehmlich im abstiegsbedrohten bzw. bereits abgestiegenen städtischen Kleinbürgertum,
das unter der neokonservativen Politik der Privatisierung und Öffnung
heftig zu leiden hatte. Dessen Kinder sind jene Jugendlichen und Studenten, die auf
der Klaviatur der modernen Kommunikation wie Internet, Facebook, Youtube und
Twitter mehrhändig spielen und auch politisch nutzen. Dazu kommen viele Jugendliche,
vor allem junge Männer, aus den Elendsvierteln der rasant anwachsenden
Megastädte. Auch Streiks und Aktionen der Gewerkschaften, der unabhängigen und
dann selbst der offiziellen, gehören zu diesen Bewegungen. Zwar waren weder geistliche
Würdenträger noch explizit islamische Organisationen in den ersten Wochen
des Aufstandes besonders prominent vertreten; dennoch ist es eine verfehlte Interpretation,
die Bewegung als wesentlich säkular zu charakterisieren.
5. Ägypten steht heute im Zentrum des Interesses, des internationalen und regionalen.
Es war und ist der Schlüsselstaat in der Region, das politische und kulturelle
Zentrum der arabischen Welt. Die wirtschaftlichen Quellen des Landes sind
Tourismus, Einnahmen aus dem Suezkanal, Landwirtschaft und jährliche Zahlungen
aus den USA in Milliardenhöhe. Seit 1981 herrscht in der „Präsidialrepublik“ der
Ausnahmezustand. Im Kern wird Ägypten seit 1952 vom Militär regiert, von den
Generälen Naguib, Nasser, Sadat und Mubarak. Gegenwärtig liegt nun die Macht
offen beim Militär. Dessen Generalität entstammt dem gestürzten Mubarak-Regime.
Nachdem das Militär die unmittelbare Gefahr des Machtverlustes durch Mubaraks
starrsinniges Festhalten am Präsidentenstuhl beseitigt hat, wird die Militärspitze ihren
Einfluss nutzen, um unter Beachtung bestimmter Forderungen der Demonstranten
ein stabiles politisches Regime einzurichten, das ihre politischen Positionen und
wirtschaftlichen Pfründe sichert.
6. Dem Militär kommt eine außerordentliche Rolle in den gegenwärtigen Umbrüchen
zu. Das gilt nicht nur für Ägypten, sondern für alle Staaten des Raumes. Das militärische
Führungspersonal ist insgesamt gut ausgebildet, meist an westlichen Einrichtungen,
verfügt über hohe Organisationsfähigkeiten und ist im Besitz der militärischen
Machtmittel zur Durchsetzung seiner Ziele. Die militärischen Führungen dieser
Länder waren und sind eng mit der jeweiligen Politik und Wirtschaft verwoben
(„uniformierte Kapitalisten“). Die politische Rolle ist ambivalent: Das Militär kann
für eine Übergangssituation die Rahmenbedingungen für politische Reformprozesse
schaffen. Die Geschichte kennt auch Beispiele, wo das Militär zum Katalysator
radikaler Umwälzungen wurde, wie unter dem Nasser-Regime. Das Militär kann aber
auch die Macht – mittels ziviler Politiker – dauerhaft usurpieren und Militärregime
begründen, die die Freiheitsrechte eher einschränken und demokratische Entwicklungen
langfristig blockieren.
7. Die islamistische Opposition in Ägypten (Muslimbrüder) hatte die Zeichen der
Zeit nicht erkannt und sich erst später den Aufständischen angeschlossen. Dabei stellt
sich die Frage, welche Rolle muslimische Bewegungen künftig spielen. In Ägypten fiel
Präsident Sadat 1981 einem Attentat der Muslimbrüder zum Opfer. Mubarak ließ sie
verfolgen, tolerierte sie aber zugleich, selbst im Parlament. Zugleich nutzte er sie als
Argument in den Beziehungen zum Westen. Die bis dato formal illegalen Muslimbrüder
errangen bei den Wahlen 2005 als „unabhängige Kandidaten“ 20 Prozent der
Sitze im Parlament. Sie sind heute, im Unterschied zu den Demonstranten auf dem
Tahrir-Platz, eine organisierte Kraft mit einer Massenbasis, vor allem in der traditionell-
islamischen Bevölkerung Ägyptens. Aus den kommenden Wahlen werden sie
politisch gestärkt hervorgehen und künftig eine wichtige, vielleicht bestimmende
politische Kraft des Landes sein.
Islamistische Organisationen und Bewegungen werden generell in den politischen
und sozialen Auseinandersetzungen in der Region eine größere Rolle spielen, ohne
diese zu dominieren. Sie sind mit dem Alltagsleben der Bevölkerung eng verbunden
und haben ein erhebliches Mobilisierungspotenzial in den stark islamisch geprägten
Gesellschaften. Zugleich sollten wir uns vor Pauschalierungen der islamistischen
Bewegungen hüten. Sie waren und sind sehr differenziert: von apolitisch und karitativ
über antiliberal und konservativ bis zu antikapitalistisch und emanzipatorisch.
8. Mit dem historischen Aufbruch tritt dieser Großraum vom Maghreb bis zur
arabischen Halbinsel in eine neue Phase politischer Entwicklung. Ob dieser panarabische
Aufstand mit sozialen Umgestaltungen verbunden sein wird und somit auch
der Begriff Revolution seine Berechtigung findet, muss abgewartet werden. Die politischen
Umwälzungen sind zunächst recht turbulent, ja auch gewaltsam. Es wird kurzund
mittelfristig zum Umbau in den politischen Regimen dieser Region kommen,
seien es präsidiale Republiken, Monarchien oder gar parlamentarische Systeme. Das
sind langfristige Prozesse. Das Spektrum der zu erwartenden politischen Entwicklungen
umfasst aus der heutigen Sicht folgende Optionen:
-
offene bzw. verdeckte Militärregime,
- Monarchien, die sich den aktuellen Entwicklungen anpassen,
- parlamentarische Regime,
- „islamische Demokratien“, wobei fundamental-islamische Staaten die Ausnahme
sein werden, sowie
- Formen traditioneller Stammesherrschaft, die aus dem Zerfall der nationalen Staatlichkeit
und dem Versinken im Chaos von Bürgerkriegen hervorgehen.
Eine besondere Herausforderung in all diesen Regimevarianten wird die Trennung von
Staat und Religion in diesen weiterhin stark islamisch geprägten Gesellschaften sein.
Die arabischen Aufstände führen zu Veränderungen in den Eliten dieser Länder.
Mehr national, vielleicht auch panarabisch denkende und weniger neoliberal
agierende Politiker werden an die Spitze der Staaten kommen. Auch zivile Kräfte
können in diese Funktionen kommen. Dabei werden auch einzelne Vertreter der
jetzigen Aufstände den Weg in die politische Klasse finden.
9. Der Nahe und Mittlere Osten steht heute mit all seinen politischen Turbulenzen im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Der vom Großstrategen Brzezinski ahnungsvoll als „Bogen der Instabilität“ beschriebene Raum wird seit Jahrzehnten wellenartig erschüttert:
vom Maghreb über Palästina, den Iran und Irak bis nach Afghanistan und Pakistan und
wieder zurück. Dabei ist der Dreh- und Angelpunkt für die Stabilität und den Frieden
in der Region die Lösung des fast 60-jährigen Nahostkonfliktes um Israel und Palästina.
10. Die heutige geostrategische Bedeutung der Region resultiert primär aus ihrer Rolle als
Lieferant fossiler Energierohstoffe für Europa und Asien. Die Staaten der Region verfügen
über 35 Prozent der globalen Erdölproduktion und 20 Prozent der Erdgasproduktion.
In der Region lagern über 60 Prozent der Erdölreserven und 45 Prozent der Reserven bei
Erdgas. Die Versorgung Europas wird bei Öl zu 30 Prozent und bei Gas zu 15 Prozent
aus den arabischen Staaten gedeckt. China, Indien und auch Japan importieren insgesamt
65 Prozent ihres Erdölbedarfs und 30 Prozent ihres Erdgasbedarfs aus dieser Region.
Daraus resultiert die hohe strategische Bedeutung der Transportwege zu Wasser (Mittelmeer,
Suezkanal, Straße von Hormuz, Indischer Ozean) und der Pipelines zu Lande.
11. Die blinde Stützung der arabischen Autokraten, die offensichtliche Unfähigkeit,
Israel zu einem lösungsorientierten Nahostdialog zu veranlassen, das politische
Scheitern im Irak und das militärische Eingreifen in Afghanistan haben zu einem
Einflussverlust der USA im gesamten Nahen Osten geführt. Im Zuge der panarabischen
Aufstände hat sich dieser dramatisch verstärkt. Der wichtigste Verbündete
des Westens, das Mubarak-Regime in Ägypten, stürzte. Die Skepsis gegenüber dem
Hegemonialanspruch der USA ist bei den arabischen Eliten – trotz oder wegen der
Obama-Rede in Kairo – gestiegen. Selbst die weiterhin regierenden Autokraten
werden aus der Politik der USA, wie dem Fallenlassen Mubaraks, ihre Lehren ziehen.
All das verringert den politischen Einfluss der USA in der Region, auch wenn
sie auf absehbare Zeit einer der bedeutsamsten internationalen Akteure im Raum
bleiben. Die Umbrüche in Nahost und dem arabischen Raum haben Konsequenzen
für das globale Kräfteverhältnis. Die nach dem Kalten Krieg übrig gebliebene Supermacht
verliert weiter an Boden in einer sich multipolar entwickelnden Welt.
12. Der Westen insgesamt wurde von diesem panarabischen Aufstand völlig
überrascht. Die autokratischen Regime in der Region schätzte man als „stabile“, auf
einem „demokratischen Weg“ befindliche Staaten ein und einigen – wie im Falle
Tunesiens – sprach man sogar den Status von „Modellregierungen für Afrika“ zu.
Die Wissenschaft trug mit wohlfeilen Begriffen wie „hybride Regime“ oder „defekte
Demokratien“ eher zur Verschleierung der dortigen Herrschaftsverhältnisse als zu
deren kritischer Analyse bei. Diese vermeintlich strategisch orientierte Politik hat letztlich
den eigenen Blick für die realen Prozesse getrübt oder gar verstellt. Washington,
Berlin und vor allem Brüssel liefen den Entwicklungen im Nahen Osten hinterher.
Die Europäische Union spielte trotz jahrelanger „Nachbarschaftspolitik“ in den
Umbrüchen kaum eine Rolle. Weder gab es den politischen Willen bei den wichtigsten
außenpolitischen Akteuren noch das geeignete Personal in der „Gemeinsamen“
Außenpolitik, um eine aktive, vorausschauende Diplomatie zu betreiben. Daran
ändern auch die jetzigen substanzlosen Erklärungen und in ihrem Umfang doch
recht bescheidenen „Hilfsfonds“ der EU wenig. An eine Öffnung des EU-Marktes für
Produkte aus diesem Raum, die die Produktion in diesen Ländern stimulieren würde,
wird nicht einmal gedacht. Eine geradezu hysterische Debatte in der EU um 5.000
Flüchtlinge aus Tunesien zeugt von der Doppelmoral „europäischer Solidarität“.
13. Angesichts der gängigen Rhetorik des Westens über Demokratie und Menschenrechte
war diese Politik gegenüber dem arabischen Raum zynisch. Und dies über Jahrzehnte.
Der autoritäre Charakter dieser Regime war bekannt. Da jetzt die gleichen europäischen
und US-amerikanischen Politiker, die vor Kurzem diese Regime noch hofierten,
ihre Sympathien mit den Aufständischen bekunden und zugleich wohlfeile Ratschläge
erteilen, darf dieses Kapitel nicht einfach vergessen werden. Nach dem Festhalten an
den Autokraten, sei es Ben Ali oder Mubarak, beeilt man sich nun, die neuen Führer zu
beeinflussen, sei es durch Kreditangebote oder durch Drohungen. Jedoch ist der Westen
durch sein jahrzehntelanges Paktieren mit den arabischen Autokraten stark diskreditiert.
Westliche Politik trifft heute bei den neuen (und alten) Führern eher auf Skepsis
und bei den Massen, was die bisherige Unterstützung für ihre Despoten betrifft, auf
Kritik und Zorn – auch wenn keine US-Flaggen verbrannt werden.
14. Der Osten, China, Japan, Russland und zunehmend auch Indien, geht in seiner
Politik zu dieser Großregion nicht nur von einer anderen historischen Basis, sondern
auch von seinen langfristigen Interessen aus. Diese liegen vor allem in der Sicherung
einer stabilen Energieversorgung durch diesen Raum und im Absatz ihrer Industriegüter.
Hinzu kommt eine bemerkenswerte interkulturelle Kompatibilität – gleich ob in
Autokratien oder Demokratien. Dazu gehören autoritäre Führungsprinzipien, Kollektivismus,
geringe Wertschätzung liberaler Rechte, die Betonung der Nichteinmischung,
strategisches Denken, das auf lange Zeiträume ausgerichtet ist. Die Positionen dieser
Staaten zu den gegenwärtigen Ereignissen im Nahen Osten sind zurückhaltend.
Russland hatte traditionellen Einfluss auf die Staaten Mittelasiens und des Nahen
Ostens (Irak, Syrien, Ägypten). Mit dem Zerfall der Sowjetunion ist dieser deutlich
geschwächt bzw. verloren gegangen. Für Russland sind die Ereignisse aufgrund seiner
Unabhängigkeit in Energie- und Rohstofffragen und seiner Exportschwäche bei Industrieprodukten
– Ausnahme Waffenlieferungen – nicht von solch großer Bedeutung. Als
problematisch wird jedoch die Stärkung islamistischer Kräfte an den Südgrenzen und
innerhalb Russlands gesehen. Daraus resultiert eine partielle Kooperationsbereitschaft
mit dem Westen, wenn es um „islamische Themen“ geht.
China gewinnt als eine neue Weltmacht auch im Nahen Osten deutlich an Einfluss.
Kapitalstark, offensiv, konsequent an eigenen Wirtschaftsinteressen orientiert, ist es in
der Lage, das vom Westen und Russland in diesem Raum hinterlassene Vakuum auszufüllen.
Die Erfolge der Deng-Xiaoping-Reformen (Wirtschaftswachstum, Beseitigung
von Hunger und Unterversorgung, Bildung und Bevölkerungsregulierung) sind eine
Orientierung für ärmere arabisch-islamische Staaten bei der Lösung ihrer Entwicklungsprobleme
und machen China zu einem attraktiven Modell auch in diesem Raum.
15. In den vergangenen Jahrzehnten entstanden mit der Türkei und dem Iran neue
Regionalmächte in diesem Raum. Sie verfolgen unterschiedliche Entwicklungsmodelle,
die möglicherweise bei der Neugestaltung der politischen Regime in den arabischen
Ländern als Referenzpunkte dienen. Das gilt vor allem für die Türkei, die seit über 80
Jahren einen Laizismus in einer islamischen Gesellschaft praktiziert. Bis in die jüngste
Vergangenheit war das westlich ausgerichtete kemalistische Militär der Katalysator
und Stabilisator dieser Entwicklung. Nun stehen islamische Kräfte an der Spitze dieses
Staates. Der starke Wirtschaftsaufschwung und die Verbesserung des Lebensstandards
für einen Großteil der Bevölkerung verleihen der Türkei, nun unter islamischen Vorzeichen,
eine Vorbildrolle und wachsenden Einfluss in der islamisch-arabischen Welt.
Der Iran beging unmittelbar mit Abdankung Mubaraks den 32. Jahrestag seiner
„Islamischen Revolution“. Jedoch können die jetzigen Aufstände in der arabischen
Welt nicht als Fortsetzung von 1979 gelesen werden. Der Einfluss Irans beschränkt
sich auf jene Regionen, wo starke schiitische Gruppen vorhanden sind, wie in Bahrain.
Nach der blutigen Niederschlagung der Proteste im Iran im Jahre 2009 konnte sich das
theokratische Regime vorerst stabilisieren. Es nutzte dabei seine umfangreichen Erdgasund
Erdölressourcen. Diese Stabilität ist eine relative, wie die aktuellen Auseinandersetzungen
zeigen. Inwieweit der Iran als Modell für die eher sunnitischen Kräfte der
arabischen Welt dient, darf angezweifelt werden. Eher ist mit einer bewussten politischen
Abgrenzung gegenüber dem Iran zu rechnen.
16. Israel ist bisher im arabisch-islamischen Raum marginalisiert, hatte aber durch die
engen Beziehungen zum Mubarak-Regime einen wichtigen Verbündeten in der Region.
Durch dessen Sturz und den möglichen Verlust dieses wichtigen regionalen Partners sieht
sich Israel nun politisch in diesem Raum weiter isoliert. Die Frage ist, ob die panarabischen
Entwicklungen die Wagenburg-Mentalität der heute in Israel Regierenden
verstärken und damit auch der Abbau demokratischer Rechte weiter fortgesetzt wird oder
ob die in Israel sicherlich vorhandenen, aber schwachen Potenziale für eine realistische
Politik durch diese Entwicklungen in der arabischen Welt gestärkt werden. Die auch
in der westlichen Welt zunehmende Kritik gegenüber der israelischen Blockadehaltung
im Verhandlungsprozess mit den Palästinensern kann diese neuen Entwicklungen zum
Anlass nehmen, um die israelische Paranoia, das allgegenwärtige Misstrauen, die Bedrohungs-
und Kriegsangst abzubauen. Ein demokratisches Ägypten wird ein stabilerer und
politisch einflussreicherer Partner im Friedensprozess sein als das Mubarak-Regime.
17. Das Kräfteverhältnis in der arabisch-islamischen Gesamtregion unterliegt gravierenden
Veränderungen. Ägypten wird wieder eine deutlich größere Rolle spielen und
damit den Einfluss der konservativen Golfstaaten in der Region wieder begrenzen.
Die seit Anfang des 21. Jahrhunderts beobachtbare Relativierung westlichen Einflusses
verstärkt sich. Die USA müssen strategische Niederlagen hinnehmen. Ihre Reputation
in der arabisch-islamischen Welt ist auf einem historischen Tiefpunkt. Diese Entwicklung
verkompliziert die Lage Israels. Der Einfluss der Türkei nimmt deutlich zu. Der
Iran wird seine Politik aktivieren, um den islamistischen Kräften beizustehen. China
verstärkt vorrangig seine wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region, die in ihrer Schwerpunktsetzung
auch von Japan und zunehmend von Indien verfolgt werden.
18. Deutsche Außenpolitiker sollten – bevor sie jetzt Empfehlungen für die neuen
politischen Kräfte geben – zunächst das jetzt zu Ende gegangene Kapitel deutscher
Nahostpolitik nüchtern analysieren. Eine ehrliche Bestandsaufnahme benennt die
Einseitigkeiten und Fehler.
Dennoch gibt es für einen Neuansatz in der deutschen Nahostpolitik Grundlagen
und Anknüpfungspunkte. Es geht primär um eine aktive Fortsetzung der traditionell
guten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Die im arabischen Raum investierenden
deutschen Unternehmen sehen die gegenwärtigen Entwicklungen mit relativer Gelassenheit.
Sie gehen in ihrer Mehrheit von einem wachsenden Engagement aus. Das betrifft
besonders den Automobilbau (Daimler, VW, BMW), den Energiesektor (RWE, DEA,
Siemens) und die Schwer- und Rüstungsindustrie (EADS, Thyssen/Krupp). Die gesamte
Großregion ist geprägt von Kriegen und Konfliktherden. Ein Abbau und letztlich das
Verbot des Waffenexports wäre ein echter Sicherheitsbeitrag vonseiten Deutschlands.
Problematisch ist die unausgewogene Außenpolitik Merkels gegenüber diesem Raum,
speziell in der zentralen Problematik des jahrzehntealten Nahostkonflikts: der Palästinenserfrage.
Die Überbetonung der Partnerschaft zu Israel hat zu einer Einseitigkeit und
Kritiklosigkeit gegenüber der israelischen Politik geführt, die weder eine Friedenslösung
befördert noch den vielfachen deutschen Interessen in diesem Raum genügt. Für das
politische Verhältnis und die wirtschaftliche Kooperation zu diesem Raum ist der im
Jahre 2003 im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg erfolgte historische
Bruch der Schröder-Regierung mit den USA ein Faktor, der bis heute begünstigend
wirkt, dessen Impetus aber von der jetzigen Regierung nicht übernommen wurde.
19. Die europäische Nachbarschaftspolitik gegenüber den nordafrikanischen Staaten muss
einer Generalrevision unterzogen werden. Die realen (politischen und wirtschaftlichen)
Ergebnisse des Barcelona-Prozesses bzw. der Nachbarschaftspolitik lassen nur ein Urteil
zu: gescheitert. Ein radikaler Neuanfang wäre sicherlich die fairste Lösung. Konzepte für
eine Freihandelszone oder für eine Mittelmeerunion sind Zukunftsvisionen. Dem können
konkrete, regional angepasste Vereinbarungen folgen, die nicht durch den Nahostkonflikt
beschwert werden sollten. Projekte wie „Desertec“ können dem Aufbau neuer Industrien
in Nordafrika und der arabisch-europäischen Energieversorgung dienen, wenn die Rolle
der Nordafrikaner nicht auf die von Wachpersonal für Solaranlagen reduziert wird.
20. Mit Blick auf die gemeinsamen Interessen von Europa, Russland, China und
Indien gegenüber der Region ist es an der Zeit, eigenständige Initiativen Eurasiens
in Gang zu setzen. Die USA sind dafür seit Bush jun. wenig bereit und zunehmend
nicht in der Lage. Das zeigt sich auch unter der Obama-Administration. China und der
pazifische Raum werden die Interessen und Potenziale der USA immer stärker binden.
Denkbar ist eine abgestimmte Politik der eurasischen Mächte, die sowohl zur Lösung
des Nahostkonfliktes im Rahmen einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
in der Region beiträgt als auch langfristig der gesellschaftlichen Modernisierung der
arabischen Gesellschaften dient.
Potsdam, 22. Februar 2011 / Rabi I 19, 1432
* Prof. Dr. Lutz Kleinwächter, bbw, Hochschule der Wirtschaft, Berlin,
Vorsitzender WeltTrends e. V.; L.Kleinwaechter@welttrends.de
Dr. Raimund Krämer, Hochschuldozent, Universität Potsdam, Chefredakteur WeltTrends. rkraemer@uni-potsdam.de
Der Beitrag erscheint in WeltTrends 77 (März/April 2011); http://welttrends.de/
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