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Die arabischen Revolten: Was ist passiert und wie geht es weiter?

Von Hisham Bustani *


Die arabischen Aufstände, die zuerst in Tunesien ausbrachen und sich wie ein Lauffeuer in vielen Regionen der arabischen Welt ausbreiteten, dauern jetzt beinahe ein Jahr an. Dabei ist sehr deutlich geworden, dass es sich bei dem Ausbruch, der eine enorme Anzahl an Menschen auf die Straßen getrieben und bisher zur Beseitigung von drei Unterdrückern geführt hat, um etwas Spontanes handelt. Das heißt nicht, dass der Ausbruch kein Vorspiel hatte. Im Gegenteil, die Menschen wurden mit jedem Tag stärker in die Enge getrieben; doch diese Aufstände haben deutlich gezeigt, dass es sogar in Abwesenheit eines Katalysators (einer revolutionären Partei oder Gesellschaftsklasse) tatsächlich zu einem Ausbruch kommt, wenn eine bestimmte Schwelle erreicht ist, sprich eine kritische Masse.

Während die Aufstände in Osteuropa und in den ehemaligen Sowjetstaaten durch die Arbeit organisierter Oppositionsgruppen und -parteien (wie Solidarność in Polen) herbeigeführt wurden sowie durch Jahrzehnte der ruhigen und verdeckten Unterminierung, Infiltrierung und Propaganda vonseiten des Westens (USA und Europa), wurde der arabische Aufstand nicht von einer organisierten Opposition angeführt und überraschte imperialistische Kreise, die traditionellerweise ihre abhängigen Unterdrückerregime unterstützten. [1]

Die massiven spontanen Aufstände der Menschen in der arabischen Welt verdeutlichen im Wesentlichen drei Aspekte:

Das Scheitern des post-kolonialen arabischen „Staates“

Nach der britisch-französisch-italienischen Kolonisierung der arabischen Region hinterließen die Europäer ein Gebiet, das sie bewusst in „Staaten“ aufteilten, die so angelegt waren, dass sie keine Möglichkeit hatten, unabhängig und souverän zu werden. Sie hinterließen auch einen Wachhund – eine einfache Lösung, um ihr mit Antisemitismus beladenes Gewissen zu erleichtern: „Israel“, einen kolonialen Siedlerstaat, der im Gefolge des physischen Rückzugs seiner Förderer für die Beibehaltung der Sachlage sorgen würde.

Die post-kolonialen Staaten – gespalten und unvollständig – waren nicht nur von ihrer Anlage her Untergebene sondern auch kraft der herrschenden Klasse, die dem Kolonialismus folgte. Das homogene menschliche Kollektiv, das viele Religionen, Sekten und Ethnien umfasste, wurde auch aufgespaltet. Der Kolonialismus schürte interne Konflikte, und die nachfolgenden arabischen Regime führten diese Tradition fort, in engem Bündnis mit den ehemaligen Kolonialherren. Bündnis ist an dieser Stelle eine Übertreibung. Eine Untergebenenposition erfüllt nicht die Bedingungen zum Eingehen von Bündnissen. Sie ist einfach nur untergeben.

Demnach war der post-koloniale arabische „Staat“ alles andere als ein Staat. Konzepte wie „Rechtsstaatlichkeit“, „Regierungsbehörden“ oder „Bürgerrechte“ galten nicht. Länder wurden mit einer Gangstermentalität regiert. Es gab keine „Traditionen“ oder klare Regeln, die für alle bindend waren. Anders als beim Modell einer bourgeoisen Demokratie, in der Regeln, Gesetze und Traditionen das kapitalistische System erhalten und für alle seiner Komponenten gelten, existierte diese Form nicht im post-kolonialen arabischen „Staat“. Die herrschende Klasse nahm sich das Recht, Gesetze zu erlassen, Gesetze zu widerrufen, Gesetze nicht zu vollziehen, Verfassungen nicht umzusetzen, Verfassungen zu ändern, Wahlen zu fälschen, Dinge zu unterschlagen, Menschen zu foltern, zu massakrieren, Grundrechte zu entziehen, eklatante Korruption zu betreiben, Identitäten zu fälschen und die Präsidentschaft vom Vater an den Sohn zu übertragen.

Am besten vergleichen lässt sich der moderne post-koloniale arabische Staat mit dem Freien Kongo (1885–1908), Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II, mit all seinen Menschen, Ressourcen und 2,3 Millionen Quadratkilometern Land. Der post-koloniale arabische Staat ist nichts als ein erweitertes Feudalsystem, dessen Führung auf imperialistische Mächte hört, die gewisse „Entwicklungshilfe“-Summen zahlen und Armeen und die Polizei schulen, alles um die Menschen von einem Ausbruch abzuhalten, und zwar mittels einer Mischung aus Angst und der Versorgung mit den allernötigsten Bedarfsgütern, die als Zuschüsse und Leistungen des Herrschers dargestellt werden. Dieselben imperialistischen Mächte, die ihre Bestechungsgelder in Form von „Entwicklungshilfe“ bezahlten, arbeiteten mithilfe von IMF-Programmen zur wirtschaftlichen Umstrukturierung und mit Weltbank-Anleihen hart daran, jegliches internes und unabhängiges Wachstum zu vereiteln und den öffentlichen Sektor zu privatisieren.

Die arabischen Regime, die über ein weiteres unterteiltes Gebiet herrschen, das wirtschaftlich und politisch zerstört ist, und deren Macht auf externer Delegation und internem Terror beruhte, schafften es, sich selbst in einen Puffer zu verwandeln, in einen Garanten für all die gespaltenen Segmente; es gelang ihnen, beinahe alle Oppositionsstrukturen zu absorbieren und ausgehöhlte Regierungsbehörden hervorzubringen (funktionsgestörte Parlamente, Gerichtsbehörden, etc.), womit sie sich eine viel längere Lebensdauer verschafften, als man von solch einem System erwarten würde.

Das Scheitern der „organisierten“ arabischen Opposition

Die imperialistischen Zentren und die arabischen Regime haben den Zeitpunkt des Ausbruchs und das Ausmaß der arabischen Aufstände nicht vorhergesehen, und das Gleiche gilt für die oppositionellen Organisationen. Letztere waren weder daran beteiligt, noch haben sie darauf hingearbeitet oder nach dem Ausbruch in wertvoller Weise dazu beigetragen.

Mit wenigen Ausnahmen (wie die Kifaya-Bewegung in Ägypten, die islamische al-Nahda-Partei, die Kommunistische Arbeiterpartei in Tunesien und einige Intellektuelle in Syrien) hat die organisierte arabische Opposition (politische Parteien, Gewerkschaften und andere Organisationen) die arabischen Regime und deren System nie herausgefordert. Tatsächlich geschah das Gegenteil. Die Opposition strebte regelmäßig nach Anerkennung und Legitimierung durch die arabischen Regime. Die Opposition wollte „legal“ sein, und sie folgte den von den Regimes festgelegten „Regeln“ und akzeptierte deren Herrschaft.

Demzufolge war die organisierte arabische Opposition eigentlich ein stabilisierender Faktor für die arabischen Regime und trug zu deren Langlebigkeit bei. Erst als Menschen die Dinge selbst in die Hand nahmen, die Legitimität der arabischen Regime ablehnten und autonom und fern der Opposition auf kreativere Art und Weise agierten, gerieten die Dinge in Bewegung.

Ein kurzer Rückblick auf das Verhalten der organisierten Opposition nach den Aufständen lässt schon darauf schließen, wie sie während der Aufstände waren und wie sie sich in der vorangehenden Phase verhielten, die in den Aufständen gipfelte. Die Muslimbruderschaft in Ägypten hat das Mubarak-Regime nie herausgefordert. Im Gegenteil, sie sendeten regelmäßig Signale aus, dass sie eine Fortdauer des Mubarak-Regimes befürworteten. Die Muslimbruderschaft in Ägypten beteiligte sich anfangs nicht an den Aufständen, und nach den Aufständen unterstützte sie den Militärrat [2] und dessen Niederschlagung der Demonstrationen im Januar 2012. [3] Viele der so genannten linkspolitischen und nationalistischen Organisationen in Jordanien, Palästina und im Libanon unterstützen derzeit das Regime Baschar al-Asads und dessen Massaker in Syrien.

Die organisierte Opposition, die oft davon geträumt hat, dass die Menschen sich irgendwann gegen ihre Unterdrücker erheben würden, und die rechtmäßige Diagnose stellten, dass die arabischen Regime Werkzeuge imperialistischer Intervention seien und das Haupthindernis für jegliches Befreiungsprojekt darstellten, verbündet sich jetzt gegen die Menschen und mit den Regimes. Sie machen das, weil sie nichts zu bieten haben. Über die Jahre ist es ihnen nicht gelungen, irgendeine Alternative zu präsentieren, weder in der Theorie noch in der Praxis. Sie haben nichts zu bieten und Angst vor einer Zukunft, die sie nicht kontrollieren oder verstehen können und zu der sich nichts beizutragen haben. Wie „Israel“ kennen sie die gegenwärtigen Regime [4], doch was als nächstes kommt, kennen sie nicht, und es mangelt ihnen an der Fähigkeit, es zu beeinflussen; also sind sie – genauso wie „Israel“ – bereit, sich dem entgegenzustellen.

Die Vereinigung der Unterdrückten in der arabischen Welt

Der Pan-Arabismus hat oft von einem vereinigten arabischen Heimatland geträumt, doch abgesehen von militärischen Staatsstreichen, die letztendlich in repressiven Regimes mündeten, fehlte es ihm an Werkzeugen zur Erfüllung dieses Traums. Einige unabhängige arabische Marxisten haben über eine Art „Vereinigung der Unterdrückten“ geschrieben und darauf hingearbeitet. Unter den Menschen in der arabischen Welt herrscht eine große Vielfalt, und sie sind durch unterschiedliche Faktoren, die auf konfessioneller, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit beruhen, fragmentiert worden. Erst wenn die Unterdrückten begreifen, dass ihr elender Status (als Unterdrückte) sie vereint, neigen sie dazu, sich in Massen zu mobilisieren und ihre gemeinsamen Ziele zu erreichen. Das kommt dem, was geschehen ist, schon näher.

Die Mobilisierung in Tunesien, Ägypten und im Jemen erfüllte diese Voraussetzung und war deswegen teilweise erfolgreich. Im Gegensatz dazu fand die Mobilisierung in Jordanien gemäß der lokalen Spaltung statt (die Menschen palästinensischen Ursprungs gegen jene ostjordanischen Ursprungs); also war sie zum Scheitern verurteilt und kann als eine Bewegung innerhalb des Regimes betrachtet werden, und nicht als eine von außen. [5]

Eine andere wesentliche Lehre lässt sich aus der unmittelbaren Verbreitung des Aufstandsphänomens in der gesamten arabischen Welt ziehen. Was in Tunesien begann, fand in unterschiedlicher Stärke überall seinen Widerhall, von Marokko im Westen bis Bahrain im Osten. Es gibt eine greifbare Übereinstimmung menschlicher Interessen: Z.B. besteht eine merkliche Kontinuität bei den beinahe automatischen Demonstrationen in der gesamten arabischen Welt gegen „Israel“ wegen seiner regelmäßigen und blutigen Angriffe auf Palästinenser. Das wurde zusätzlich betont durch die gleiche Kontinuität bei der Konfrontierung der arabischen Regime. Die Menschen der arabischen Welt geben einander Tiefe, Unterstützung und Kraft, sie neigen dazu, einander zu inspirieren, und sie glauben weiterhin, dass sie das gleiche Ziel verfolgen. Kein Wunder also, dass die Kolonialmächte und die nachfolgenden abhängigen arabischen Regime schwer gekämpft haben, um die isolationistische Spaltung der post-kolonialen Staaten aufrechtzuerhalten.

Haben die arabischen Aufstände etwas mit Klassenzugehörigkeit zu tun?

Wie oben bereits erwähnt ist der post-koloniale arabische „Staat“ allgemein ein von politischem und wirtschaftlichem Desaster geprägtes Gebiet, mit geringer oder keinerlei Produktion und wenigen Fabriken. Das soziale Gefüge wurde durch die Auferlegung und/oder Verstärkung von Spaltung und Fragmentierung deformiert. Deswegen kam es in modernen arabischen Gesellschaften nicht zur wirklichen Herausbildung von Gesellschaftsklassen; autarke Gruppengemeinschaften – die in ländlichen Gebieten von Ackerbau und Viehwirtschaft lebten, in Wüstengegenden von Plünderung und Viehhaltung, in Städten von Handel, Kunstgewerbe und der Herstellung mancher Güter (Textilien, Seife, etc.), wobei jede gesellschaftliche Gruppe ihre eigenen Traditionen und Regeln hatte, die für alle Mitglieder galten – verwandelten sich in verzerrte auf den Konsum ausgerichtete gesellschaftliche Gebilde. Diese Gebilde leben am Rande eines globalisierten Dienstleistungssektors und werden von einer Gruppe beherrscht, die örtliche Wirtschaftssysteme zerstört hat, zugunsten eines Modells, das auf ausländischer Hilfe basiert – ein körperschaftsabhängiges, auf Bedarfsgütern und Dienstleistungen basierendes Modell, in dem die herrschende Klasse als Vertreter globaler Handelsgesellschaften fungiert: ein Gebilde aus Agenten ausländischer Mächte mit Interessen, die der örtlichen Industrialisierung und Produktion zuwiderlaufen.

Es ist schwierig, eine Klassenteilung zu erkennen, die auf gemeinsamen oder entgegen gesetzten Interessen basiert. Was wir vorfinden ist eine klar definierte herrschende Klasse, und die besteht im Allgemeinen aus dem Staatsoberhaupt, engen Helfern und Verwandten, Unternehmern (die ausländische Handelsunternehmen vertreten) sowie hochrangigen Sicherheitsfunktionären (die üblicherweise alle im selben Korruptionsgeflecht miteinander verbunden sind); eine vage definierte Mittelschicht, die sich aus Fachkräften und Angestellten des Dienstleistungssektors zusammensetzt; und eine verarmte Schicht von Tagelöhnern, Kunstgewerbeschaffenden, ungelernten Arbeitern und Arbeitslosen, die stark von Stammeszugehörigkeitsgefühlen bzw. religiösen, konfessionellen und ethnischen Zugehörigkeitsgefühlen geprägt sind.

Die Privatisierung des öffentlichen Sektors und die Öffnung des Marktes für ausländische Investoren haben das Bisschen, was noch an örtlicher Produktion verblieben war, zusätzlich erstickt. Da der „Staat“ von nichts anderem lebte als von der unablässig steigenden Besteuerung von Gütern, Dienstleistungen und Einkommen, ist die Mittelschicht in mehreren arabischen Ländern zunehmend in die Armut abgeglitten.

Das Heilmittel für diese Situation bestand im Wesentlichen darin, den Verarmungsbrennpunkten und möglichen Protestherden geringfügige Sozialleistungen und Zuschüsse zukommen zu lassen, gerade genug, um einen Ausbruch zu verhindern. Das geschah durch die Verteilung eines Teils der Öleinnahmen (in Ölförderländern) oder eines Teils der Entwicklungshilfegelder oder -leistungen aus dem Ausland (durch „Projekte“). Über eine lange Zeit hinweg erwies sich dieser Mechanismus als wirksam, und öffentlicher Protest wurde dadurch erfolgreich neutralisiert, bis etwas geschah: die globale Finanzkrise und der Zusammenbruch der neoliberalen Wirtschaft.

Falls es einen direkten und singulären Auslöser für die arabischen Aufstände gegeben haben sollte, dann war das meines Erachtens der globale Zusammenbruch der Finanzmärkte und die daraus resultierenden Erschütterungen auf der ganzen Welt.

In der arabischen Welt, deren Bevölkerung sich hauptsächlich aus gebildeten jungen Menschen zusammensetzt, trieben diese Erschütterungen allmählich immer mehr junge Menschen als arbeitslose, verarmte und verzweifelte Individuen auf die Straße. Hinzu kam, dass sie ihrer politischen Rechte beraubt waren (und damit ihrer Zukunft), und die ungeheure Demütigung in Verbindung mit relativ freien und unzensierten Kommunikationsmitteln – somit waren die Zutaten für einen Aufstand komplett vorhanden und erreichten bald eine kritische Masse.

Mohammad Bu-Azizi, die Ikone, die in Tunesien die Kettenreaktion auslöste, vereinte in sich all die oben genannten Voraussetzungen: er war eine verarmte Person, einigermaßen gebildet (er hatte die Oberschule besucht und besaß ein Facebook-Account), er wurde von einer Polizistin beleidigt, die seinen nicht behördlich genehmigten Karren beschlagnahmen wollte, von dem er Gemüse verkaufte, als er arbeitslos war und keinen anderen Job fand. Seine Selbstopferung setzte das trockene Gras in Tunesien und in der arabischen Welt in Brand. Die verarmten, verzweifelten jungen Menschen aus der Mittelschicht waren die Initiatoren der Aufstände vom 25. Januar in Ägypten, während die Aufstände in Syrien von den verarmten Menschen in ländlichen Gebieten initiiert wurden.

Aufstand oder Revolution? Wenn wir uns kurz die Modelle der Französischen Revolution von 1789 und der Russischen Revolution von 1917 ansehen, dann können wir drei charakteristische Säulen erkennen, von denen sie getragen wurden.

Erstens: Revolutionen bewirken einen kompletten wirtschaftlichen/gesellschaftlichen Wandel und führen eine Gesellschaft von einer Ära zur nächsten (vom Feudalismus zur bourgeoisen Demokratie in Frankreich, vom Feudalismus zum Sozialismus in Russland).

Zweitens: Revolutionen gehen theoretische und philosophische Diskurse voran, hervorgebracht von avantgardistischen Philosophen und Denkern, in denen sich die Interessen der aufsteigenden Klasse oder Gruppe widerspiegeln. Diese Diskurse unterbreiten futuristische Visionen, Lösungen, Wahrnehmungen, Voraussagen, Strukturen, Werte usw. Die Revolutionen stützen sich später darauf oder streben danach, sie zu verwirklichen (die Visionen von Rousseau, Montesquieu, Voltaire und anderen in Frankreich; die Visionen von Marx, Engels, Lenin in Russland).

Drittens: Es gibt eine revolutionäre Klasse oder Gruppe (oder Partei), die für die Interessen bestimmter Klassen eintritt, oder den ideologischen/philosophischen Diskurs herbeiführt, der einer materiellen Existenz bedarf und seinen gesellschaftlichen Ausdruck in den Interessen bestimmter Klassen findet.

Wir haben es mit den unbefriedigten Interessen einer Gesellschaftsklasse zu tun, die einen philosophischen/ideologischen Diskurs hervorbringen, der wiederum die Bildung einer revolutionäre Gruppe/Partei hervorruft, von der die betreffende Klasse zum revolutionären Wandel geführt oder angetrieben wird.

Die arabischen Aufstände weisen keines dieser Merkmale auf. Vielleicht werde ich in Bezug auf den ersten Punkt demnächst von der Zukunft widerlegt, aber die Punkte zwei und drei sind definitiv nicht gegeben.

Darüber hinaus: Eine Revolution wird durch Klasseninteressen oder durch die Ideologie einer revolutionären Partei entfacht; ein Aufstand wird durch Wut und Frustration ausgelöst. Eine Revolution wird von einer führenden Klasse oder führenden Partei angetrieben; bei einem Aufstand gibt es keine klare Führung.

All dem ist klar zu entnehmen, dass es sich bei dem, was wir derzeit in der arabischen Welt erleben, um eine Anzahl allgemeiner Aufstände handelt. Sie mögen sich weiterentwickeln und zu Revolutionen heranreifen, sie mögen sich rückläufig entwickeln oder Rückschlägen unterworfen sein, aber wir sollten keine übermäßigen Erwartungen haben. Der wesentliche Schritt nach vorne (und es ist ein riesiger Schritt nach vorne) ist gemacht worden: Die Menschen in der arabischen Welt haben sich gegen ihre korrupten, [dem Westen] untergebenen Regime erhoben. Ihre Erhebung ging mit Blutvergießen einher. Es gibt kein Zurück. Dieser Aufstand hat sich tief in das allgemeine Bewusstsein der Menschen eingeprägt, und sie werden sich zukünftigen Unterdrückern nicht beugen, wer immer diese auch sein mögen.

Der Schwachpunkt des arabischen Aufstands und der Aufstieg der Islamisten

Da die arabischen Aufstände nicht auf Klassenzugehörigkeit basieren, sie keinen philosophischen/ideologischen Rückhalt haben und es an einer führenden revolutionären Organisation/Partei mangelt, haben sie den Boden für den Aufstieg institutionalisierter, opportunistischer Strömungen wie z.B. die Muslimbruderschaft und andere islamistische Fraktionen bereitet.

Historisch gesehen war der politische Islam ein sehr enger Verbündeter der arabischen Regime, vor allem in den 1950ern und 1960ern, als er als Werkzeug diente, um der Ausweitung nationalistischer und linkspolitischer Strömungen entgegenzuwirken. In Jordanien z.B. war es den Islamisten zu Zeiten des Kriegsrechts (1957–1989) rechtlich gestattet, weiterhin aktiv zu bleiben, während alle anderen Parteien verboten waren. Es wurde ihnen gestattet, Institutionen zu gründen – Verbände, Banken, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und ein riesiges Netzwerk an sozialen Hilfsorganisationen – zusätzlich zu ihrer führenden Rolle bei den Freitagsgebeten (durch Imame) und ihrer Beteiligung durch Besetzung wichtiger Regierungsposten, wie z.B. im Bildungsministerium. Die salafitische Bewegung wurde während des Kalten Krieges komplett von den USA und ihrem engen Verbündeten Saudi-Arabien versorgt und unterstützt. In erster Linie wurde sie in Afghanistan gegen die Sowjets benutzt und breitete sich später auf der ganzen Welt aus.

Erst als die Islamisten zu stark wurden um von Regierungsseite manipuliert zu werden und sich in eine mögliche Bedrohung verwandelten, stellten sich ihnen die Regime erfolglos entgegen. Es war zu spät. Der Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft, Abdel-Mun’em Abu el-Futooh (der jetzt in der Zeit nach Mubarak für die Präsidentschaft in Ägypten kandidiert), hat kein Problem damit zu verkünden, dass die Bruderschaft alle internationalen Abkommen respektieren wird, die von ägyptischen Regierungen unterzeichnet worden sind, und das sie das Existenzrecht Israels anerkennt. [6]

Bereits 2007 [7] habe ich ausführlich in Arabisch darüber geschrieben, dass das scharfe Durchgreifen arabischer Regime gegenüber Islamisten aus der Wahrnehmung resultiert, dass die Islamisten an Macht gewinnen und sich den USA und Europa gegenüber als effizientere Alternative darstellen. Die arabischen Regime befürchteten, dass der externe Faktor die entscheidende Rolle spielen würde, weswegen sie fortwährend PR-Kampagnen über islamistischen Extremismus, Intoleranz, Terrorismus usw. lancierten. Die arabischen Regime hatten Angst vor dem Tag, an dem die Islamisten vielleicht mit amerikanischem/europäischen Segen ihren Platz einnehmen würden. Der Tag kam, doch der externe Faktor hatte damit wenig zu tun.

Nach den Aufständen: Der islamistische Aufstieg zur Macht

Der überwältigende Wahlsieg der Islamisten war kein beabsichtigtes, aber das logische Ergebnis der arabischen Aufstände. Wenn ein Regime in Abwesenheit einer revolutionären Alternative stürzt, werden jene politischen Kräfte an die Macht kommen, die organisierter und opportunistischer sind und von den globalen Mächten eher akzeptiert werden.

Die jahrzehntelange Förderung des politischen Islam durch die USA und arabische Regime, die es ihm ermöglichten zu wachsen und eine starke Position einzunehmen, während andere progressive Strömungen im Namen des „Kampfes gegen den Kommunismus“ unterdrückt wurden, ist einer der wesentlichen und wichtigen Faktoren des islamistischen Wachstums. Sogar der „Krieg gegen den Terrorismus“ und die ihm unterliegende theoretische Grundlage („der Kampf der Kulturen“) stärkten die islamistischen Strömungen und vertieften deren gesellschaftliche Durchdringung mittels Herbeiführung einer durch Propaganda angeheizten Identitätskrise; die Lösung bestand in einer mechanischen, defensiven back-to-the-roots-Reaktion.

Die Nachwirkungen: Ein Schritt nach vorne oder nach hinten?

Nach einem Jahr arabischer Aufstände ist die allgemeine Wahrnehmung die, dass das Regime in Ägypten weiterhin durch den Militärrat an der Macht festhält. Die katastrophale Niederschlagung der Demonstrationen um das Innenministerium herum im Januar 2012 ist ein weiterer Beweis dafür. Die ägyptischen Revolutionäre sagen weiterhin, dass keines der im Januar 2011 verkündeten Ziele erreicht worden sei.

In Tunesien und Ägypten sind die Islamisten durch Wahlen an die Macht gekommen, in Syrien würden sie wahrscheinlich die Wahlen gewinnen (nach dem Sturz Baschar al-Asads) und das Gleiche gilt für viele andere arabische Länder. In Ägypten haben die Islamisten sich hinter den Militärrat und gegen die Demonstranten gestellt, während sowohl ägyptische als auch tunesische Islamisten damit begonnen haben, Freiheiten zu beschneiden, insbesondere im künstlerischen Bereich.

Das bedeutet nicht, dass die Aufstände einen Schritt nach hinten darstellen. Im Gegenteil: den Fluch der Angst zu durchbrechen, die Macht der Menschen zu begreifen, furchtlos auf die Straße zu gehen, langjährige Präsidenten abzusetzen, um den Preis des Blutvergießens für die Befreiung, die Würde, Grundrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Beteiligung zu kämpfen – all das ist ein riesiger Schritt nach vorne. Er wird im kollektiven Bewusstsein der Menschen über Generationen verankert sein. Die kollektive Macht der Menschen zu nutzen war wie immer erfolgreich. Aus historischer Sicht ist die Erfahrung unauslöschlich, und die Menschen werden sich immer und immer wieder gegen einen möglichen zukünftigen Unterdrücker erheben: gegen die Islamisten, die NATO, das Militär, oder wen auch immer. Freiheit, die mit Blutvergießen errungen wurde, ist schwer aufzugeben. Die blutigen Demonstrationen in Ägypten im Januar 2012 (ein Jahr nach dem ersten Aufstand) sind ein hinlänglicher Beweis für diese Dialektik.

Wenn der zweite Schritt noch nicht erfolgt ist, oder erst spät erfolgte, so bedeutet das nicht, dass der erste Schritt falsch war, und es bedeutet auch nicht, dass der zweite Schritt nicht erfolgen wird. Revolutionen gehen üblicherweise Turbulenzen voran, und sie benötigen Zeit um zu reifen.

Die Menschen der arabischen Welt hatten nie die Gelegenheit, eine reife Sozialstruktur zu entwickeln, von der Zeit der osmanischen Herrschaft über die kolonialistische Unterwerfung und Aufspaltung bis zur Herrschaft der arabischen Regime. Die internen gesellschaftlichen Mechanismen wurden behindert und deformiert. Jetzt ist die Zeit für gesellschaftliche Entwicklung gekommen: Der Aufstieg der Islamisten wird vom Aufstieg eines entgegengesetzten säkularen Trends begleitet werden, der seine Rechte und Überzeugungen klar verteidigen wird. Es wird kein Bündnis mehr zwischen Islamisten und Progressiven gegen den Imperialismus und den Zionismus geben. Die Islamisten haben sich für den Dialog mit dem Imperialismus entschieden. [8] Die Islamisten haben kein Problem mit der Marktwirtschaft – tatsächlich ist die so genannte „islamische Wirtschaft“ eine kapitalistische freie Marktwirtschaft mit einem Hauch islamischen Aromas. [9] Die Islamisten müssen jetzt den Himmel auf Erden bereiten, und nicht den im Jenseits, und da sie kein alternatives Programm haben, werden sie letztendlich scheitern.

Also warum nicht? Lasst die Islamisten die Führung übernehmen und scheitern. Lasst sie ihre opportunistischen Positionen gegenüber dem Imperialismus und „Israel“ offenbaren. Lasst sie ihre Doppelzüngigkeit in Bezug auf Liberalisierung offenbaren, indem sie die soziale Freiheit, die Künste und die Literatur unterdrücken. Lasst sie das kapitalistische Modell einführen, das die Prüfung hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit nicht bestehen wird. All dies wird zur gesellschaftlichen Reifung beitragen. All dies wird zur Bildung einer wahrhaftigen, unverzagten säkularen Strömung beitragen, einer wahrhaftigen, unverzagten linkspolitischen Strömung und einer wahrhaftigen, unverzagten anti-kapitalistischen Strömung, die alle gezwungen sein werden, theoretische Argumente vorzubringen, sich der Realität zu stellen sowie Antworten und Programme vorzulegen.

Die gesellschaftliche Reifung wird Zeit brauchen und ihren Preis haben, doch die Menschen kennen jetzt den Weg. Sie wissen, wie es geht. Und angesichts der oben dargelegten Fakten sieht die Zukunft aus linkspolitischer Sicht vielversprechend aus.

Um ihre Befreiung zu erwirken werden die Menschen der arabischen Welt folgendes benötigen: (1) eine Vereinigung über alle Grenzen, Ethnien, Religionen und Konfessionen hinweg, sprich eine Vereinigung der Unterdrückten; (2) soziale Gerechtigkeit jenseits des kapitalistischen Modells; (3) echte Meinungsfreiheit, Freiheit im künstlerischen und literarischen Ausdruck verbunden mit sozialen Freiheiten.

Nur die Linke kann auch liefern. Es ist also Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

Fußnoten
  1. Der französische Außenminister Alain Juppé: “The Arab Spring took us by surprise.” http://on.cfr.org/ynylCf . Jeff Goodwin, Why We Were Surprised (Again) by the Arab Spring, Swiss Political Science Review 17(4): 452–456.
  2. “Essam el-Erian, a senior leader of the political party founded by the group, the Muslim Brotherhood, said the party had decided to support keeping the caretaker prime minister and cabinet appointed by the ruling military council in office for the next six months.” http://nyti.ms/x29R2v
  3. “Egypt's powerful Muslim Brotherhood on Wednesday issued a harsh denunciation of liberal and secular activists, echoing charges by the military rulers that they receive foreign funds to create chaos in Egypt.” http://huff.to/z7oee8. (Huffington Post). “Demonstrators continued to chant: “Wake up revolution and realize that the Muslim Brotherhood have now become the Central Security Forces,” in reference to the infamous Mubarak police which clamped down on protesters.” http://bit.ly/yd41Yo (ahram.online)
  4. Back in 2005, […] Ariel Sharon warned President George W. Bush against toppling Assad, arguing that the devil we know (Assad) is better than what would come (the Muslim Brotherhood).” http://onforb.es/yI7rr8
  5. Hisham Bustani, The Alternative Opposition in Jordan and the Failure to Understand Lessons of Tunisian and Egyptian Revolutions, http://bit.ly/yIkex4 . Hisham Bustani, Jordan's New Opposition and the Traps of Identity and Ambiguity, http://bit.ly/xwhBoa
  6. Abdel-Mun’em Abu el-Futooh, stating in a video in English: “I acknowledge Israel’s right to exist,” Abu el-Futooh appears starting from 3:30 on the video. http://bit.ly/ADnt8f . Zur Frage des Existenzrechts Israels, siehe Joseph Massad in Inamo Nr. 60, Sommer 2011, S. 50 ff.
  7. Hisham Bustani, Arab regimes; Islamists; and American Decomcracy (in Arabic), al-Akhbar newspaper (Beirut), 23 October 2007.
  8. http://bit.ly/xBKSog (The Jordan Times).
  9. Für nähere Informationen zu diesem Thema siehe Maxime Rodinson, Islam and Capitalism, University of Texas Press, 1979.
* Hisham Bustanis ist Autor und Aktivist aus Jordanien. Er schreibt u.a. für al-Quds al-Arabi (London), al-Akhbar (Beirut), al-Adab Review (Beirut), Monthly Review and Jadaliyya (USA). Er hat drei Kurzgeschichtenbände in Arabisch veröffentlicht. In inamo Nr. 60 ist seine Kurzgeschichte „Der letzte Ritter in einer Zisterne ohne Wände“ veröffentlicht. Sein Artikel für inamo wurde von Kathrin Möller aus dem Englischen übersetzt.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 69/Frühjahr 2012, 18. Jahrg., Seiten 4-8

Die Zeitschrift inamo erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
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