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Zurück in die Steinzeit?

Im Nahen Osten darf es nicht nur Katastrophe kommen

Die Rundreise des deutschen Bundeskanzlers im Nahen Osten wird keine spektakulären Ergebnisse zeitigen. Zu sehr haben sich die europäischen Staaten in den vergangenen Jahren diplomatisch aus dem Konflikt resp. aus dem Friedensprozess herausgehalten bzw. sind auf Druck Washingtons herausgehalten worden, als dass sie nun plötzlich wieder ein gewichtiges Wort mitreden könnten. Schon das Schauspiel, das Javier Solana der Weltöffentlichkeit anlässlich der Verhandlungen in Scharm el-Scheich geboten hat, war aufschlussreich. Er war lediglich Staffage und durfte nicht einmal am Katzentisch der von US-Präsident Clinton geführten Verhandlungen Platz nehmen. Da ist es auch kein Trost, dass Solana dieses Schicksal mit einem noch wichtigeren Mann teilte, nämlich mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan. Auch er war in Scharm el-Scheich dabei und doch nicht dabei. Tiefer können die Vereinten Nationen eigentlich kaum sinken: Da wird über Krieg oder Frieden in einer der sensibelsten Regionen der Welt verhandelt, und der oberste Repräsentant der Staatengemeinschaft darf nur die Rolle eines Kiebitz einnehmen: Kiebitze dürfen beim Kartenspiel bekanntlich zuschauen, müssen aber das Maul halten!

Man kann Schröder bei seiner Reise wenigstens zugute halten, dass er das Maul nicht zu voll nimmt. Seine Zurückhaltung ist der deutschen Vergangenheit geschuldet. Kritik an Israel - dem "Freund", wie Schröder immer wieder betont - wäre in der Tat ein Stilbruch in den diplomatischen Beziehungen beider Länder. Deutsche Politik hat eben bis heute nicht gelernt, Kritik an einer falschen Politik der israelischen Regierung von Kritik an Israel zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung tut not, gerade wenn man sich anheischig macht, auch freundschaftliche Beziehungen zu Palästina und einigen arabischen Staaten aufrecht zu erhalten. Dazu wird sich Schröder nicht durchringen können. Es wäre also schon viel, wenn er wenigstens auf humanitärem Gebiet etwas erreichen würde, z.B. wenn er die vier gefangenen israelischen Soldaten aus den Händen der libanesischen Hisbollah frei bekäme. Den Friedensprozess wieder in Gang bekommen, das werden wohl erst andere Staatsbesuche in der Region erreichen, Staatsbesuche, die den Israelis zu verstehen geben, dass der Weg der militärischen Konfrontation nicht gut gehen kann, weil er Israel noch weiter sowohl in der Region als auch in der Welt isoliert.

Der folgende Kommentar von Heiko Flottau, erschien unter der Überschrift "Zurück in die Steinzeit" am 31. Oktober 2000 in der Süddeutschen Zeitung und beschreibt in seltener Klarheit die Alternativen, um die es im Konflikt zwischen Palästina und Israel nur gehen kann: Zurück ins Jahr 1948 und damit zu Krieg und Verwüstung und noch mehr Elend oder ein Eingehen Israels auf die völkerrechtlich vorgezeichneten und berechtigten Minimalforderungen der Palästinenser, die endlich ihren eigenen Staat und ihre (Teil-)Hauptstadt in Jerusalem einrichten wollen.


Zurück in die Steinzeit

VON HEIKO FLOTTAU

Ein arabisches Sprichwort sagt, man solle die Hand küssen, die man nicht abhacken könne. Nach diesem Motto handelt Jassir Arafat, wenn er die Fortsetzung der Intifada bis zum endgültigen Sieg ankündigt. Seit mehr als vier Wochen recken sich Arafat tausendfach Hände entgegen, aber sie wollen keineswegs die lange ersehnte Staatsgründung bejubeln. In den Händen liegen Steine, und junge Leute schleudern die Steine auf israelische Soldaten. Denn nach fester Überzeugung der Palästinenser ist es alleine Israel, das den palästinensischen Staat verhindert und deswegen bekämpft werden muss.

Arafat muss noch mehr Hände küssen: die Hände der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas, des Islamischen Dschihad und weltlich orientierter Gruppen wie der Volksfront zur Befreiung Palästinas. Sie alle haben schon immer argumentiert, dass Verhandlungen mit Israel nutzlos seien. Nun sehen sie ihre Stunde gekommen. Tatsächlich hätte der 1993 in Oslo begonnene Friedensprozess bereits vor zwei Jahren zu dem sogenannten Endstatus führen müssen, in dem ein neuer Staat Palästina und Israel friedlich nebeneinander existieren können. Nichts davon ist Wirklichkeit geworden. Deshalb bleibt Jassir Arafat keine andere Wahl, als die Hände zu küssen. Würde er sich verweigern, wäre seine Position gefährdet.

Auf der anderen Seite ist auch Israels Premier Ehud Barak gezwungen, Hände zu schütteln, die er sonst vielleicht nicht ergreifen würde. Barak kämpft um sein politisches Überleben. Um des Machterhaltes willen sucht er die Hilfe Ariel Scharons, den die Palästinenser zu Recht als ihren Erzfeind betrachten. Als alte Kriegskameraden verstehen sich die beiden Troupiers möglicherweise recht gut. Beide haben manche Schlacht gegen die Palästinenser geschlagen. Ob sie politisch so weit auseinander sind, wie Optimisten glauben, steht dahin.

Scharon war stets ein heftiger Gegner der jetzt zu Grabe getragenen Friedensbemühungen. Und Ehud Barak versprach zwar zu Beginn seiner Amtszeit, den "hundertjährigen Konflikt" zwischen Israelis und Palästinensern beenden zu wollen. Allerdings rühmt er sich auch der Tatsache, in seiner Amtszeit sei im Gegensatz zu seinen Vorgängern keinen Zentimeter Land an die Palästinenser zurückgegeben worden. In der Tat ist das von Benjamin Netanjahu 1998 unterzeichnete und nur teilweise befolgte Abkommen von Wye durch Ehud Barak auf Eis gelegt worden. Land, das den Palästinensern versprochen wurde, ist noch immer in israelischer Hand. Und: Der Siedlungsbau, der den Genfer Konventionen widerspricht, wird fortgesetzt.

Nun wollen Jugendliche wie einst in Südafrika die Wende bringen. In Kapstadt und Soweto kämpften Teenager gegen die Apartheid. In Ramallah und Gaza werfen Halbwüchsige Steine für einen eigenen Staat. Die Erwachsenen dulden oder begrüßen die Demonstrationen - nicht selten treiben sie die jungen Leute auch an. Verhindern können sie die Revolution nicht. Steine gegen Panzer, Schüler gegen trainierte Soldaten - für Palästinenser wirkt die ungleiche Schlacht noch immer wie ein gewaltloser Widerstand. Und Israel gerät zunehmend in Erklärungsnot: Die Gewalt erscheint nicht proportional, die Armee reagiert mit unverhältnismäßig großer Härte auf die Demonstranten.

Es könnte schlimmer kommen. Schon hat es in Gaza ein missglücktes Selbstmordattentat gegeben. Nicht ausgeschlossen ist, dass weitere politische Rückschläge aus dem Friedensnobelpreisträger Jassir Arafat wieder den Guerillakämpfer Abu Ammar werden lassen. Dann muss Israel mit Kommandounternehmen, mit Selbstmordattentaten und mit militärischen Auseinandersetzungen rechnen. Im Vergleich dazu wären die bisherigen Konfrontationen nur Scharmützel gewesen. Es muss aber nicht so weit kommen. Jassir Arafat war noch nie ein Spieler um jeden Preis. Und in Israel gibt es genügend Menschen, die in einem demilitarisierten palästinensischen Staat die größte Sicherheit für ihr eigenes Territorium sehen - einem Staat allerdings ohne israelische Siedlungen und ohne bewaffnete Siedler. Und ein Staat mit einer Hauptstadt in Ostjerusalem. Noch kämpft die Mehrheit der steinewerfenden jungen Leute genau für dieses Ziel. Doch schon fordern Hamas und Dschihad das ganze Palästina für sich. Ein vernüftiger Kompromiss könnte die Radikalen in Schach halten - wenn er denn zur rechten Zeit gefunden wird.

Viel Hoffnung besteht nicht. In Israel droht eine politische Paralyse - durch ein Notstandskabinett Barak-Scharon, durch einen langen Wahlkampf oder durch ein schwaches Minderheitskabinett Barak. Derweil würde die palästinensische Straße weiter radikalisiert. Der Blutzoll - 140 Tote, 5000 Verletzte in vier Wochen - ist so hoch, dass irgendwann der Ruf nach Waffen laut wird. Der Ruf würde weitergetragen in die arabische Welt. Und Staaten wie der von seinen Nachbarn fast rehabilitierte Irak, wie Syrien, Libyen und der Jemen könnten es nicht mehr bei lautstarken Solidaritätsbekundungen belassen. Eine politische Katastrophe droht: zurück mit der Zeitmaschine auf Feld Nummer eins, zurück ins Jahr 1948, in dem der Konflikt begann.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 31.10.2000

Pessimistisch äußert sich auch Detlef Franke in einem Kommentar in der Frankfurter Rundschau vom selben Tag.
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Kurs auf Eskalation

Israel lässt seine Muskeln spielen: In Nahost verringert sich jeden Tag die Hoffnung auf irgendeinen Ausweg aus der völlig verfahrenen Situation
Von Detlef Franke


Israel, ohnehin die militärisch und ökonomisch stärkste Macht in der Region, lässt in der bewaffneten Auseinandersetzung mit den Palästinensern die Muskeln spielen. Nach der Ankündigung des PLO-Chefs Yassir Arafat, die Al-Aksa-Intifada werde weitergehen, bis über Jerusalem die Flagge der Palästinenser weht, und nach der Fortdauer der nächtlichen Schießereien haben die israelischen Militärs über Jericho den Belagerungszustand verhängt. Der stellvertretende Verteidigungsminister Ephraim Sneh kündigt ein härteres Vorgehen und den Einsatz für den Guerillakrieg geschulter Sondereinheiten der Armee an. Die Zeichen im Nahen Osten stehen beiderseits auf Eskalation.

Die Verschärfung der Lage ist aber nicht nur der neuen Taktik Arafats anzulasten, der auf Konfrontation setzt. Sie ist nicht zuletzt dem allgemeinen Rechtsruck in der israelischen Innenpolitik geschuldet, wo sich derzeit ein Premierminister ohne parlamentarische Mehrheit um eine Koalition mit dem Likud und dessen Rechtsaußen Ariel Scharon bemüht. Ehud Barak kämpft um sein politisches Überleben und je mehr Stärke er gegenüber den Palästinensern demonstriert, umso höher steigen seine Chancen, Verbündete im rechten Lager zu finden.

Die palästinensische Bevölkerung zahlt die Rechnungen, die ihr von der eigenen und von der israelischen Seite präsentiert werden. Schon hat die Zahl der Todesopfer die Marke 140 überstiegen. Selbst für jene, die nicht an den Auseinandersetzungen teilnehmen, wird der Alltag zu einem Überleben im Gefängnis. Und mit jedem Tag verringert sich die Hoffnung, dass es irgendeinen Ausweg aus der völlig verfahrenen Situation geben könnte.
Aus: FR, 31.10.2000

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