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Wie lange noch, Scharon?

Der Krieg im Nahen Osten muss beendet werden - sofort!

Die Eskalation der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern hat in den letzten Tagen und Wochen derart zugenommen, dass man mit Fug und Recht von einem Krieg sprechen kann. Militärische Offensiven der israelischen Armee, vorgetragen mit Kampfhubschrauber und Panzern, teilweise auch mit Kampfflugzeugen, richten sich immer mehr gegen die Zentren der palästinensischen Selbstverwaltung, gegen Polizeistationen und gegen ganze Städte und Flüchtlingslager. Gezielte Liquidationen von vermeintlichen Attentätern oder Führern extremistischer Gruppen sind demgegenüber in den Hintergrund getreten. Die Aktionen der Palästinenser haben stark zugenommen: In der Tat kann kein Fleck auf der israelischen Landkarte, kein Bus, kein Lokal, keine Kaserne, kein Checkpoint, keine Einkaufsstraße vor palästinensischen Anschlägen mehr sicher sein.

Am 12. März 2002 richtete UN-Generalsekretär Kofi Annan im UN-Sicherheitsrat einen Aufsehen erregenden Friedensappell an die Nahost-Konfliktparteien. Scharon und Arafat sollen die Spirale der Gewalt durchbrechen und die leidgeprüfte Region "aus der Katastrophe" führen. Angesichts von mehr als 230 getöteten Palästinensern und Israelis innerhalb der vergangenen zehn Tage müssten beide Seiten erkennen, dass "Sicherheit und eine politische Lösung untrennbar miteinander verbunden" seien. Die Palästinenser forderte er auf, keine "moralisch abstoßenden" Selbstmordattentate mehr zu verüben, Israel müsse seinerseits die Armee-Einsätze gegen unschuldige Zivilisten und die "tägliche Erniedrigung" der Palästinenser beenden. Auch müsse Israel die "illegale Besetzung" palästinensischer Gebiete beenden.

Anschließend verabschiedete der Sicherheitsrat eine Resolution (Nr. 1397 [2002]) - sie war von den USA eingebracht worden -, in der zum ersten Mal das Nebeneinander eines israelischen und palästinensischen Staates beschworen wird. Die exakte Formulierung lautet: "Der Sicherheitsrat steht hinter der Vision von einer Region, in der zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite an Seite in sicheren und anerkannten Grenzen leben." Auch wenn hier nur von einer "Vision" die Rede ist, so darf sich die palästinensische Autonomiebehörde in ihrer Auffassung bestätigt fühlen, eine friedliche Entwicklung im Nahen Osten sei nur über die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates zu erreichen. Im Übrigen werden in der Resolution die Konfliktparteien aufgefordert, "sofort alle Gewalthandlungen einzustellen, einschließlich aller Terrorakte, Provokationen, Hetze und Zerstörung". Die Führungen beider Seiten sollen bei der Umsetzung des vor einem Jahr von CIA-Chef George Tenet vorgelegten Arbeitsplans und der Empfehlungen des ehemaligen US-Senators George Mitchell zusammenarbeiten. Ausdrücklich begrüßt wird auch die vom saudischen Kronprinzen Abdullah eingebrachte Initiative zu friedlichen Beilegung des Nahostkonflikts.


Resolution 1397 (2002)
Rat bekräftigt Vision von zwei Staaten - Israel und Palästina


NEW YORK, 12. März 2002 - In seiner zweiten Sitzung von 24 Stunden hat der Sicherheitsrat seine tiefgehende Besorgnis angesichts der fortdauernden Gewalt im Nahen Osten seit September 2000 ausgedrückt. Der Rat forderten den sofortigen Stopp aller Gewalttaten, Terrorakte, Provokationen, Aufhetzungen und Zerstörungen.

Der Sicherheitsrat verabschiedete die Resolution 1397 (2002) mit 14 Stimmen, ohne Gegenstimme, bei Stimmenthaltung Syriens. Er bekräftigte darin die Vision von zwei eigenständigen Staaten - Israel und Palästina - die Seite an Seite innerhalb von sicheren und anerkannten Grenzen existieren könnten. Israelis und Palästinenser wurden dazu aufgefordert, bei der Umsetzung des Tenet-Plans und der Empfehlungen des Mitchell-Berichts zusammenzuarbeiten, mit dem Ziel die Verhandlungen über eine politische Lösung wieder aufzunehmen.

In der Resolution wird auch die Notwendigkeit hervorgehoben, dass alle Seiten die Sicherheit der Zivilbevölkerung gewährleisten und die universell gültigen Normen des internationalen humanitären Rechts respektieren. Der Sicherheitsrat begrüßte die diplomatischen Bemühungen der Sondergesandten der Vereinigten Staaten, der Russischen Föderation, der Europäischen Union sowie des Sonderkoordinators der Vereinten Nationen und anderer, einen gerechten und andauernden Frieden herbeizuführen.

UNO-Generalsekretär Kofi Annan erhielt Unterstützung für seine Bemühungen, beiden Seiten beim Gewaltverzicht zu helfen und den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen. Auch die Friedensinitiative des saudischen Kronprinzen Abdullah wurde begrüßt.

(Vgl. die Resolution im Wortlaut (deutsch und englisch)


Die Resolution wurde bei Enthaltung Syriens ohne Gegenstimmen mit 14 Ja-Stimmen angenommen. Der syrische UNO-Botschafter Michail Wehbe begründete die Enthaltung seines Staates bei der Abstimmung mit dem Argument, die Resolution sei "sehr schwach" und würde nicht an die Wurzeln des israelisch-palästinensischen Konflikts gehen, nämlich "die israelische Besetzung". Außerdem kritisierte er, dass die Mörder und die Opfer in dem Papier auf eine Stufe gestellt würden. Trotzdem habe man nicht gegen die Resolution gestimmt, um damit "eine Botschaft zu senden" und nicht die Einheit des UN-Sicherheitsrates zu sprengen (Der Standard-online, 13.03.2002). Demgegenüber bezeichnete der UN-Botschafter der USA, John Negroponte, die Resolution als "stark", da sie auf einem breiten Konsens beruhe. "Unsere Absicht war es, einen Impuls für die Friedensbemühungen zu geben sowie Gewalt und Terrorismus zu verurteilen", erläuterte er den Standpunkt der USA. So blieb auch Israel nicht anderes übrig, als die Resolution zu begrüßen - wie das denn auch der israelische UN-Botschafter Yehuda Lancry tat.

Dennoch war es eigentlich eine bittere Pille, die Israel schlucken musste. Doch auch Scharon ist inzwischen darin geübt, anders zu handeln als zu sprechen. So begrüßte er noch vor wenigen Tagen lauthals die Initiative des saudischen Kronprinzen, obwohl sie im Grunde genommen nichts anderes beinhaltet als die alte UN-Position, die in den immer noch gültigen und in der UN-SR-Resolution vom 12. März ausdrücklich bestätigten Resolutionen 242 (aus dem Jahr 1967) und 338 (1973) festgelegt sind: Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten, Anerkennung des Existenzrechts Israel in sicheren Grenzen durch die arabischen Staaten und internationale Verwaltung der Stadt Jerusalem. Wenige Stunden nach der Sicherheitsrats-Sitzung fand Israels Regierung wieder zu einer differenzierenden Sprache zurück. Außenamtssprecher Arie Mekel hob (am 13.03.2002) hervor, dass die Resolution das sofortige Ende aller "Terrorakte" forderte. Von den israelischen "Gewalthandlungen" war da nicht mehr die Rede. Auch die Frage eines palästinensischen Staates wurde aus einer etwas anderen Perspektive betrachtet: Dies sei nach Auffassung der Regierung nur möglich, wenn es sich um einen "entmilitarisierten Staat" handeln würde. Außerdem könne eine solcher Staat nur am Ende des israelisch-arabischen Konflikts stehen.

Den Friedensgesten der israelischen Regierung stand auch am 12. und 13. März das kriegerische Handeln gegenüber. Am 11. März hatte Scharon noch das Reiseverbot für Arafat gelockert. Der Chef der Palästinenserbehörde, der seit Wochen unter Hausarrest stand, dürfe sich nun wieder frei bewegen, allerdings nur innerhalb des Palästinensergebiets. Zu Recht kommentierte die israelische Tageszeitung "Yediot Ahronot" am 12. März sarkastisch, Arafat sei lediglich von einem "kleinen in ein großes Gefängnis" entlassen worden. Es gebe aber keinen Platz, wo Arafat hingehen könne. Das Hauptquartier in Gaza sei ebenso zerstört worden wie die Büros in Jenin, in Nablus, in Rafah sowie Khan Yunis. Und in der Nacht vom 12. auf den 13. März rückten Panzer der israelischen Armee nach Ramallah vor und besetzten die Stadt fast vollständig. Dabei wurden mehrere Palästinenser getötet worden. Ramallah ist für die Palästinenser so etwas wie die heimliche Übergangs-Hauptstadt.


Ramallah - Politisches und wirtschaftliches Zentrum der Palästinenser im Westjordanland

Ramallah ist das politische und wirtschaftliche Zentrum der Palästinenser im Westjordanland. Die Stadt liegt rund 20 Kilometer nördlich von Jerusalem. Im Großraum Ramallah leben etwa 220.000 Menschen. Palästinenserpräsident Yasser Arafat hat dort sein zweites Hauptquartier, neben seiner mittlerweile zerstörten Residenz in Gaza. Ramallah ist außerdem Sitz des palästinensischen Parlamentes, von Behörden und Ministerien der Autonomieverwaltung sowie von Sicherheitskräften.
Wegen seines angenehmen Klimas in einer Höhe von 900 Metern war das 1550 gegründete Ramallah für Palästinenser wie Araber aus den Nachbarländern immer ein beliebtes Urlaubsziel. Nach 28 Jahren Besetzung zog sich die israelische Armee im Dezember 1995 aus der Stadt zurück. Seitdem steht Ramallah offiziell unter palästinensischer Kontrolle.
Im Oktober 2000 kam Ramallah in die Schlagzeilen, nachdem eine aufgebrachte Menschenmenge zwei israelische Soldaten gelyncht hatte. Während der seit fast 18 Monaten anhaltenden Intifada rückte die israelische Armee immer wieder in die Stadt ein und verhängte Ausgangssperren. Vor dem Hauptquartier Arafats bezogen Panzer Stellung und setzten ihn damit vom 3. Dezember 2001 bis zum 11. März 2002 faktisch unter Hausarrest.


Auch sonst ging die israelische Armee am 12. und 13. März nicht gerade zimperlich mit den Palästinensern um. Dass dabei auch Europäer unter Feuerbeschuss gerieten, war zwar nicht gewollt, ist bei den flächendeckenden Angriffen der Israelis kaum noch zu vermeiden. Am 12. März waren etwa 30 ausländische Reporter unter Beschuss geraten ("irrtümlich", wie ein Militärsprecher bekanntgab), als sie von einem Hoteldach aus das Vorrücken der Armee in das Camp Al Amari beobachten wollten. Die israelische Regierung versprach die in solchen Situationen übliche "Untersuchung" des Vorfalls. Konsequenzen hatten solche Untersuchungen in der Vergangenheit nie gehabt, schreibt die Frankfurter Rundschau (14.03.2002). Einen Tag später wurde ein italienischer Pressefotograf erschossen. Raffaele Ciriello, Mitarbeiter der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera, wurde offenbar von einem Maschinengewehrfeuer aus einem israelischen Panzer getroffen, als er die Militäroperation in Ramallah im Bild festhalten wollte. Ein französischer Journalist wurde schwer verletzt. Ciriello ist der erste Journalist, der seit Beginn der Intifada erschossen wurde. Ein Armeesprecher betonte, Ramallah sei zum Sperrgebiet für Zivilisten erklärt worden. Den Soldaten sei nicht klar gewesen, dass sich dort Journalisten aufhalten. Ciriello, selbst nur mit einer Kamera "bewaffnet", wurde von insgesamt sieben Kugeln getroffen.

Betroffen von den israelischen Angriffen war auch Österreich. In Ramallah ist ein Studio des ORF unter Beschuss geraten. Dies sagte ORF-Korrespondent Franz Normann am 12. März in einem Live-Bericht in der Mittagssendung "Zeit im Bild". Er könne sich nicht vor der Kamera zeigen, da das Gebäude beschossen werde. Zuvor waren Panzer aufgezogen, weil offenbar ein palästinensischer Heckenschütze die israelischen Truppen unter Beschuss genommen habe. Im Bericht war der Einschlag eines Geschosses in einer Fensterscheibe zu sehen. Normann sagte, im Raum lägen Geschosse herum. Aus Sicherheitsgründen müsse er seinen Bericht abbrechen.

Am Abend dann wurde auch das österreichische Koordinationsbüro in Ramallah geschlossen. Nach Auskunft des palästinensischen Mitarbeiters Maher Daoudi wurden die ausländischen diplomatischen Vertretungen, die Büros in Ramallah unterhalten, am frühen Morgen verständigt, dass das Gebiet auch für Diplomaten gesperrt sei. Daoudi, der selbst nicht in Ramallah lebt, berichtet von einem Telefonat mit einem in Ramallah ansässigen Mitarbeiter. Das österreichische Büro befindet sich in der Schwesterstadt Ramallahs, El Bireh. Demnach waren zum Zeitpunkt des Berichts in Ramallah derzeit kaum Menschen auf den Straßen, dafür umso mehr Panzer, die in Richtung auf das Flüchtlingslager rollten. Rund um das Büro von Präsident Yasser Arafat sollen die Panzer bis auf 150 Meter an das Areal vorgerückt sein.

Immer gefährlicher wird die Arbeit auch für die medizinischen Dienste der Palästinenser. Das palästinsische Rote Kreuz hat seine Rettungsdienste in der Region Ramallah im Westjordanland am 13. März bis auf weiteres eingestellt. Die Entscheidung habe gefällt werden müssen, weil der Einsatz für die Sanitäter in dem israelisch besetzten Gebiet vor allem während der Nachtstunden zu gefährlich sei, sagte ein Sprecher des Roten Kreuzes der französischen Nachrichtenagentur AFP. Den Angaben zufolge wurde zuvor ein Geländewagen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in einer Ambulanz-Eskorte von drei Schüssen israelischer Soldaten getroffen. Dabei habe es aber keine Verletzten gegeben. - Seit Anfang März kamen bereits fünf palästinensische Sanitäter im Einsatz durch Schüsse israelischer Soldaten ums Leben. Das IKRK mahnte in der vergangenen Woche bei der israelischen Regierung verstärkten Schutz für medizinisches Personal an. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) übte scharfe Kritik an der mangelnden Rücksichtnahme auf die Arbeit der Hilfsorganisationen in den umkämpften Gebieten. "Lebenswichtige Hilfe kann die Verletzten, Kinder, Schwangeren und Behinderten nicht erreichen", sagte WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland am Mittwoch in Genf.

Die Situation im israelisch-palästinensischen Konflikt könnte gar nicht komplizierter sein. Scharon muss, will er nicht noch mehr Anhänger in den eigenen Reihen verlieren, sowohl Stärke als auch Verhandlungsbereitschaft zeigen. Ersteres geht ihm leicht von der Hand; dieses Handwerk hat er gründlich gelernt. Mit letzterem tut er sich naturgemäß schwerer. Dennoch: Seine Ankündigung vom 11. März, Verhandlungen mit den Palästinensern auch führen zu wollen, ohne dass vorher eine siebentägige absolute Waffenruhe geherrscht habe, war ein kleiner Lichtblick. Prompt traten denn auch einen Tag später zwei ultrarechte Minister zurück. Infrastrukturminister Avigdor Lieberman und Tourismusminister Benny Elon treten für eine noch härtere Linie gegenüber den Palästinensern ein. Zu dem Spagat zwischen ganz Rechts und Rechts - Peres und seine Arbeitspartei haben im Kabinett wenig zu sagen - ist Scharon auch gezwungen, weil die Kritik aus dem Ausland immer lauter wird. Selbst die USA drängen ihren wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten zu einer mäßigenden Haltung. Schließlich soll die neuerliche Vermittlungsmission des US-Sondergesandten Anthon Zinni erfolgreicher verlaufen als die letzten beiden im Dezember 2001 und im Januar 2002. Hinzu kommt noch etwas: US-Präsident Bush wünscht sich endlich Ruhe an der israelisch-palästinensischen Front, um sich endlich seinem Plan widmen zu können den Irak anzugreifen. Daher die Zustimmung zum Friedesnplan des audischen Kronprinzen, daher auch die Initiative zu einer Nahost-Resolution im UN-Sicherheitsrat am 12. März. Ob das alles reichen wird, um die Gegner wieder an einen Tisch zu bekommen, ist fraglich. Dazu bedarf es noch mehr diplomatischen, ökonomischen und politischen Drucks - vor allem auch aus Europa.

Peter Strutynski

Quellen: Der Standard (Online, 12 und 13. März 2002; Frankfurter Rundschau; Süddeutsche Zeitung; Neue Zürcher Zeitung; www.uno.de


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