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Naher Osten: Ein Konflikt - zwei Wahrnehmungen

Während der Konflikt zwischen Israel und Palästinensern bis zum Krieg eskaliert, verhärten sich auch die Standpunkte beider Seiten

Der Krieg um Palästina wird immer offener und unversöhnlicher geführt. Während die israelische Armee "Strafaktionen" gegen palästinensiche Stellungen organisiert, Luftangriffe auf Büros der Fatah fliegt und die Autonomiegebiete undurchlässig abriegelt, flüchten sich radikale Palästinensergruppierungen und -kommandos in Verzweiflungsattentate, denen mittlerweile auch wieder Zivilisten, unter ihnen auch Schulkinder, zum Opfer fallen. Barak macht Arafat für das Blutvergießen verantwortlich, während Arafat selbst unter gehörigem Druck aus dem eigenen Lager steht, radikalere Kampfformen gegen die israelischen Besatzer zuzulassen. In der Al-Aksa-Intifada seit dem 28. September 2000 sind mehr als 240 Menschen getötet worden, die überwiegende Zahl von ihnen sind - meist jugendliche - Palästinenser.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Stimmen aus dem Nahen Osten, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Die erste gehört einem Israeli, der sich selbst der "Linken" zurechnet. Es handelt sich um den Schriftsteller Eli Amir. Er stammt aus dem Irak und emigrierte 1951 nach Israel. Nach dem Studium der arabischen Literatur arbeitete er im Einwanderungsministerium. Er war persönlicher Referent von Shimon Peres, Berater in Bildungsfragen und bei Friedensverhandlungen unter Golda Meir und Yitzhak Rabin. Seine Bücher "Der Taubenzüchter von Bagdad" und "Shauls Liebe" sind auf Deutsch im Lübbe-Verlag erschienen.
Die andere Stimme gehört Hussein Albarghuthie. Auch er ist Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, der in Palästina und den USA studierte. Er ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt in der Nähe von Ramallah. Albarghuthie gehört keiner Partei an und gilt als politisch unabhängig.
Eli Amirs Beitrag erschien zusammen mit dem Interview mit Albarguthie am 22. November 2000 in der Frankfurter Rundschau. Wir dokumentieren den Artikel von Amir in gekürzter Form, den - wesentlich kürzeren - zweiten Beitrag in voller Länge.


Die Furcht des Besatzers vor den Besetzten

Man kann von Europa lernen, dass Grenzen nicht heilig sind: Bemerkungen zum israelisch-palästinensischen Konflikt und die Möglichkeit seiner Überwindung
Von Eli Amir


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Wir leben mit den Palästinensern zusammen, Hunderttausende von ihnen arbeiten in Israel, treten tagtäglich mit uns in Kontakt, wir sind miteinander verflochten wie Haarsträhnen in einem Zopf. Palästinenser und Israelis leben auf streitbarem Terrain: Der eine sagt, das ganze Land gehört mir, und der andere entgegnet, nein, es ist meins; um jeden Hügel, jede Erdhöhle und jedes Heiligengrab wird gerungen. Es wird ein Krieg geführt, der schon hundert Jahre dauert, ein Konflikt voller Blutvergießen und Emotionen, voll Hass und Hetze. Arafat und seine Leute sind zu der Überzeugung gelangt, dass es unmöglich ist, Israel auszuradieren oder zu besiegen. Führende Persönlichkeiten der Palästinensern haben in israelischen Gefängnissen gesessen; sie lernten gut Hebräisch, beschäftigten sich mit der Geschichte des Zionismus und schauten sich das israelische Staatssystem aus nächster Nähe an. Dabei fanden sie auch die Schwächen eines solchen Systems heraus und lernten die Demokratie und ihre politischen Strukturen für sich zu nutzen. Sie beschlossen, ihre Strategie und Taktik zu ändern. Erst 1988, mehr als zwanzig Jahre nach dem 67-er Krieg, erklärte sich Arafat bereit, mit Israel in Verhandlungen zu treten. Und auch jetzt, als wir endlich vor einer Lösung zu stehen schienen und sie selber ihre Bereitschaft zu Kompromissen und einer Befriedung signalisierten, haben sie uns im letzten Moment doch wieder einen Huftritt versetzt.

Arafat fürchtete, den Frieden vor seinem Volk nicht vertreten zu können - nicht vor Al-Fat'h, seiner eigenen Bewegung, und erst recht nicht vor Hamas und seinen Gegnern. Seine Situation glich der Rabins und Peres' nach Oslo. Zwar hatten sie die Palästinenser an den Verhandlungstisch gebracht, doch ging diese durchaus beachtliche Leistung mit schmerzlichen Zugeständnissen hinsichtlich Territorien und Besitzungen einher, die bei vielen in Israel große Verbitterung auslösten. Als die neue Intifada ausbrach, fragten viele Israelis: "Was nützt uns ein solcher Frieden?" Die Euphorie wandelte sich in Zorn und das Gefühl, hereingelegt worden zu sein. Und als wäre die Sache nicht bereits schlimm genug, brachen auch noch Unruhen unter jenen Arabern aus, die israelische Staatsbürger sind und als Minderheit in den Gebieten leben, die bereits vor 1967 zu Israel gehörten. Die israelischen Araber bekundeten ihre Solidarität mit Arafat und seinen Anhängern: Sie blockierten Hauptverkehrswege in Nordisrael, zündeten Reifen an, warfen Steine auf die Polizei und trugen zur Verschärfung der Lage bei.

Wir von der israelischen Linken, die Jahrzehnte lang die Errichtung eines palästinensischen Staats unterstützt haben und zu weit reichenden Zugeständnissen bereit waren, fragen uns heute ernstlich, ob wir uns getäuscht haben. Und wenn ja - wo lag unser Fehler? Wir sind verwundert über Arafats Führungsstil und Charakter. Er scheint verliebt zu sein in sein Image eines arabischen Che Guevara. Wir sehen einen kranken, 72-jährigen Anführer vor uns, der zu einer internationalen Persönlichkeit aufgestiegen ist, die noch immer Uniform trägt, die traditionelle Kefije so arrangiert, dass sie der Landkarte Palästinas gleicht, und sich als Kämpfer präsentiert. Vielleicht will er als großer arabisch-moslemischer Führer in die Geschichte eingehen, wie Gamal Abd Al-Nassr oder Saladdin, der die Kreuzritter besiegte. Vielleicht besitzt er auch nicht die Macht, um bestimmte Kräfte innerhalb seines Volkes zu disziplinieren, und bewegt sich deshalb auf einem schmalen Grat, auf dem er gleichzeitig Friedensfreund und Kriegstreiber sein kann. Arafat will beide Seiten unter Kontrolle halten. Er glaubt, dass Terror und ein begrenzter Krieg ihm behilflich sein werden, weitere Zugeständnisse von Israel zu erpressen. Doch hat er die Reaktion der israelischen Öffentlichkeit unterschätzt. Die Position der Rechten hat sich verstärkt, und Arafat droht Barak zu stürzen, so wie Schimon Peres seinetwegen die Wahlen verlor. Der Sturz Baraks, der einen Frieden des Kompromisses wünscht, könnte Netanjahu, Scharon oder eine andere Galionsfigur der Rechten ans Ruder bringen, die den Weg der Verständigung verlassen würde. Auch das ist Teil des Arafat-Syndroms. Juden und Palästinenser sind halsstarrige Völker, die viel Anerkennung brauchen, sie leiden beide unter einem Flüchtlings- und Opferkomplex, von dem sie sich nicht befreien können.

Geheimdienstkreise und Experten sind der Ansicht, dass Arafat seine Strategie und Taktik gewechselt hat und durch Terrortätigkeit und Intifada Israel schwächen will. Er zielt darauf ab, die internationale öffentliche Meinung zu beeinflussen und alle arabischen und einige moslemische Länder in einen großen Krieg gegen Israel zu verstricken. Dabei stützt er sich auf Hunderttausende Palästinenser in den arabischen Nachbarstaaten. Zudem haben Fundamentalisten und Judenhasser in den arabischen Ländern begonnen, auf die Straße zu gehen, um ihre Regierungen zum Kampf gegen Israel zu drängen. Ein Krieg im Nahen Osten würde die Wirtschaft und den Frieden der ganzen Welt bedrohen. Arafat will einen neuen Libanon, er will Sarajewo und Bosnien im Nahen Osten. Fremde Truppen sollen in die Region kommen und der territoriale Konflikt zweier Nationalbewegungen vor internationale Gremien und die Vereinten Nationen getragen werden. Jedoch übersieht er, dass ihm nur eine Übereinkunft mit Israel helfen kann. Arafat will den Streit zwischen unseren Völkern in einen Glaubenskrieg umwandeln - Allah zieht gegen den Gott der Juden ins Feld. Nur deshalb hat er den Tempelberg und die Al-Aksa-Moschee als Vorwand und Parole des Aufstands gewählt. In Wirklichkeit hat Israel kein Interesse, Al-Aksa anzutasten. Ich selbst war anwesend, als der israelische Außenminister Mosche Dajan die Hoheit über den Tempelberg dem Mufti von Jerusalem übertrug. Das geschah unmittelbar nach dem Sechstagekrieg, beim Besuch Dajans der heiligen Stätten. Bei dieser Gelegenheit befahl er auch, die israelische Fahne einzuholen, die ein örtlicher Befehlshaber dort hatte hissen lassen. Israel respektiert die Freiheit des Glaubens und des Kultes der Moslems und Christen in Jerusalem, und dazu gehört, dass sie ihre religiösen Institutionen in eigener Regie unterhalten können.

Den einseitigen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Libanon interpretieren die Palästinenser falsch. Sie begreifen nicht, dass Israels einziges Interesse im Libanon der Schutz der Bewohner Nordisraels war. Im Gegensatz zu Judäa, Samaria und Jerusalem ist der Libanon für Israel nicht lebenswichtig. Die Palästineser glauben eine gerade Linie zu erkennen, die sich von der Intifada von 1987 über der Rückzug aus dem Libanon bis zu den neuen Unruhen spannt.

Vor kurzem hat Arafat führende Terroristen des Hamas aus der Haft entlassen, die den Standpunkt vertreten, dass Sabotageakte und häufige Attentate wie unlängst die Autobombe in Jerusalem das Leben der israelischen Bürger unerträglich machen und sie zermürben. Tatsächlich erreichen sie das Gegenteil. Die israelische Öffentlichkeit reagiert ruhig und besonnen auf die Gewalt und die Beschränkungen in ihrem Alltag.

Die meisten Israelis unterstützen konsequent Ehud Baraks Politik der Zurückhaltung - die Palästinenser einen die fragmentierte Gesellschaft. Israel ist bekanntlich sehr stark und verfügt über eine hervorragende Armee. Aber Stärke verwandelt sich in Schwäche angesichts eines in den Armen seines Vaters getöteten Kindes, selbst wenn die ganze Welt Zeuge des Lynchmords an zwei israelischen Soldaten in Ramallah war, der abscheulichen Folterung und Tötung von zwei Männern, die sich verfahren hatten. Die Wirklichkeit täuscht - es gibt keine einfachen Lösungen; die üblichen Mittel scheinen ihre Bedeutung verloren zu haben, der Terror der Palästinenser ebenso wie die israelischen Strafaktionen. Und deshalb beschränkt Israel seine militärischen Einsätze auf eine Minimum.

Die zwei Sprachen Arafats

Genau wie die Israelis muss sich die Welt, die die jungen Palästinenser sieht, fragen, wie die palästinensische Gesellschaft geartet ist und was das für ein Führer ist, der seine Kinder opfert und in den Tod schickt. Der Hass, den die Palästinenser für Israel empfinden, muss enorm sein - in dem Augenblick, da Schulbücher, Erzieher und Meinungsmacher in Israel Frieden und Kompromissbereitschaft predigen und dazu aufrufen, die Palästinenser als Partner in gemeinsamer Nachbarschaft zu akzeptieren, züchten die Palästinenser in ihren Kindern weiterhin Hass und stilisieren die Israelis zu einem Satan, dessen Vernichtung die religiöse Pflicht gebietet.

In Israel ist eine starke Friedensbewegung aktiv - an der Friedensdemonstration anlässlich des Todestages Jizchak Rabins am 4. November in Tel Aviv nahmen 150.000 Menschen teil. Die palästinensische Seite hat dem nichts entgegenzusetzen. Wir, die israelischen Schriftsteller, Künstler und Denker, haben keine Friedenspartner auf der anderen Seite, die ihre Stimme erheben und zur Beendigung der Gewalt und Rückkehr an den Verhandlungstisch aufrufen. Zig Treffen und Hunderte von Vorträgen und Artikeln haben keine palästinensische Friedensbewegung hervorgebracht. Zu gefährlich ist es auf der anderen Seite, von einer Anerkennung jüdischen Heimatsrechts zu sprechen, selbst wenn dies auf einen Teil des Landes begrenzt wäre. Arafat bedient sich zwei verschiedener Sprachen; während er zur internationalen Öffentlichkeit spricht, hebt er mit der einen Hand den Ölzweig, doch in seiner anderen Hand lauert das uns bestimmte Schwert. Vielleicht kann ein hundertjähriger blutiger Streit nicht in zehn Jahren beilegt werden. Schimon Peres, Jizchak Rabins Gefährte beim Vertragsschluss in Oslo, glaubt, zum Frieden würden kleine, genau bemessene Schritte führen. Aber auch dabei blieben zwei Probleme ungelöst. Eins ist das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge. Diese Forderung ist eine Zeitbombe, die rechte wie linke Israelis gleichermaßen erschreckt. Folgt man diesem Lösungsvorschlag, so ist Israel als Staat mit jüdischer Identität verloren. Dennoch sollen die Flüchtlinge zurückkommen dürfen - in den entstehenden palästinensischen Staat. Weder sinnvoll noch gerecht wäre es zu verlangen, dass sie an die Orte heimkehren, wo sie vor fünfzig Jahren lebten. Denn ihre Häuser und Dörfer existieren nicht mehr, und dort, wo sie einst wohnten, haben sich zwei Millionen jüdische Immigranten angesiedelt, darunter Überlebende des Holocausts und Flüchtlinge aus den arabischen Ländern.

Das zweite Problem ist Ostjerusalem. So wie Israel die Bedeutung der Moscheen auf dem Tempelberg anerkennt, müssen auch die Araber und Moslems verstehen, dass nicht nur die Klagemauer, sondern alle Orte des Glaubens den Juden am Herzen liegen. Niemand weiß besser als die christliche Welt, wie sehr sich Israel für die Sicherheit ihrer heiligen Stätten speziell in Jerusalem, Bethlehem und Nazareth Israel einsetzt. Ich glaube, dass auch ein so kompliziertes Thema in Verhandlungen gelöst werden kann.

In den Augen der Welt ist Israel ein mächtiger Besatzer, und die Palästinenser sind ein besetztes schwaches Volk. Das Paradoxon besteht darin, dass der Besatzer den Besetzten fürchtet. Die jüdischen Israelis, die nur fünf Millionen sind, haben Angst vor 150 Millionen Arabern und rund einer Milliarde Moslems, die in ihrer näheren und weiteren Umgebung leben. Seit hundert Jahren ist Israel der Drohung sowohl seiner unmittelbaren Nachbarn als auch entfernter liegender moslemischer Länder ausgesetzt, beispielsweise des Irans, Libyens und des Iraks - es lebt in einem Zustand ständiger Belagerung. Die Geschichte hat bewiesen, dass die Araber viele Niederlagen ertragen können, während Israel es sich nicht leisten kann, einmal zu verlieren. Schon eine einzige Niederlage bedeutet Vernichtung. Israel wünscht Frieden und keine Herrschaft über ein Volk; darüber hinaus will es seinen jüdischen Charakter nicht verlieren.

Wenn die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, muss Israel sich den Palästinensern gegenüber großzügig zeigen und mit Europa und Amerika weitere Wege suchen, um die Lebensfähigkeit des palästinensischen Staats zu fördern und bei der Aufnahme und Ansiedlung der Flüchtlinge zu helfen. Israels Pflicht ist es, sich auf anständige Art und Weise von seinen Siedlungen und anderen sensiblen Orten zurückzuziehen. Andererseits obliegt es den Palästinensern, die Waffen niederzulegen, dem Terror und den Drohungen abzuschwören und Maßnahmen zur Friedenserziehung einzuleiten. Und die positive Atmosphäre, die sich ein Friedensschluss bewirken wird, wird die Haltung beider Seiten noch geschmeidiger machen. Vielleicht werden wir von Europa lernen können, das uns beweist, dass Grenzen nicht heilig sind und man eine gemeinsame Währung, offene Grenzen und freien Verkehr zum Wohl der Menschen einführen kann. Es gibt Palästinenser, die zu Bett gehen und träumen, dass sie anderntags aufwachen, und Israel und die Juden sind verschwunden, und manche Israelis träumen das Gleiche über die Palästinenser. Beider Fantasien werden sich nicht bewahrheiten. Wir müssen in gegenseitigem Respekt miteinander leben.
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Kein Homer Zur Neuauflage der Intifada

FR: Herr Albarghuthie, wurden Sie von dieser Neuauflage der Intifada überrascht?

Hussein Albarghutie: Schon im Sommer bevor Sharon die Aksa-Moschee in Jerusalem besuchte und die ganzen Ereignisse ihren Lauf nahmen, war zu spüren, dass etwas passieren würde. Alle wussten, dass der Friedensprozess in Gefahr war. Die Stimmung erhitzte sich immer mehr, kochte und explodierte schließlich. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde auch Ramallah bombardiert. Dabei ist Ramallah die liberalste Stadt in Palästina. Es gibt viele Christen hier und viele Bewohner haben vorher im Ausland gelebt. Dann ist da noch die Universität, an der ich auch unterrichte. Die vielen Studenten und Intellektuellen schaffen ein eher entspanntes öffentliches Klima.

Aber auch in Ramallah gibt es tägliche Straßenschlachten mit dem israelischen Militär. Glauben Sie, dass das zur Lösung des Konflikts beiträgt?

Dieser Widerstand ist natürlich und logisch. Wir erleben eine militärische Besetzung. Das erfordert, dass man sich wiedersetzt. Das ist immer so gewesen in der Geschichte. Die Menschen hier haben genug Unglück erlebt. Zehn Jahre haben wir gewartet, einen Kompromiss nach dem anderen gemacht - für nichts. Und jetzt explodiert diese Frustration. Der Widerstand ist das Einzige, was uns bleibt. Wir wollen Frieden, aber nicht diesen Frieden, den uns die Israelis aufzwingen wollen. Ihre Vorstellung von Frieden resultiert aus ihrer Macht. Das ist eine sehr enge Vision. Es kann beim Frieden nicht um das Recht des Stärkeren gehen. Das wird hier auf Dauer niemand akzeptieren. Sonst wartet man, bis man selbst stärker ist oder widersetzt sich eben.

Führt Arafat die Palästinenser oder führen sie ihn?

Mit Arafat fing in den fünfziger Jahren alles an. Er ist ein palästinensisches Symbol. Und er hat bewiesen, dass es ihm nicht um Geld geht. Jeder weiß, dass die Korruption hier weit verbreitet ist, dass es eine korrupte neureiche Klasse gibt, die sich während des Friedensprozesses breitgemacht hat. Die stört sich nicht daran, wenn die al-Aksa-Moschee in die Luft fliegt. Wir haben hier die Strukturen der Dritten Welt, keine Erfahrungen und keine Traditionen mit der Gründung eines Staates. Es gibt auch viele lobbyistische Gruppierungen in der PLO. Da ist die Korruption leider eine ganz natürliche Erscheinung. Und obwohl es dadurch einen Graben in der Gesellschaft gibt, sind noch lange nicht alle käuflich. Gerade durch die neue Intifada wurden diese Leute an den Rand gedrängt. Die Israelis wollten sich diese Korruption zu Nutze machen. Sie und die Amerikaner dachten, Arafat wäre isoliert und würde in Camp David unter Druck unterschreiben. Als er das nicht getan hat, wollten sie ihm eine Lektion erteilen. Das war ein Fehler. Die Leute haben das durchschaut. Frieden lässt sich nicht erpressen. Frieden musst du mit den Menschen machen. Wenn Arafat unterschrieben hätte und die Leute hier nicht daran glauben, dann nützt es gar nichts. Arafat ist nicht unser Führer, weil er es sein will, sondern weil er den Willen der Menschen hier zum Ausdruck bringt. Und nur so lange werden sie ihn unterstützen.

Können Sie als Schriftsteller darauf reagieren?

Schreiben ist Aktion, nicht Reaktion. Kunst ist kein politisches Programm. Unter diesen Umständen, mit all diesen Opfern, kann man nur Slogans schreiben. Nach literarischen Kriterien taugt das nicht viel, weil zu viel verloren geht. Also schreibe ich nicht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich das müsste. Während der ersten Intifada habe ich es auch nicht getan.

Inwieweit beeinflussen die politischen Ereignisse die palästinensische Literatur?

Für uns ist das ein großes, schreckliches Déjŕ-vu-Erlebnis. Die ganze "Scheiße" (bullshit) kommt wieder. Und ich will einfach nicht darauf reagieren. In den letzten zehn Jahren als es die Hoffnung gab, diese Politik zu überwinden, hat auch die palästinensische Literatur aufgeatmet. Wir haben uns nach dem Ende der ersten Intifada scherzhaft gefragt, worüber wir denn nun überhaupt schreiben könnten. Wir standen vor der Aufgabe neue literarische Dimension jenseits der Intifada zu suchen. So entwickelten sich verschiedene Richtungen. Die Mythologie war ein Thema, man begann sich mit der Korruption auseinander zu setzen und die Leute beschäftigten sich mit ihren eigenen Biografien. Das war ein spannender Aspekt - der Umgang mit den eigenen Erinnerungen. Denn es gab viele Guerillakämpfer, die ihr halbes Leben im Exil waren und sich nun mit ihrer Vorstellung von Heimat und den verschiedenen Realitäten konfrontiert sahen. Der direkte politische Kontext trat in der Literatur dieser Jahre in den Hintergrund.

Und heute?

Wer um seine Existenz kämpft, konzentriert seine Energien. Wenn Du Dich um das Leben Deines Kindes sorgst, ist es schwer Homer zu lesen. Alles was nicht mit Widerstand zu tun hat, fliegt raus. Themen wie Familie oder ein Dasein im Frieden finden keinen Platz mehr. Eigentlich sollte die Politik ein Teil des Lebens sein. Jetzt ist das Leben wieder eine Manifestation der Politik.

Aus: Frankfurter Rundschau, 22. November 2000

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