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Das System "Antiterrorstrategie" und der islamische Nachbarraum

Von Arne C. Seifert *


Neue Konflikte mit dem Nahen und Mittleren Osten

Nach dem 11.September 2001 geriet der Nahe und Mittlere Osten im Kontext der Antiterrostrategie ins Zentrum eines Prozesses im westlichen Bündnis, von dem man heute schlußfolgern kann, dass er zum Dreh- und Angelpunkt einer Neuorientierung seiner internationalen Sicherheitspolitik im Sinne globaler Interventionsbereitschaft und -fähigkeit werden sollte. Diese Region wurde zum ersten großen strategischen Zielgebiet.

Heute, sieben Jahre nach jenem 11. September, befindet sie sich in einem derart instabilen Zustand, dass die Frage berechtigt ist, ob sich Europa vor seiner Haustür eine neue Konfliktsituation schafft. Sie könnte gefährlicher werden, als der israelisch-palästinensische Konflikt. Mit diesem konnten Europa, ja sogar die Region selbst über nahezu sechzig Jahre leben. So gefährlich er stets war und ist und so sehr er schnellstmöglicher Beendigung bedarf, so hat er doch Europas Sicherheit nicht wirklich gefährdet. Nunmehr könnte sich das mit den neuen Konflikten und Zuspitzungen sowie der tiefen anti-westlichen Stimmung in der Region ändern.

Die Lage ist heute schlechter, als vor dem 11.September 2001. Quantitativ, weil die Anzahl der Konfliktherde gewachsen ist. Qualitativ, weil deren Konfliktinhalte schwieriger und explosiver geworden sind.Geographisch, weil sich die Zone der Konflikte nach Iran, Afghanistan und Pakistan ausgeweitet hat, somit auch Süd-Westasien zu erfassen beginnt.

Die neue Qualität macht auch aus, dass praktisch alle Konfliktherde mit westlicher Einmischung verbunden sind. Einige sind das Ergebnis direkter Aggression oder Kriege, andere der Manipulation interner Konfliktkonstellationen zugunsten westlicher Interessen:    

         * In Irak, ist, neben einer Million Gewalttoter und Verwundeter, die innere Stabilität auf lange Sicht untergraben. Mit unvorhersehbaren Folgen für die gesamte Region, bis hin zur Gefahr des Staatszerfalls, von Millionen Flüchtlingen und möglicherweise der Zuspitzung regionaler Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten.

         * Das Verhältnis mit den Herrschaftsträgern des Iran befindet sich in einer ernsten Krise. Der hauptsächliche Grund liegt in der von der Bushadministration betriebenen Politik des "Regime Change", die auch  einige EU-Staaten tolerieren. Für Iran ist der Westen „Feind" geworden. Der Streit um die Atomanreicherung kann als Ausfluss dieser Konstellation gelten.  

         *  Auch in Syrien und Libanon trachten der Westen, insbesondere die USA und Frankreich danach,  die Machtkonstellationen zu ihren Gunsten zu verändern. Das „System Assad" setzen sie unter Druck: Entweder es orientiert sich zu seinen Gunsten um und kündigt seine strategische Allianz mit Iran auf, oder ihm droht Isolierung von der Regelung des Nahostkonflikts, konkret in der Gholanfrage. Im Libanon betrachtet der Westen die Hizbollah als seinen und Israels Feind und unterstützt deren Gegner. Auf diese Weise wird in beiden Staaten die ohnehin latente Spaltung von Gesellschaften und politischen Akteuren mit dem Risiko des Destabilisierens der letzten beiden säkularen Staaten im arabischen Osten vorangetrieben.  

         * Der israelisch-palästinensische Konflikt bleibt trotz oder vielleicht wegen der von Bush initiierten Konferenz von Annapolis weit von einer Regelung entfernt. Die Bush-Administration schuf für sich in Annapolis ein Einflussmonopol auf diesen Konflikt und seine Regelung. Alle neuen „Facilitatoren" sind handverlesen - drei US-Generäle plus Blair. So werden multilaterale Regelungsmechanismen, wie das Nahost-Quartett, geschwächt und    eine regionale arabische Mitwirkung, wie in Gestalt des Arabischen Friedensplans, unterlaufen. Die auch von der EU betriebene Isolierung von Hamas spaltet und schwächt die Palästinenser zugunsten der israelischen Position am Verhandlungstisch, was einer gerechten Zweistaatenregelung schadet. Annapolis hat die VN weitgehend aus dem Spiel verdrängt, wie auch die Implementierung der UN-Beschlüsse zum Nahostkonflikt. Europa hat sich dieser US-Linie unterworfen. Das Ganze läuft auf noch radikaleren Widerstand aus der neuen und so schwierigen Quadratur Iran-Hizbollah-Hamas-Jihad hinaus. 

Welche Konsequenzen birgt diese neue Konfliktsituation für das Verhältnis zwischen dem Nahen und Mittleren Osten und Europa in sich? Um diese Frage in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, sollten noch einige allgemeinere Aspekte und deren Konsequenzen ins Auge gefasst werden:

Erstens, die konfrontative Positionierung des Westens gegenüber „politischem Islam", Islamismus und islamischen Bewegungen. Buchstäblich Alle und Alles, die der Westen mit jenen Phänomenen in Verbindung bringt, stigmatisiert er als Terroristen, "neuen Feind der westlichen Zivilisation". Diese Positionierung ist deshalb mehr als kurzsichtig, weil es Europa davon abhält, sich auf die neuen gesellschaftspolitischen Entwicklungstendenzen in dieser Region einzustellen. Sie laufen im Kern darauf hinaus, dass islamische gesellschaftliche Opposition weiter zunehmen wird. Für eine solche Perspektive haben die EU-Staaten keine konfliktentschärfende Strategie.

Zweitens, der gesamte Westen führt zum ersten Mal in der Geschichte seiner Beziehungen zum Nahen und Mittleren Osten in dieser Region massiv Kriege. Zum Kriegsschauplatz Irak kam der afghanische. Das Bekenntnis deutscher Militärs, dass die Taliban militärisch nicht besiegt werden können[1], offenbart, dass die NATO inzwischen um mehr, als einen Sieg über die Taliban kämpft. Ihr geht es darum, als überlegener Sieger aus ihrem Afghanistan-Abenteuer herauszukommen, um international das Gesicht zu wahren. Aber diese Zielwandlung verändert den Charakter des Afghanistaneinsatzes und damit auch der VN-Mandatserfüllung grundsätzlich: Die NATO kämpft um die Hegemonie des Westens über diese Region und darüber hinaus.    

Drittens, die Konfliktfront erweitert sich geographisch. Offensichtlich wird Pakistan zu einem weiteren „Gefechtsfeld" zwischen anti-westlichen und pro-westlichen Kräften. Noch ist der Ausgang offen. Deutlich wird jedoch, dass sich der Westen zum Schutz seiner Verbündeten in immer mehr Scharmützel mit deren zumeist islamischen Opponenten verwickelt. Verteidigungsminister Jung sprach auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2008 offen aus, dass die Bundesregierung bereit ist, sich in dieses neue Konfliktfeld zu stürzen, indem er ermahnte: „wir müssen bei der Einbindung der Nachbarstaaten, allen voran Pakistans, weiterkommen."[2] Autoritäre Regimes, wie das Musharafs und dessen Atomwaffen, nimmt er dabei in Kauf.

Viertens, Im Nahen und Mittleren Osten wird die Nahostpolitik der Regierung Merkel zunehmend kritischer bewertet. Schon die Aufforderung des ehemaligen SPD - Verteidigungsministers Struck, „Deutschlands Sicherheit müsse am Hindukusch verteidigt werden" hatte dort für größtes Befremden gesorgt. Inzwischen bemerken selbst deutschlandfreundliche liberale, säkulare arabische Kreise, dass die Regierung Merkel ihre Nahostpolitik einer neuen Prioritätensetzung untergeordnet hat. In ihrer strategischen Vorrangliste USA, transatlantische Allianz, NATO, EU, Antiterrorstrategie sei auch Israels Sicherheit auf einen vorderen Platz gerückt. Der „Rest" der Region, so meint man in diesen Kreisen, werde unter dem Gesichtspunkt des Wohlverhaltens gegenüber jenen Prioritäten „bewertet" oder als „Freund oder Feind" von Islamismus. Diese neue Freund-Feindbezugsordnung für internationales Verhalten macht arabische diplomatische Kreise fassungslos, weil es den Staat als Beziehungsgröße ablöst. Des Weiteren sehen diese Kreise ihre Region von westlichen Streitkräften militärisch eingekreist: um den Nahen und Mittleren Osten herum, im Mittelmeer, in Nordafrika, von Zentralasien und dem Kaukasus aus. Für sie bedeutet dies ein drastisches Sicherheitsdefizit.

 

Der lange Weg in neuen Antagonismus

Europa gelang es, seine Sicherheit über den Konflikt zwischen zwei antagonistischen Systemen hinweg, „Ost und West", NATO und Warschauer Vertrag, zu erhalten. Am 11. September 2001 wurde die Welt in New York Zeuge eines neuen Antagonismus: Ein von religiöser und zivilisatorischer Feindschaft fanatisierter Kontrahent hatte sich zur Gewalt entschlossen. Zuvor muss er in einem langen politischen und auch persönlichen Erkenntnisprozess zu dem Schluss gekommen sein, dass es aus den Widersprüchen zur westlichen Supermacht keinen friedlichen Ausweg mehr gibt, jene nur die Sprache der Gewalt versteht. Damit fand eine Konflikterruption statt, der die Kontrahenten im Ost-West-Konflikt erfolgreich auszuweichen vermochten.

Das Verhältnis des Westens zu politischen Orientierungen von nahöstlichen Eliten und Gegeneliten, deren Parteien und Bewegungen, prägt eine konfliktreiche Geschichte. Dabei ging und geht es im Kern, zugespitzt formuliert, um das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Interessen und Verständnisse von Werten, Moderne und Modernität. Auf der einen Seite steht der säkulare „Westen" mit seinem Interesse, diese Region als das weltweit wichtigste Energiereservoir zu beherrschen und einen möglichst großen Teil seiner Petrodollars in die eigenen Wirtschafts- und Finanzkreisläufe zurückzuholen. Das gelingt ihm aber nur, wenn er die herrschenden Eliten dieser Region zu lenken vermag.

Auf der anderen Seite befinden sich die islamischen Gesellschaften. Sie sind selbst in zwei soziale und wirtschaftliche Welten gespalten: in die „OPECS" und die „NO-PECS", in Reiche und Arme. Bei Ersteren bewirkte die Verknüpfungen durch Erdöl und Petrodollars mit den Industriestaaten des Nordens innerhalb kürzester historischer Zeiträume eine rasante ökonomische Revolution, deren soziale Tiefenwirkungen[3] die Gesellschaften aus ihrem Jahrhunderte alten Gleichgewicht warfen. Noch schwerer fiel ihnen der Umgang mit dem fremden Gesellschaftsmodell und dessen Werten, die der Westen über seine ökonomische Durchdringung der Region in sie injizierte. Es setzte ein Prozess des Aufbrechens und Aufreibens der traditionellen Grundlagen islamischer gesellschaftlicher Organisation ein. Letzteres trifft auch auf die „zweite arabische Welt" zu. Wirtschaftlich und sozial-ökonomisch gleicht sie mit Mangelernährung, Krankheiten, hoher Analphabetenquote[4] und anderen gravierenden Defiziten den meisten Entwicklungsländern. Gemeinsam ist beiden arabischen Welten eine Krise ihrer politischen Strukturen und ein politischer Reformstau. „Die arabische Entwicklungskrise hat sich ausgeweitet und vertieft, und ist [...] komplex geworden."[5]      

Ökonomische und wertemäßige Penetration, Beeinflussung von Führungseliten, Fremdbestimmung politischer Prozesse und Entscheidungen, so etwa ließe sich der Mechanismus charakterisieren, mit dem der Westen seine Hegemonie über diese Region aufrechtzuerhalten trachtet.

Dieser konfliktreiche Hintergrund von Abhängigkeit und Hegemonie ist es, der das Verhältnis der arabischen Welt zum Westen belastet und aus dem auch die „Gewaltdimension in der Strategie der terroristischen Gruppe Al Khaïda als Reaktion auf eine als gewalttätig  wahrgenommene Interaktion in der Geschichte"[6] verstanden werden kann. „Die Geschichte der Begegnung zwischen dem Westen und der islamischen Welt seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts und der Gegenwart...wird (von Teilen der radikalen Islamisten - A.S.) als weitgehend gewalttätig wahrgenommen. Die Dominanz Europas und - nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - der USA war verbunden mit steter Gewalt."[7] Zwar formulieren moderate, säkulare arabische Kreise diesen Sachverhalt vorsichtiger, im Kern meinen sie aber das Gleiche - Fremdbestimmung. „In einer Zwangslage zwischen Unterdrückung im eigenen Land und Übergriffen durch das Ausland gefangen, werden Araber immer mehr davon ausgeschlossen, ihre eigene Zukunft zu bestimmen."[8]   

Dass solche Zustände gesellschaftliche Opposition auslösen müssen, ist nur folgerichtig. Auch, dass unter den Umständen einer islamischen Gesellschaft Opposition sich der am weitesten verbreiteten Ressource bedient - der Religion, des Islams. Schlüssig sind weiterhin die starken anti-westlichen Komponenten jener Opposition[9]. Die Staatsmacht ergriff sie erstmals mit der islamischen Revolution 1979 im Iran. Sie stürzte den wichtigsten US-verbündeten in der Golfregion, Schah Reza Pahlavi. Khomeinis' islamische Revolution zeichneten vor allem das Zurückweisen jener kulturellen und wertemäßigen Durchdringung der iranischen islamischen Gesellschaft durch westliche Dekadenz sowie ein konsequenter Antikolonialismus aus. Beides, der Sturz des Schahs und der Antikolonialismus jener Revolution, jagten den USA einen gewaltigen Schreck ein. Denn sie markierten den Beginn des Ausscherens der ersten Erdölmacht aus einem Abhängigkeitssystem, in welches die USA die Herrscherhäuser beiderseits des Golfs seit den 50-er Jahren eingebunden hatten.  

Jener Typ von Opposition, welcher den Westen heute zunehmend außer Atem bringt, dürfte für ihn eigentlich keine Überraschung sein. Er liebte deren  Antikommunismus und Antisowjetismus, solange es ihm darum ging, im arabischen und afrikanischen Raum den Einfluss der Idee nationaler Befreiung, des sozialistischen Lagers und später die Sowjetunion aus Afghanistan zu verdrängen. Als eine seiner der wichtigsten Ressourcen baute er damals islamistische Bewegungen. Dass dieser Opposition auch eine antikoloniale Orientierung immanent  war, die sich natürlich in erster Linie gegen den Westen und seine Supermacht richten mußte, zogen die USA nicht ins Kalkül.

 

Fehlkalkulationen der USA-Nahostpolitik

Die Fehlkalkulationen in der USA-Nahostpolitik zu hinterleuchten, deren strategische Kurzsichtigkeit im Umgang mit gesellschaftlicher Spezifik im Nahen und Mittleren Osten, ihrer inneren Logik und politischen Kultur, ist heute insofern aktuell, als andere NATO-Staaten im Kontext der Antiterrorstrategie sich ins Schlepptau dieser Politik begeben haben.

Bereits zu Beginn der 1970-er Jahre hoben die USA einen strategischen „think tank" zur Bekämpfung des Kommunismus und der sozialistischen Orientierung in Afrika aus der Taufe. Ihm gehörten an Henry Kissinger, Alexander de Marenches (seit 1972 Chef des französischen SDECE), Ägyptens Präsident Anwar Sadat, Schah Mohammad Reza Pahlavi, der marokkanische König Hassan II und Kamal Adham, damaliger Chef des saudi-arabischen Geheimdienstes. Die Geheimdienste der Staaten dieses Klubs, den der Herausgeber des ägyptischen Zeitung „Al Ahram", Mohammad Hasanein Heikal[10], „Safari-Klub" taufte, vereinbarten im September 1976 gemeinsame Maßnahmen im Sinne des obigen Ziels, wozu auch die Ausweitung des Einflusses des Islams und islamistischer Organisationen als Gegenkraft zum kommunistischen Modell gehörte.[11] Auf diesem „Teilgebiet" seiner Gegenstrategie erkannte der Klub dem saudischen Königshaus die Führungsrolle zu. Von 1973 bis 1993 unterstützte es die Konsolidierung islamischer Organisationen in siebzig Entwicklungsländern mit 80 Mrd. US-$.[12]                

Seit dem Rückzug Großbritanniens als Kolonial- und Protektoratsmacht 1968 aus dem Golf trachtete die westliche Supermacht danach, die Herrscherhäuser der arabischen Erdölstaaten in eine Allianz gegen die Sowjetunion und den Warschauer Pakt zu ziehen. Mitte der 1980er Jahre war das die Hauptaufgabe der US-Diplomatie im Golf.[13] Sie scheiterte an der Politik des gleichen Abstands zu den Blöcken („Äquidistanz"), der, neben anderen nichtpaktgebundenen Staaten, auch die Golfmonarchien folgten, weil diese ihnen nationale und internationale Spielräume ließ. Jedoch zusammen mit dem Warschauer Vertrag verschwanden auch jene Spielräume. Erst im Golfkrieg 1990/91 gelang es Washington schließlich, die von Saddam Hussein in die Enge getriebenen Golfstaaten in eine solche Allianz einzubinden. Diesmal allerdings mit anderen Zielen.

Diesmal standen das Bemühen im Vordergrund, die Golfstaaten auf einen Kurs der Normalisierung ihrer Beziehungen mit Israel zu bringen und deren Zustimmung zur Stationierung von bis zu einer halben Million ausländischer Truppen in der Region zu erreichen.  Ausgerechnet in Saudi-Arabien, einem heiligen Land des Islam. Doch gerade mit Letzterem gossen sie Öl ins Feuer der islamistischen Gegenkräfte. Das Paradoxe bestand darin, dass gerade jene das Eigenprodukt der USA selbst waren. Diese hatten die Islamisten im ersten Afghanistankonflikt als Hilfstruppe zum Verdrängen der Sowjets aus Süd-West-Asien aufgepäppelt und somit ihnen zum ersten internationalen Dschihad verholfen.[14] Jedoch vermochten die US-Führungen nicht, für sich die Tiefen einer Logik zu entschlüsseln, wie sie beispielsweise islamische Gelehrte aus Mekka beseelt: „If Iraq has occupied Kuwait, America has occupied Saudi Arabia. The real enemy is not Iraq. It is the West."[15]  

Auch in den afghanischen Taliban verrechneten sich die USA. Symptomatisch dafür ist ein Bekenntnis des ehemaligen US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski.1998 antwortete er auf die Frage von „Nouvel Observateur": „Bedauern Sie, islamistischen Fundamentalismus ermutigt, zukünftige Terroristen mit Waffen und  Beratern versorgt zu haben?" Antwort: "Was ist im Kontext von Weltgeschichte wichtiger: die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Einige islamistische Fanatiker oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?"[16]

Nachdem die USA mit Hilfe jener „islamistischen Fundamentalisten" aus dem Untergang des Sowjetimperiums als die einzige verbleibende Supermacht hervortraten, zogen sie selbstsicher in ihren ersten großen Krieg im Golf. Sie befreiten einen der wichtigsten arabischen Erdölstaaten, Kuweit, und bestraften den anderen, Irak, für die Okkupation des Ersteren. Woraus auch US-Präsident Bush (Sen.) nach dem ersten Irakkrieg kein Geheimnis machte, formulierte Brzezinski so: „Kommt das Ende (des Krieges - A.S.) schnell nach einem entscheidenden Sieg, wird es keinen neuen Isolationismus in Amerika geben - aber auch keine neue Weltordnung. Vielmehr hätten wir es im wesentlichen mit einem internationalen System zu tun, dem die Überlegenheit einer Supermacht zugrunde liegt."[17]

Ausgerechnet den islamischen Golf hatten sich die USA ausgewählt, um mit ihrem internationalen Führungsanspruch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes erstmals aufzutrumpfen. Auch damals war Krieg ihr wichtigstes Instrument. Nachdem die kommunistische Supermacht gefallen war, konnten dieser Anspruch der USA, der dafür gewählte Ort und die Mittel für eine antiwestlich gestimmte islamische Opposition nur die falschen Schlussfolgerungen sein. Trotzdem entschlossen sich nicht alle ihrer Teile für den Weg der Gewalt, um den USA die Grenzen zu zeigen.

Es war die iranische Führung jenes  Staates mit der ersten islamischen Revolution, die mitteilte, wie sie sich eine „neue Weltordnung" vorstellen könnte: „Unsere Welt (sieht) sich neuen Zwängen und Erfordernissen gegenüber, die eine Neubewertung der Natur und der Zukunft von internationaler Sicherheit verlangen", so Irans Präsident Mohammed Khatami. „Die alte Auffassung von internationaler Sicherheit, die auf Macht und militärischen Fähigkeiten von Großmächten beruht, hat einen fundamentalen Wandel durchlaufen. Sicherheit kann nicht mehr allein durch Vereinbarungen zwischen einer Handvoll von Mächten in Abwesenheit derjenigen, die marginalisiert werden, garantiert werden. Die Ereignisse vom 11. September zeigen, dass die Trennung von Zentrum und Peripherie nicht mehr länger die Sicherheitsordnung unserer heutigen Welt festlegen kann, da sogar die marginalisierten Gegenden in der Lage sein könnten, den großen Mächten Schaden zuzufügen."[18]

 Khatami unterbreitete hier nicht nur einen bedenkenswerten Ansatz, wie ein neuartiges Verhältnis zwischen seiner Region und Europa gestaltet werden könnte. Auf ihn wurde nicht gehört. Heute hat es Europa im Iran mit weitaus radikaleren Politikern zu tun. Das wird so bleiben, oder sich noch verschlechtern, wenn nicht endlich der grundsätzliche Widerspruch ausgeräumt wird, den gerade die Antiterrorstrategie erneut provoziert. Er besteht in einer Politik des Westens, welche „Einmischung als Norm" zum Prinzip macht, und ihre Zurückweisung. Die zentralen Säulen jener Politik sind das Streben, fremde Herrschaftssysteme, welche nach westlicher Einschätzung eine „Gefahr" darstellen, entweder von außen zu stürzen oder sie mit „weicher demokratisierender Intervention" nach westlichem Normensystem zu transformieren, die machtgestützte Sicherung von Wirtschaftsinteressen sowie die wertemäßige und kulturelle Bevormundung durch einen sich im Zuge der ökonomischen Globalisierung ausweitenden Kulturimperialismus[19].

 

System Antiterrorstrategie

Der Westen hatte also zumindest ein Jahrzehnt Zeit, sich darauf einzustellen, dass eine so genährte islamisch/islamistische Opposition kein konjunkturelles, taktisch nutzbares Phänomen sein würde. Das zumindest Erwartbare wäre ein realpolitischer Umgang mit ihr gewesen. Zaghafte Ansätze dafür fanden sich in der Debatte um das zukünftige Profil der NATO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Bezweifelt wurde sogar, ob die von der NATO in Umlauf gebrachte neue Konfliktgemengelage aus „ethnischen und religiösen Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichenden oder fehlgeschlagenen Reformbewegungen, Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten", „wirtschaftlicher Not, Zusammenbruch politischer Ordnungen"[20] „allein oder auch zusammengenommen [...] ein ausreichendes Bedrohungspotenzial" darstellt, „um die weitere Selbsteinbindung der mächtigsten Staaten des Westens in eine enge militärische Partnerschaft (die NATO - A.S.) rechtfertigen zu können."[21] Selbst noch nach dem 11. September zweifelten deutsche Bundeswehrexperten: „Ob die Bedrohung der westlichen Industriestaaten durch den Terrorismus ausreicht, um einen mit dem Kalten Krieg vergleichbaren Allianzzusammenhalt aufrecht zu erhalten, bleibt äußerst fraglich."[22]

Die Friedensbewegung reagierte  mit dem Konzept von der „zivilen Konfliktbearbeitung." Sie plädierte für einen friedlichen politischen Umgang mit innergesellschaftlichen Konflikten und ließ sich davon leiten, dass den Risiken ethnischer und nationaler, ordnungspolitischer und religiöser Konflikte dauerhaft in erster Linie mit friedlichen Mitteln und gewaltfrei zu begegnen sei. Die Architekten dieses richtigen Strategieansatzes konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Vielmehr obsiegte das Primat der militärischen „Konfliktbearbeitung" mit der NATO-Kosovointervention als Wendepunkt. Damals führte die neue Bundesregierung Deutschland  in seinen ersten großen Krieg gegen einen anderen europäischen Staat, Jugoslawien. In einer Nagelprobe also, in der die Priorität ziviler Konfliktbearbeitung hätte greifen müssen, schloß sie sich der militärischen „Konfliktbearbeitung" an und verließ diesen Weg. Sie ließ sich auf einen Krieg ein, den nur wenige Wochen danach alle wichtigen deutschen Friedensgutachter als Debakel, politisches Fiasko und Völkerrechtsbruch[23] qualifizieren.

Die deutsche Militärindustie griff nach dem Kosovokrieg die neuen Ansätze der NATO  unverzüglich auf. Deren Bewertung der neuen „sicherheitspolitischen Ausgangslage" schloss sie sich mit einer eigenen Bedrohungsliste an: „Autonomie- und Hegemonialkonflikte mit ethnischem, weltanschaulichem oder religiösem Hintergrund, religiöser Fundamentalismus, Bürgerkriege, soziale Spannungen, Überbevölkerung und wirtschaftliche Katastrophen, aber auch neuartige Bedrohungspotenziale durch weitreichende Trägermittel, strategische Informationskriegsführung oder terroristische Handeln". [24] Daraus leitete sie „neue Anforderungen an die Verteidigungstechnologie"[25] her.

 Als hinderlich empfanden deutsche Konzerne vor allem einen prinzipiellen Unterschied, den sie zwischen den Exportförderungsstrategien für Militärtechnologie Europas und der USA sahen: Für den Export von Militärtechnologie, die der neuen strategischen Ausgangssituation entspräche, „bietet die US-Regierung den Käuferländern nicht nur ihre Verteidigungsprodukte an, sondern auch die berechtigte - nicht nur auf einer Illusion gegründete - Aussicht auf politische Unterstützung, falls und wann immer diese Produkte eingesetzt werden müssen (kursiv Verfasser). Genau dies verleiht der US-Industrie ihren Wettbewerbsvorteil. - Etwas Gleichwertiges hat Europa nicht zu bieten!"[26] Inzwischen hat ihnen die neue Militärpolitik der EU aus dieser Benachteiligung herausgeholfen.      

 Im Kontext der Kosovointervention formte sich unter deutschen Politikern und Militärs ein „geändertes, modifiziertes Verständnis von Landesverteidigung."[27] Es rückte, wie die NATO, ins Zentrum von Verteidigung die „Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im gesamten Spektrum"[28], besonders aber, so der damalige SPD-Bundesverteidgungsminister Scharping, die „Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Süden"[29]. General a.D. Naumann war sich sicher, dass nicht nur „die nächste Krise kommen wird"[30], sondern über uns die „heraufziehende Stürme des 21. Jahrhunderts" herfallen, welche „keine lauen Winde sein werden".[31]

Mit der Definition „Herausforderungen aus dem Süden", einschließlich, „religiösem Fundamentalismus" war die entscheidende Richtungs- und Strategiebestimmung gefallen. Von der breiten Bedrohungspalette, die sich in den Wirren der Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ausbreitete, erwiesen sich der Schock des 11. September und damit verbunden Islam, Islamismus und islamistischer Terrorismus als die geeignetsten Mittel, um das auszuräumen, was General Colin L. Powell, damals Chef der amerikanischen Joint Chiefs of Staff, als eine noch größere Bedrohung verstand: Das Fehlen eines neuen Feindbildes. „Mir gehen die Dämonen aus!", erklärte er kurz nach dem Golfkrieg 1991, „mir fehlen die Schurken!"[32] Die Bush (Jun.) - Administration schloss dieses Defizit mit der Kategorie der Schurkenstaaten. Die CDU ging weiter! Sie erhob den 11. September zum Beweis dafür, „dass an die Stelle des Ost-West-Konflikts eine Auseinandersetzung um die zivilisatorischen Werte getreten ist, auf die sich eine globale Ordnung stützen muss."[33]

Der Ansatz zum Strategiewechsel in der internationalen Politik des westlichen Bündnisses findet sich also bereits Ende der 1990er Jahre, also lange vor dem 11. September 2001 statt. Erst mit Hilfe der Antiterrorstrategie konnte dieser gewünschte und nicht von außen aufgezwungene Strategiewechsel zum System geformt werden. Als kollektive Klammer war die  „islamistische Bedrohung" allen Beteiligten recht. Sie half ihnen, die Argumentationshoheit zu Erringen, um auch den Europäern zu erklären, dass für sie die Zeit gekommen sei, die historischen Lehren zweier Weltbränden zu vergessen und Krieg wiederum als unausweichliches Mittel der Politik zu akzeptieren. 

Das System Antiterrorstrategie half aber vor allem den USA, den Charakter der NATO auf internationale Interventionsbereitschaft umzustellen. Sie fanden Sympathiesanten in Teilen der Bundeswehrgeneralität, welche, wie der Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, General Harald Kujat, die erwünschte strategische Orientierung unterstützten, mit „militärischem Engagement...dort hinzugehen, wo die Risiken ihren Ursprung haben" und der „Globalisierung des Terrors" mit einer Erweiterung der „geostrategischen Interessenlage der Allianz" zu begegnen, „die weit über die frühere out-of-area-Diskussion hinausgeht: Kaukasus, Nah- und Mittelost, Mittelmeerraum, Afrika südlich der Sahara." [34] Obgleich sich diese Orientierung für das Verhältnis Europas zu den Staaten Asiens und Afrikas perspektivisch als  falsch erweisen wird, folgte ihr Solana mit dem Entwurf einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in die gleiche Richtung. Die Staaten der EU akzeptierten sie. Ob NATO oder EU, alle verband das hegemonistische Interesse,  die „transatlantischen Beziehungen als Kern der internationalen Ordnung"[35] durchzusetzen.    

Das System Antiterrorstrategie verhalf der Bushadministration zur Dominanz in diesem gesProzess -  Inspiration vom „clash of civilisations",  Verweis auf eine zivilisatorische Bedrohung durch islamistischen Terror, Umwandlung des 11. September in einen NATO-Bündnisfall, VN-Mandat verbrämtes Verwickeln der NATO in einen realen Krieg (Afghanistan). Die US-Dominanz über das System Antiterrorstrategie schlug auf die Außenpolitik des gesamten Westens zwar negativ durch. Aber das System selbst erleichterte es der Bushadministration, im gesamten Westen alle Beteiligten auf einen gemeinsamen Strategienenner zu bringen - Politik, Militär, Militärindustrie, bürgerliche Parteien, Parlamente und Medien.    

Somit erweist sich die Antiterrorstrategie als ein gigantisches politisches Manöver, mit dem der Westen die 180 Û«-Wende des außenpolitischen und militärischen Charakters seiner Bündnissysteme NATO und EU im Sinne eines international wirksamen Interventionspotentials vollzog. Nunmehr, nachdem der Strategiewechsel gelungen und das erforderliche Potenzial verfügbar ist, wendet sich eine konsolidiert erscheinende NATO neuen „Horizonten" zu. Man denkt über ein neues strategisches Konzept nach, über neue Raketenabwehrsysteme,  Energiesicherheit, Verteidigung im Kosmos und darüber, vermittels eines Vertrags mit den Vereinten Nationen[36] dem Mandat einer globalen Ordnungsmacht näher zu kommen. Gleich: Die „transatlantischen Beziehungen als Kern der internationalen Ordnung" und die NATO als Kern ihrer militärischen Vollzugsorgane.

 

Neue europäisch-nahöstliche Konfliktqualität

Eigentlich hätte Parlamenten, Medien, der Öffentlichkeit im Ganzen nicht entgehen dürfen, dass die Antiterror-Strategie den Konflikt um den Terrorismus von vornherein in eine Regelungskrise führen musste. Denn das politische Mittelrepertoir, mit dem es ihre Konstrukteure ausstatteten, führte an dessen zentraler Frage vorbei. Nämlich an der nach dem politischen Kern des neuen Konfliktes.

Wenn es richtig ist, wie behauptet wird, dass es sich beim Konflikt mit dem islamistischen Terrorismus um einen neuen  Konflikt-, ja Kriegstyp handelt, weil es der Westen mit einem neuen Typ von Gegner zu tun hat, dann wäre es doch richtig zu schlussfolgern, dass auch nach einem neuen Typ von Frieden gesucht werden muss. Das setzt allerdings voraus, dass Frieden gewollt ist. Das Gegenteil war und ist der Fall. Die europäischen Regierungen haben der Öffentlichkeit seit dem 11. September keine fundierte Analyse des politischen Kerns des Konfliktes um den Terrorismus, der zu regelnden Streitfragen und somit des Inhalts des Konfliktes vorgelegt. Das aber bleibt wichtig. Denn: Solange die politischen Ziele und Absichten des „Gegners" nicht konkret geklärt sind (ist ihr Ziel wirklich, die westliche Zivilisation zu vernichten?), die öffentliche Debatte über das Wesen des Kampfes gegen den Terrorismus nicht entmystifiziert und -ideologisiert wird, gelingt es nicht, die politische Dimension des Konfliktes von der militärischen zu emanzipieren. Gegenwärtig dominiert die militärische Orientierung von Konfliktbewältigung die politische, womit der Konflikt als Ganzes erhalten bleibt.

Inzwischen ist eindeutig, dass die innere Logik des Systems Antiterrorstrategie und ihrer Ziele für jenen neuen Konflikttyp kein Ende und keinen Frieden vorsieht! Die Kernfrage im transatlantischen Bündnis lautet anders: „Politische Neuordnung"[37] des „Greater Middle East" und Sicherung von Wirtschaftsinteressen, falls erforderlich machtgestützt.

Wie eingangs geschildert, ist sieben Jahre nach der Einleitung der Antiterrorstrategie  nicht nur die Lage im Nahen und Mittleren Osten schlechter, als vor dem 11.September 2001. Für Europa fällt noch schwerer ins Gewicht, dass es vom Strudel der neuen Konfliktdynamik selbst erfasst werden wird. Weil Mitverursacher jenes Strudels, gerät Europa unausweichlich in dessen Sog. Es ist nämlich nunmehr mit zwei Konfliktkreisläufen konfrontiert: Zum einen mit dem „Kreislauf" der neuen Konflikte in der Region. Da aber die neuen Konflikte ein Kreis westlicher Antiterrorakteure verursachte, in dem auch Europa und die Bundesrepublik mitwirkten, sind diese Akteure automatisch in den ersten Kreislauf verwickelt.  Beide Kreisläufe sind also miteinander verbunden.

Worin besteht die Dialektik jener beiden Konfliktkreise? Erstens besteht sie darin, dass  Europa gemeinsam mit den USA nicht nur zum Teil dieser Konflikte, sondern auch zum  Verursacher wird. Für Europa, die Bundesrepublik und deren Nahostpolitik ist das eine neue Qualität. Eine Mittäterqualität.

Zweitens bekommt es Europa zunehmend mit den Kosequenzen dieser neuen Konfliktqualität zu tun. Worin zeigen sich diese?

  • Zumindest seit der Invasion Iraks durch die US-geführte Militärkoalition ist im Nahen und Mittleren Osten auch das Verhältnis zu Europa von Misstrauen überschattet. Solches nähren Befürchtungen, dass sich im Westen und dem nordatlantischen Bündnis ein Rückfall in „alte" Hegemonialpolitik zu Gunsten seiner Energie- und Wirtschaftsinteressen vollzieht.
  • Die antiwestlichen Stimmungen werden stärker. Das Furore um die Mohammed-Karrikaturen brachte in der gesamten islamischen Welt Millionen Protestierende auf die Straßen. Eine neue Qualität von antiwestlicher Stimmung wurde sichtbar, wie sie bisher nur in der Periode der antikolonialen Befreiung, so gegen die Suezinvasion Englands und Frankreichs im Jahre 1956, zu Tage trat.
  • Zwischen Staatsführungen, politischen Parteien und gesellschaftlichen Vereinigungen aller politischen Couleur des Nahen und Mittleren Ostens besteht weitgehende Übereinstimmung darin, dass sie, mit Ausnahme einiger weniger Individuen, westliche Drohungen mit dem Ziel von Politikänderungen unisono ablehnen.[38] Gleiches gilt für die nahezu permanente westliche militärische Präsenz, US-Initiativen zur Demokratieförderung werden als Einmischung in die inneren Angelegenheiten abgelehnt.
  • Die Antiterror-Strategie und ihre negativen Folgen für die Region verstärken dieses Misstrauen. Ohne dass es diese Strategie vermochte, die Ursachen des Terrorismus auszuräumen, sind ihre unmittelbaren Folgen Zulauf zu extremistischen islamistischen Gruppierungen und deren Akzeptanzerweiterung in den Gesellschaften. Al Khaïda konnte ihr Operationsfeld sogar ausdehnen.
  • Radikale islamistische Gruppen sind dabei, ihren Einfluss auf muslimische Gemeinden Europas auszudehnen, wodurch Bemühungen zu deren Integration zurückgeworfen werden. Auch hierin äußert sich eine neue Qualität: Was zu kolonialen Zeiten als Peripherie Europas galt, der Nahe Osten und Nordafrika, haben begonnen, nach Europa zu emigrieren. Letztere sind durch die unumkehrbare Präsenz starker muslimischer Gemeinden in Europa und zunehmenden Migrationsdruck nicht länger äußere Peripherie Europas, sondern dessen innerer Faktor. Das stellt europäische Politik vor die Herausforderung, nach einer kooperativen, integrationsförderlichen Gesamtatmosphäre im Inneren wie im Äußeren zu streben. Bisher versagt sie dabei.
  • Auf ihren Kriegsschauplätzen sind weder die USA, noch die NATO militärisch erfolgreich. In ihren Kriegen im Irak und Afghanistan stellt sich heraus, dass ein Hightech-Krieg in der Auseinandersetzung mit den asymmetrischen Kampfmitteln der „neuen Gegner" nicht zu gewinnen ist. Auch zeigt sich, dass die militärische „Enthauptung" gegnerischer Führungen nicht deckungsgleich mit dem Verwirklichen angestrebter politischer Ziele zu sein braucht. Angesichts dieser Erfahrungen stecken die westlichen Allianzen zur Zeit in einem Ziel-Mittel-Dilemma ihrer Interventionsstrategie: Die politischen Absichten lassen sich mit dem zur Verfügung stehenden militärischen Hightech-Mittelrepertoir nicht oder nur ungenügend zielführend in die Tat umsetzen.

Bisher weist nichts darauf hin, dass sich Europas Regierungen des Dilemmas bewusst sind, in das sie jene beiden selbst geschaffenen Konfliktkreise hineinziehen. Vielmehr steht zu befürchten, dass sich die Situation sowohl in der Region, als auch im europäisch-nahöstlichen Verhältnis weiter verschlechtert.

 

Ein neues Verhältnis wird gebraucht!

 Die Unterwerfung europäischer und deutscher Nahostpolitik unter das von den USA dominierte System Antiterrorstrategie stellt die Idee von einem europäischen Stabilitätsraum grundsätzlich in Frage. Solange die EU ihre  Nachbarschaftspolitik gegenüber dem Nahen- und Mittleren Osten als ein regionales Szenario für die Umsetzung einer Politik gestaltet, die das transatlantische Bündnis als „Achse" versteht, um die herum der Westen seine neue Weltordnung formt, wird es nicht gelingen, das Verhältnis zu seinen islamischen Nachbarregionen auszubalancieren. Eine solche Strategie ist nicht geeignet, die auf der arabischen und islamischen Seite weit verbreitete negative Subjekt-Objekt-Wahrnehmungsperspektive abzubauen, derzufolge Europa das Subjekt von Interessenpolitik ist, während die nah- und mittelöstlichen (islamischen) Regionen deren Objekt sind. Eine solche Zweitklassigkeitswahrnehmung belastet das Verhältnis zu Europa aufs Schwerste und belässt es in seiner Krise.

Um diese zu überwinden ist eine Richtungsentscheidung zu Gunsten einer Politik zu treffen, die das Verhältnis zu den islamischen Nachbarregionen langfristig zu einem Modus vivendi friedlicher Koexistenz und Zusammenarbeit führt. Auf einer solchen Grundlage müsste der dringend benötigte Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Regimen, politischen Systemen, Kulturen, Werteauffassungen und daran gebundenen, teilweise gegensätzlichen Interessen organisiert werden, die in diesem gewaltigen Nachbarschaftsraum mit den arabischen und islamischen Regionen herrschen.

Alle entscheidungsrelevanten Kriterien - die Stabilität des geostrategischen Gesamtraumes Europa und seiner südlichen Nachbarregionen, Energiesicherheit, innere europäische Stabilität und Integration muslimischer Bevölkerung, Sicherheitswahrnehmungen seitens der südlichen Nachbarstaaten, deren Verzicht auf Atomwaffen, europäische Nachbarschaftspolitik im Mittelmeerraum, schwierigeres gesellschaftspolitisches Umfeld in der Region - sprechen dafür, dass sich Europa um ein neues Verhältnis zu seinen islamischen Nachbarregionen bemüht.

Worin das „Neue" inhaltlich bestehen müsste, erläutert die Initiative „Diplomaten für den Frieden mit der islamischen Welt" in ihrem Dokument „Gemeinsame Stabilität: Ein neues Verhältnis zwischen Europa und seinen nordafrikanischen, nah- und mittelöstlichen Nachbarregionen schaffen!"

 


[1] Vizeadmiral a.D. Hans Frank in der Phoenix-Runde „Verteidigung am Hindukusch - Die Bundeswehr in Kriseneinsätzen", 12.2.2008. In gleicher Runde fragte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Gertz, ob denn Afghanistan militärisch zu stabilisieren sei oder wir nicht gerade lernen, was die Sowjets erfahren mussten.  

[2] Jung, Münchner Sicherheitskonferenz, http://www.securityconference.de/Konferenz/2008/index.php?

[3] „Einführung der Lohnarbeit, Proletarisierung von großen Teilen der Bauernschaft, Landflucht in Verbindung mit einer Verwestlichung, die nahezu alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang." In: Peters, Rudolph, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20.Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismu, Ende, Steinbach (Hrsgb.), Der Islam in der Gegenwart, Verlag C.H. Beck, München, 5. Auflage 2005, S. 126  

[4] Arabischer Bericht über die menschliche Entwicklung 2004, UNDP, DGVN, Berlin 2005

[5] Ebenda, S.3

[6] Steinbach, U., Islamischer Terrorismus, Ein selbstkritischer ‚Dialog der Kulturen‘ ist jetzt gefragt, Internationale Politik, No.3, März 2002, S. 5

[7] Ebenda

[8] Arabischer Bericht,a.a.O., Vorspann

[9]„Abgesehen davon, dass sich diese Bewegungen auf die Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit gründen, haben sie ihe Wurzeln auch in antiwestlichen Gefühlen. Sie richten sich grundsätzlich gegen die westliche politische, kulturelle und wirtschaftliche Vorherrschaft. Somit sind sie radikaler als die nationalistischen politischen Führer, die tatsächlich nur gegen die politische Anwesenheit des Westens kämpften. Die neofundamentalistischen Bewegungen weisen alle Ideologien zurück, die sie als vom Westen eingeführt ansehen." Peters, S. 126/27

[10] Heikal erhielt vom iranischen Revolutionsführer Khomeini die Erlaubnis zur Sichtung der Archive des Schahs, wo er auf die hier wiedergegebenen Fakten stieß.

[11] „Der Safari-Klub rettete Zaires Diktator Mobuto, wofür er marokkanische und ägyptische Truppen sowie französische Luftstreitkräfte einsetzte; wendete von Ägypten die ‚Flut' ab, indem er 1972 die sowjetischen Militärberater aus dem Lande experimentierte, später geschah Gleiches mit den sowjetischen Militärberatern in Somalia; er provozierte Krieg zwischen Somalia und Äthiopien, weil dieses sich zur sozialistischen Orientierung bekannte." Ignatenko, S. 108.  

[12] Ebenda

[13] Deren Beobachter konnte der Verfasser zwischen 1982 und 1987 in seiner Eigenschaft als DDR-Botschafter sein.

[14] Den ehemaligen Afghanen, die nach dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan 1989 zurückkehrten, stand auch Bin Laden nah. Vergleiche: Joffè, G., Ungewisse Zukunft für Saudi-Arabien, Internationale Politik, No.3, März 2002, S. 23

[15] Fürtig, Henner, Demokratie in Saudi-Arabien? Die Ä€l-Sa Å«d und die Folgen des zweiten Golfkriegs, Forschungsschwerpunkt Moderner Orient, Arbeitshefte, Nr.6, Verlag das Arabische Buch, Berlin, 1995,S.30,

[16] Nouvel Observateur, No. 1732, 15. Jan. 1998, in: Ignatenko, A., Islamic Radicalism: A Cold War By-Product, Central Asia and the Caucasus, No. 1(7), 2001, S. 110.

[17] Der Spiegel, Nr. 4, 1991, S. 124

[18] Khatami, M., Rede vor der 56. Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. November 2001, in: Internationale Politik, No.3, März 2002, S.75/76

[19] Ernest Gellner definiert „kulturellen Imperialismus" als „die Bemühungen einer Kultur, zu herrschen oder sich auszubreiten, um eine politische Einheit auszufüllen". In: Gellner, Ernest, Nationalismus und Moderne, Rotbuch-Verlag, Hamburg, 1995, S. 24

[20] Nach:Das Strategische Konzept des Bündnisses,Auswärtiges Amt,http://www.auswaertiges-amt.de/3_auspol/index.htm, S.6,1

[21] Ebenda, S. 24

[22] Theiler, Olaf, Die NATO im Umbruch, Schriften der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation, BD.26, Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 2003, S.25.

[23] Siehe dazu das Friedensgutachten 1999, LIT Verlag,1999, S.27,28,4.

[24] Bischoff, M., Sicherheitspolitik und Wirtschaft - Verteidigungstechnologie und Verteidigungsindustrie, Tagung über internationale Sicherheit „Veränderte Aspekte der Sicherheitspolitik - Risiken und Möglichkeiten, 6.-8. Februar 1998, München, in: Daimler-Chrysler Aerospace, Dokumente der Luft- und Raumfahrtindustrie, 1/1998,S.3

[25] ebenda

[26] Dr. Piller, Wolfgang, Europäische industrielle Basis - Voraussetzungen für transatlantische Partnerschaft, Vortrag vor den NATO-Botschaftern und militärischen sowie zivilen Repräsentanten der NATO, Brüssel, 8.Oktober 1998, in: Daimler-Chrysler Aerospace, Dokumente der Luft- und Raumfahrtindustrie 9/1998,S.5

[27] Generalinspekteur Hans-Peter von Kirchbach, Klappspaten können Waffen nicht ersetzen,in: Welt am Sonntag,11.7.1999, Beilage S.2

[28] ebenda

[29] Scharping, In der Nato gibt es nicht zu viel Amerika, sondern zu wenig Europa, ebenda, S.1 (Kursiv der Verfasser)

[30] General a.D. Klaus Naumann, ebenda, S. 3

[31] Ebenda

[32] Theiler, S. 23

[33] Papier der Wertekommission der CDU, nach: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8.Sept. 2002, Nr. 36, S.2

[34] General Harald Kujat, Vorsitzender des Militärausschusses der NATO, Montagsgespräch der Rheinmetall DeTec AG, 7.5.2005, http://www.rheinmetall-detec.de/index.php?lang=2§fid=2987

[35] Identifying and Understanding Threats from the EU's Perspective: Points to Discuss in Solana's Strategy Document, Working document prepared for The Rome international workshop on the EU's Security Strategy, Aspen Institute, Italia, September 19, 2003 - Palazzo Salvati, Rome, S. 3

[36] de Hoop Scheffer, Münchner Sicherheitskonferenz, http://www.securityconference.de/Konferenz/2008/ index.php?

[37] Perthes, Volker, Greater Middle East, Geopolitische Grundlinien im Nahen und Mittleren Osten, Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2004, S. 684

[38] vgl. Faath, Sigrid: Politik und Gesellschaft in Nordafrika, Nah- und Mittelost zwischen Reform und Konflikt, Entwicklungstendenzen bis 2010, Deutsches Orient-Institut, Hamburg, Mitteilungen, Band 74/2006, S. 40, 44


* Dr. Arne C. Seifert, Botschafter a.D., Mitglied in der "Initiative Diplomaten für Frieden mit der islamischen Welt", Mitglied im Verband für Internationale Politik und Völkerrecht.


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