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Die Botschaft des Irakkriegs: Der Krieg als brutalstes Mittel der Politik soll wieder Normalität werden

Ein Plädoyer für Menschenrecht und Völkerrecht statt Barbarei

Von Werner Ruf

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede, die Prof. Dr. Werner Ruf (Kassel) am 27. September 2003 bei einer Berliner Friedenskundgebung anlässlich des Internationalen Aktionstags gegen Krieg und Besatzung gehalten hat.


Als die Nazi-Barbarei, die ganz Europa verwüstet und Millionen von Menschen wegen ihrer Volkszugehörigkeit in einem industriell organisierten Massenmord umgebracht hat, als diese Barbarei im Frühjahr 1945 zu Ende war, sollte eine neue Weltordnung entstehen - frei von Krieg und frei von Menschenrechtsverletzungen. Die Väter der UN-Charta hatten diesen engen Zusammenhang zwischen Achtung der Menschenwürde und Ächtung des Krieges als fundamentale Voraussetzung für die Schaffung einer friedlicheren Weil erkannt. Und es lohnt sich, die Charta wieder und wieder zu lesen, um diesen Zusammenhang zu erkennen - aber auch um zu sehen, wie weit die Staaten dieser Welt sich inzwischen von den Grundsätzen verabschiedet haben, die sie - rechtlich verpflichtend - mit ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen als für sie selbst bindend unterschrieben und ratifiziert haben. So wird gleich in Art. 1, Abs. 3 als Ziel der Vereinten Nationen das Ziel festgelegt:
"... eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen."

Und Artikel 2 verbietet das bis dahin als Teil der Staatensouveränität geltende Recht auf Kriegführung, bestimmt er doch:
"Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede ... mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."

Wie aber sieht diese Welt heute aus, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts so viel friedlicher hätte werden können? Da erklärt ein Staat, der mächtigste dieser Welt, er habe das Recht und den Willen, "Bedrohungen auszumachen und auszuschalten, bevor sie unsere Grenzen erreichen." Dies ist nicht nur der Anspruch, vom Völkerrecht verbotene Kriege zu führen, es ist der Anspruch, solche Kriege präventiv, "vorbeugend" zu führen - wo immer man behauptet oder vorgibt, dass eine Bedrohung existiere. Neben all den massiven ökonomischen und politischen Interessen, die hinter dem Krieg gegen Irak stehen, wurde dieser Krieg auch geführt, um zum ersten mal diese Bush-Doktrin in die Realität umzusetzen - dass das Bedrohungspotential des Irak als vorgegebener und eindeutig völkerrechtswidriger Kriegsgrund nur in den Legenden der Bushs, Rumsfelds und Blairs existierte, wissen wir heute. Die Botschaft dieses Krieges ist: Der Krieg als brutalstes Mittel der Politik soll wieder Normalität werden!

Und dieser Krieg wurde in den Planungen und Verlautbarungen des Pentagon immer wieder bezeichnet, ja gefeiert als eine Art Ouvertüre zum Restructuring the Middle East", zum "Umbau des Nahen und Mittleren Ostens." Dieser Raum, der seit nahezu einhundert Jahren Unrecht erleiden musste wie keine andere Region dieser Erde. Im Zuge und in der Folge des 1. Weltkriegs wurden künstliche Grenzen gezogen, Staaten geschaffen, denen jedes Attribut der Souveränität fehlte, Herrschaftshäuser und Regime gegen den Willen der Völker installiert - und diese Regime - von Saddam Hussein bis zu den Saudis, von Pakistan bis Ägypten - sind bis heute die brutalsten und undemokratischsten dieser Welt. Und so lange sie bedingungslos mit denen kooperieren, die sich arrogant "die freie Welt" nennen, werden sie mit allen Mitteln gefördert und gestützt - wie weiland Saddam Hussein oder jene afghanischen Banditen, die sich mit der Fahne des Islam verkleideten. Passen sie nicht mehr ins Konzept, werden sie zum Feind erklärt und beseitigt - seit Beginn dieses Jahres offen und skrupellos mittels völkerrechtswidriger Kriege.

In diese von den USA geführte Gesamtstrategie gehört an zentraler Stelle der Staat Israel. Hassobjekt der arabischen Welt, bequemes Alibi für die reaktionären arabischen Regime, die mit anti-israelischer Propaganda von der eignen Misswirtschaft, Korruption und Unterdrückung abzulenken versuchen, bestätigt insbesondere die Regierung Sharon alle diese aufgestauten Hassgefühle. Der in Oslo mühsam gewonnene Kompromiss, der zur Anerkennung Israels durch die PLO führte, und der mit der Formel "Land für Frieden" den Palästinensern einen Staat auf dem Gebiet des völkerrechtswidrig besetzten Westjordanlandes und des Gaza-Streifens in Aussicht stellte, all dies wurde vor allem durch die darauf folgende israelische Politik zunichte gemacht: Statt der 22 Prozent des ehemaligen britischen Protektorats Palästina, die die besetzten Gebiete noch darstellen, bleibt den Palästinensern im Rahmen der sog. Straßenkarte für den Frieden gerade noch die Hälfte des Gebietes, das ihnen in Oslo zugestanden worden war. Und die Siedlungspolitik geht weiter, die Mauer zur Einzäunung der palästinensischen Gebiete wird weiter gebaut - auf Kosten palästinensischen Bodens. Die gezielte Liquidierung von palästinensischen Führungspersonen einschließlich vieler unbeteiligter Zivilisten, Kinder, Frauen Greise durch die israelische Armee, die palästinensischen Selbstmordanschläge, die wahllos israelische Zivilisten treffen, haben zu einer Eskalation der Gewalt geführt, die nicht mehr beherrschbar scheint. Eine Gewalt, die argumentativ im Rahmen der neuen Metapher des Krieges gegen den Terrorismus benutzt wird, um jedwede Form der Gewalt im sogenannten Krieg gegen den Terrorismus zu legitimieren.

Machen wir uns Eines klar. Eine gerechte Lösung des Konflikts zwischen Israel und Palästina auf der Basis des Oslo-Abkommens hätte grundlegend zur Befriedung der Region beigetragen. Die Folge wäre gewesen: Die USA hätten es schwer gehabt, Gründe für ihre permanenten - und jetzt auch militärischen - Interventionen zu finden. Und Israels Rechte hätte nur schwer die Bevölkerung Israels für ihre aggressive und expansionistische Landnahmepolitik westlich des Jordan mobilisieren können. Hier wird ersichtlich, wie Gewalt und deren Eskalation gewollt gesteigert und funktionalisiert werden kann für politische Ziele der Dominanz und Vorherrschaft - auf globaler wie auf lokaler Ebene. Genau in diesem Sinne hat der frühere US-Auenminister Henry Kissinger die Anschläge des 11. September 2001 gedeutet, nämlich als "Tragödie, die zur Chance werden kann."

Und damit kommen wir zurück auf die Frage des Rechts. Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Rechtsgleichheit - gerade auch im Völkerrecht - , Vertragstreue sind die Voraussetzungen ohne die Demokratie nicht funktionieren kann und ohne die sie ihre Glaubwürdigkeit verliert. Die immer wieder beschworenen moralischen Werte, in deren Namen die USA, Israel und bald auch andere ihr Handeln zu rechtfertigen versuchen, werden hohl und unglaubwürdig, wenn sie nicht auf den Grundsätzen des Rechts basieren. Zur elementaren Kultur des Rechts gehört auch die Durchführung rechtsstaatlicher Verfahren. "Liquidierungen", wo der Täter zugleich Richter ist, wo Schuld mit Vermutungen begründet wird, wo keine Verteidigung möglich ist, wo der Tod unschuldiger als Selbstverständlichkeit in Kauf genommen wird: All dies sind Verbrechen! Aber schlimmer noch: Ob Präventivschlagdoktrin oder willkürliche "Liquidierung" - all diese illegalen Akte tragen dazu bei, Gewalt jeder Art wieder zum Mittel der Politik zu machen, die Eskalation der Gewalt zu befördern, die erkämpften zivilisatorischen Fundamente des Rechts auf der internationalen wie auf der lokalen Ebene zu zerstören. Das ganze Geschrei von Sicherheit, die mit Hilfe von Gewalt herzustellen sei, verkehrt sich in ihr Gegenteil, weil Gewalt nur Gewalt gebiert, jede rationale Verständigung auf der des Verständnisses für die Interessen des Andern unmöglich macht. Solche Politik, die jedem Recht Hohn spricht, legitimiert genau das, was im derzeit gängigen Sprachgebrauch Terrorismus genannt wird.

Im Sinne von Recht, Humanismus, Demokratie und Zivilcourage müssen wir Respekt haben vor jenen zahlreichen israelischen Soldaten, die den Kriegsdienst in den völkerrechtswidrig besetzten Gebieten verweigern und z.T. in Gefängnissen sitzen, vor jenen 27 Piloten der israelischen Streitkräfte, die seit vorgestern öffentlich den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, weil sie wissen, dass diese Einsätze den Grundsätzen von Völkerrecht und Menschenrecht widersprechen. Solche Menschen sind die Helden eines neuen, zivilisierten Zeitalters, weil sie schwere persönliche Nachteile in Kauf nehmen, nur weil sie nicht bereit sind, illegale und moralisch verwerfliche Handlungen zu begehen, die ihnen von oben befohlen werden. Dies sind die mutigen Menschen, auf die wir als Friedensbewegung unsere Hoffnung setzen können und die für uns alle zugleich Vorbild sein müssen: Menschen, die begriffen haben, dass die eigene Sicherheit nicht durch die Eskalation von Gewalt zu gewährleisten ist, sondern nur zu haben ist durch die Herstellung und Garantie der Sicherheit des Anderen. Der Respekt des Anderen und die wechselseitige Anerkennung der Gleichheit der Menschen wie der Völker sind die grundlegende Voraussetzung für wirklichen Frieden, nach dem sich wohl kaum jemand mehr sehnt als die seit Jahrzehnten geschundenen Völker des Nahen und Mittleren Ostens


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