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Israelis und Palästinenser: das Dilemma nationaler Identität

Der Konflikt im Nahen Osten spitzt sich zu: Zwei verspätete Nationen kämpfen um ihre Existenz. Von August Pradetto

Die folgende Analyse über die Hintergründe und Perspektiven des Nahostkonflikts stammt von August Pradetto, Dozent und kritischer Geist der Bundeswehr-Universität in Hamburg. Der Text wurde in der Frankfurter Rundschau als Dokumentation veröffentlicht und wird im Folgenden leicht gekürzt wiedergegeben.

"Wer in Israel nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist", soll David Ben Gurion, der Gründer des modernen Judenstaates, gesagt haben. 52 Jahre nach der Staatsgründung ist ein in diese Worte gekleideter Sinn um nichts weniger aktuell: Ein Wunder erscheint notwendig, um mit den realen Schwierigkeiten, mit denen sich das Land konfrontiert sieht, fertig zu werden.

Der "Friedensprozess" war und ist mit einer Fülle von Detailproblemen belastet: Der Status von Jerusalem und der Anspruch beider Seiten - der Israelis wie der Palästinenser - auf die Metropole als Hauptstadt; die israelischen Siedlungen in jenen Gebieten, die ein palästinensischer Staat werden sollen; das Problem Hunderttausender palästinensischer Flüchtlinge, die verlangen, in ihre Heimat - das Gebiet Israels - zurückzukehren; der Streit um die knappen Wasserressourcen, die in den palästinensischen Gebieten liegen; Sicherheit für Israel gegenüber einem eigenständigen palästinensischen Staat, den arabischen Nachbarn sowie die Frage, wie ein palästinensischer Staat seine Sicherheit gewährleisten soll; die politischen Grundlagen und Formen eines palästinensischen Staates; die Frage des Verhältnisses zwischen den israelischen Palästinensern und denen, die in einem künftigen palästinensischen Staatswesen leben usw.

Das allein hat in der Vergangenheit bei weitem ausgereicht, dass man trotz aller Bemühungen - und zwar nicht nur der israelischen und palästinensischen Seite, sondern auch der internationalen Gemeinschaft, der großen Mächte und insbesondere der USA - bis heute zu nicht viel mehr gelangt ist als im besten Fall zu einem Kalten Krieg. ...

Doch die Situation wird zusätzlich kompliziert durch die Konstellationen innerhalb der beiden Streitparteien. Die Ansichten, Positionen, Interessen, Politiken in der Frage des Verhältnisses zueinander sind unter den Israelis wie unter den Palästinensern bei prinzipieller Abgrenzung voneinander so divergent und die radikalen Positionen so stark, dass Annäherungs-, Entspannungs-, Aussöhnungs- und Friedensbemühungen vielfach auf beiden Seiten paralysiert, blockiert und konterkariert werden.

Dazu kommt, dass externe Akteure - v. a. die USA, Russland, die arabischen Staaten - keineswegs nur eine moderierende Rolle spielen. Vielfach wirken sie im Vorder- oder Hintergrund der aufgebauten Gegensätze, Spannungen und Auseinandersetzungen mit. In Verfolgung ihrer spezifischen, egoistischen und ebenfalls divergierenden Interessen unterstützen sie partiell nicht nur gegen eine Verständigung gerichtete Vorstellungen und Politiken. Oft genug intensivieren sie diese auch noch, wenn es den eigenen Interessen dienlich erscheint, durch politische wie durch militärische Maßnahmen. Israel war und ist ein erstrangiges Instrument der amerikanischen Nahost- und Globalstrategie. Die Palästinenser sind ein herausragendes Instrument der Innen- und Außenpolitik arabischer Staaten. Weil beide Konfliktparteien eine solche Bedeutung für auswärtige Kräfte haben, sind sowohl die USA als auch die arabischen Staaten umgekehrt in bestimmter Weise von ihrer jeweiligen Klientel abhängig und lassen sich partiell auch gegen eigene Interessenperzeptionen zur Unterstützung der auf Abgrenzung statt Annäherung zielenden Politik veranlassen und nötigen. ...

Die Fülle, die Komplexität und die Kompliziertheit der genannten Streitfragen resultiert jedoch aus einem seit der Gründung des israelischen Staates existenten gordischen Knoten, der bis heute nicht zerschlagen werden konnte. Der Ausgangspunkt sind nicht nur zwei Ethnien, die zwischen sich Grenzen ziehen wollen und sich in Territorialstreitigkeiten verstrickt haben. Der Ursprung der Kalamitäten liegt darin begründet, dass zwei sich als Gegensatz begreifende religiöse und ethnische Gruppen, die im gleichen Gebiet leben, auf dieses Anspruch erheben und sich jeweils zu einer Nation formen - indem versucht wird, diejenigen, die nicht den eigenen "Stämmen" und der eigenen Religion angehören, zu verdrängen bzw. ihre Nationswerdung zu verhindern. Diese Art Nationswerdung wird aber zusätzlich konterkariert durch die real existierende und immer stärker werdende Penetration der beiden Gruppen. Hunderttausende Juden haben in den vergangenen Jahrzehnten im für einen palästinensischen Staat vorgesehenen Gebiet gesiedelt, und aufgrund der hohen Geburtenrate ist im israelischen Staatsgebiet der Anteil der arabisch-muslimischen Bevölkerung seit den sechziger Jahren um weit mehr als das Doppelte gewachsen, trotz der immensen Zuwanderung von Juden aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion.

Ein zentrales Problem liegt in einem spezifischen Nationsverständnis, das im Westen Europas vor dem 19. Jahrhundert und im Osten und Südosten Europas verspätet in den bis Ende des 19. Jahrhunderts bestehenden multiethnischen Reichen Europas revolutionäre und gewaltsame Formen angenommen hat und Abermillionen Tote gekostet hat. Der historische Trend zur Gründung unitaristischer Nationen, die sich in Abgrenzung von anderen als etwas Spezifisches definieren (einheitliche Sprache, einheitliche Kultur, u.U. auch noch einheitliche Religion u.a.), ist ebenso universal wie vor allem in Mischgebieten folgenreich. Israel und der ins Auge gefasste palästinensische Staat sind nicht nur belated nations, verspätete Nationen, sie sind Nationen, die sich unter der Idee klassischer Nationalstaaten mit einer überwiegend sprachlich, religiös und kulturell homogenen Bevölkerung gar nicht gründen dürften, weil sich ihre Existenz wechselseitig durchdringt. ...

Israel ist realiter ein multiethnischer und multireligiöser Staat, der das nicht akzeptiert und nicht akzeptieren will, weil dann ein Fundament der Staatsgründung wegbrechen würde: die Idee eines jüdischen Staates. Aber schon Staatsgründer Ben Gurion hatte Zweifel, ob dies bei der Großzahl der Araber in Israel, das damals noch viel kleiner war als nach diversen Kriegen und Expansionen, überhaupt gelingen könnte, weshalb er die Vision eines reinen Judenstaates nur in der Wüste Negev für realisierbar hielt. Die Nichtanerkennung der Realität, dass es mindestens zwei große Ethnien und zwei große Religionen in Israel gibt, ist gleichzeitig die Bedingung dafür, dass sich die Gegensätze verschärfen und die Biethnizität bzw. -religiosität der Juden und Araber immer zugespitzter und gewaltsamer hervortritt.

Dazu kommt, dass sich die israelische Nation in der Form, in der sie konzipiert und begründet worden ist, zunehmend von innen her auflöst - auf Grund von Modernisierungs- und sozialen Umschichtungsprozessen, der Veränderung kultureller Muster, zweitens wegen der Veränderung ihrer jüdisch-ethnischen Zusammensetzung. Diesen Prozessen, zusammen mit einer Diversifizierung der politischen und ideologischen Kulturen, ist der Trend einer endogenen Ethnisierung und religiösen Differenzierung der jüdischen Gesellschaft inhärent. In dem Maße, wie wesentliche Elemente der Basis des national-jüdischen Selbstverständnisses - nationale Einheit durch Glaube, Sprache, Holocaust und Überlebensimpetus - brüchig werden und der multiethnische und multireligiöse Charakter auch der jüdischen Bevölkerung Israels hervortritt, in dem Maße wird deutlich, dass sich das Land in einem Transformationsprozess befindet, der die Frage nach der nationalen Identität Israels neu aufwirft. Besonders gefördert hat diesen Differenzierungsprozess die in den letzten 15 Jahren explodierende russische Zuwanderung, die diese in viel geringerem Maße "hebräisierte" Bevölkerungsgruppe zur größten und zugleich am wenigsten integrierten Fraktion in der jüdischen Population macht. Bis heute ungeklärt geblieben sind die politischen Grundlagen: Ob in Israel Gott oder die Knesset das letzte Wort hat, ist nicht entschieden. Es gibt weder eine geschriebene noch eine ungeschriebene Verfassung.

Die andere Dimension des genannten Kernproblems betrifft das nation building der Palästinenser. Die Nations- und Staatsgründung ist angesichts der Verhältnisse in Israel wie in den hauptsächlich von Palästinensern bewohnten Gebieten, angesichts der vielen real fehlenden Voraussetzungen und zugleich der Notwendigkeiten in einem grandiosen Widerspruch befangen: Sie ist ebenso folgewidrig wie zur Gewinnung einer palästinensischen Identität überfällig, und nach der Resolution der Vereinten Nationen, die auch der Gründung des Staates Israel und damit einer jüdischen Nation zu Grunde liegt, ist sie seit mehr als fünfzig Jahren überfällig. Wie diese Nationsgründung, die mit dem Staat Israel und der Ausbildung seiner Identität zusammen- und von ihm abhängt, vonstatten gehen soll, ist bis heute so unklar wie umstritten geblieben. Sowohl das intendierte nation building in Abgrenzung von Israel als auch das (...) sabotierte nation building haben die Konflikte und Probleme in der Region in einem hohen Maße verschärft und diese Region zu einem permanenten Krisenherd und einer permanenten Zone der Gewalt werden lassen.

Nach Jahren der Auseinandersetzung, des Hasses, des Krieges und der endlosen Verhandlungen ... herrscht allenthalben Frustration. Auf der einen Seite schlagen sich die Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die politische Demütigung und fortgesetzt erlebten Ohnmachtgefühle in einer Politik der Gewaltverherrlichung sowie verzweifelten und gleichzeitig glorifizierenden Märtyrertums nieder. Auf der anderen Seite wirkt sich die Mischung von realer machtpolitischer und militärischer Überlegenheit und kultureller Superioritätsattitüde bei gleichzeitig ständiger Angst und Bedrohtheit durch eine rundum als feindlich und von Unverständnis geprägt wahrgenommene Umwelt sowie den mentalen und politischen Verunsicherungen auf Grund der beschriebenen endogenen Veränderungen als Gereiztheit, Spannung, Gefahr erratischer Politik und ebenfalls Gewaltbereitschaft aus.

Einige Charakteristika der Gewaltexzesse in den vergangenen Wochen haben gezeigt, dass sich die Situation verschärft. Zum erstenmal haben in Israel beheimatete Araber, Menschen mit einer israelischen Staatsbürgerschaft, aus Solidarität mit ihren - was? Landsleuten? Brüdern? - in den palästinensischen Gebieten an den Ausschreitungen gegen die israelische Autorität teilgenommen und teilweise das israelische Kommunikationsnetz blockiert. Umgekehrt hat es zum erstenmal israelische Übergriffe gegen im Kernland Israels lebende Araber gegeben, die Massencharakter annahmen.

Es gibt in solchen Krisensituationen hypothetisch immer die Möglichkeit einer Wendung: eines positiven Nachvorne oder eines Retardierens. Aber die Verhältnisse in Israel und in den palästinensischen Gebieten stimmen skeptisch. Die von einem Teil der israelischen Eliten befürwortete Gründung eines palästinensischen Staates erfolgt partiell ohnehin mehr aus Gründen der Abgrenzung auch von den "eigenen" Arabern in Israel und der Vorstellung, sie vielleicht wenigstens zum Teil mit der Gründung eines palästinensischen Staatswesens loszuwerden. Nach den neuesten Ereignissen ist von israelischer Seite nicht weniger, sondern mehr Ambivalenz und zumindest noch mehr Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle eines solchen staatlichen Gebildes zu erwarten. Und auf der anderen Seite wächst das Gefühl der Abhängigkeit, der Gängelung, der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und dass man ohnehin nichts zu verlieren habe. Die Stärkung derjenigen, die eine harte Politik bzw. Terror predigen, ist die Folge. ...

Seit langem ... ist die permanente Intervention von außen zu einem notwendigen Mittel des Krisenmanagements geworden, das, wie diverse Kriege und fortgesetzte Gewaltausbrüche gezeigt haben, nur eingeschränkt wirksam ist. Denn abgesehen von den oben erwähnten divergierenden und teilweise die Situation noch komplizierenden auswärtigen Faktoren: Keine Intervention kann das endogene Kernproblem realer Multiethnizität und Multireligiosität auf der einen und intendierter exklusiver Nationalstaatlichkeit auf der anderen Seite lösen.

In sicherheitspolitischer Hinsicht herrscht heute in Israel eher Gelassenheit vor. Israel ist im Nahen Osten eine Supermacht, auch wenn es ein kleines Land mit einer kleinen Bevölkerung ist. Israel hat die bei weitem stärkste Armee im Nahen Osten. Und das Land hat alle Kriege gegen die Nachbarn gewonnen. Wirtschaftlich betrachtet, sind die Verhältnisse ungleich fundierter und prosperierender als die der umliegenden Länder. Und Israel ist eine (wenn auch für bestimmte nichtjüdische Bevölkerungsgruppen eingeschränkte) Demokratie. Mit Ägypten und Jordanien wurde Frieden geschlossen und damit die Front arabischer Staaten durchbrochen. Schritte einer Annäherung an Syrien und Libanon sind ebenfalls unverkennbar. Darüber hinaus genießt das Land die Unterstützung der USA. Es wird von den finanzkräftigen Juden in aller Welt massiv unterstützt.

Israel diktiert die Bedingungen, zu denen - wenn überhaupt - ein palästinensischer Staat eingerichtet wird. ...

Aber das ist nur die Perspektive nach außen. Die grundlegenden und ungelösten Probleme sind endogener Natur, sie betreffen die Auseinandersetzung zwischen einander befeindenden Ethnien, die mit allen Mitteln um ihre nationale Existenz und Identität kämpfen. Sie betreffen die Existenz zweier Völker, die durch die Geschichte und das, was seit Jahrzehnten immer wieder passiert, traumatisiert sind, die einander bedrohen und als für die eigene Existenz bedrohlich empfunden werden, die sich aber nicht trennen und voneinander abgrenzen können, weil sie auf dem gleichen Gebiet leben und in vielfältiger Weise miteinander verflochten sind, und die auch noch in sich diversifiziert, gespalten und zerrissen sind.

In Israel ist eine Radikalisierung des religiösen Fundamentalismus und des von der Rückgabe bedrohten Siedlungswesens in den besetzten Gebieten evident. Unter den Palästinensern gibt es ebenfalls eine Radikalisierung und eine zunehmende Befürwortung, zum Terror als Mittel der Politik zurückzukehren. ... Vor diesem Hintergrund fällt es schwer sich vorzustellen, es werde bald zu friedlicheren Verhältnissen kommen. Die Identitätsfindung und das nation building sowohl bei den Juden als auch bei den Palästinensern gründet sich seit einem halben Jahrhundert in einem wesentlichen Maße auf der Abgrenzung voneinander, auf Exklusion und auf dem Versuch wechselseitiger Verdrängung. ... Bis heute basiert der jeweilige Nationsbegriff über weite Strecken auf einer Negation der anderen Seite.

Realität ist aber auch, dass man zusammenleben, dass Juden und Palästinenser irgendwie miteinander zu Rande kommen müssen. Und vielleicht gibt es an dieser Schnittstelle dreier Weltreligionen, vielleicht gibt es in Jerusalem und dem Land herum doch noch Wunder. Dann wäre auch der Optimismus gerechtfertigt, der in dem Zitat von Ben Gurion steckt.

Aus: Frankfurter Rundschau, 21. Oktober 2000

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