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Politicus interruptus / Politicus Interruptus

Die acht Fakten von Barak und andere Lügen / Eight Facts of Barak and other Lies

Von Uri Avnery

Während der letzten Woche geriet ich in Europa zufällig an einen zugefrorenen See. Mir wurde erzählt, dass man ein paar Tagen zuvor darauf noch Schlittschuh laufen konnte. Inzwischen war die Temperatur gestiegen und das Eis begann zu schmelzen. Noch bedeckte es den ganzen See, aber an vielen Stellen konnte es schon mit einem Stock durchstoßen werden. Ich wurde gewarnt, mich aufs Eis hinauszuwagen. Es würde brechen und ich im See verschwinden. Aber in ein paar Tagen oder Wochen würde das Eis verschwinden und der wunderbare See zu neuem Leben erwachen.

Die Situation in unserm Land sieht genau so aus. Der ganze Staat ist noch von Eis bedeckt. Aber es fängt an zu schmelzen.

Das Eis ist die "große Lüge", die von Ehud Barak & Co. verbreitet wurde. Diese Lüge beginnt auseinander zu brechen. Bald wird nichts mehr von ihr übrig sein. Als der Haufen bankrotter Politiker aus Camp David zurückkehrte, schufen sie die Legende, die seitdem als "heilige Wahrheit" ausgegeben wurde, als habe sei Gott am Berge Sinai verkündet. Wie die Zehn Gebote von Moses, gab es die Acht Fakten von Barak: Ich habe jeden Stein auf dem Weg zum Frieden umgedreht; ich habe Angebote von noch nie da gewesener Großzügigkeit vorgelegt; ich ging weiter als jeder frühere Premierminister; ich habe den Palästinensern alles, was sie wollten, in Aussicht gestellt; Arafat hat alle Angebote zurückgewiesen; Arafat will keinen Frieden; die Palästinenser wollen uns ins Meer werfen; wir haben keinen Partner für den Frieden.

Falls Benjamin Netanyahu das gesagt hätte, hätte man es nicht ernst genommen. Jeder weiß, dass Netanyahu ein Gauner ist. Wenn Sharon dies gesagt hätte, hätte man ihm nicht geglaubt. Jeder weiß, dass Sharon ein Mann der blutigen Gewalt ist, der nicht zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden kann. Aber weil es von den Vorsitzenden der Arbeiterpartei kam, von jenen "hervorragenden Sprechern für den Frieden", verursachte es den Kollaps der etablierten Friedensbewegung.

Seitdem sind viele Zeugenaussagen über Camp David veröffentlicht worden, auch solche von pro-israelischen amerikanischen Augenzeugen. Alle belegen, dass Baraks Vorschläge viel weniger als das notwendige Minimum für einen Frieden aufweisen: Das Ende der Besatzung, die Errichtung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels, die Rückgabe aller besetzten Gebiete ( alles in allem 22 Prozent des britischen Mandatsgebietes von Palästina), die Rückkehr zur "Grünen Linie" (mit der Möglichkeit eines Gebietsaustauschs im beiderseitigen Einvernehmen), Ost-Jerusalem als Hauptstadt Palästina, Rückkehr der Siedler und Soldaten nach Israel, die Beendigung der Flüchtlingstragödie ohne Schaden für Israel.

Als die "Große Lüge" in sich zusammenbrach, kam eine neue Lüge auf: Einige Monate nach Camp David wurden die Gespräche wieder aufgenommen. Baraks Leute machten beispiellose Angebote und gaben den Palästinensern alles - aber Arafat weigerte sich zu unterschreiben - das beweist, dass er keinen Frieden will etc.

Nun kam der Friedensbotschafter der EU, Miguel Angel Moratinus, in den Nahen Osten und begrub auch diese Lüge. Der spanische Diplomat, der in Taba dabei war, aber an den Verhandlungen nicht aktiv teilnahm, hat einen langen und ausführlichen Bericht veröffentlicht über das, was sich tatsächlich dort abspielte. Daraus ergibt sich ganz klar, dass sich beide Parteien in Taba tatsächlich dramatisch genähert hatten. Zwar blieben in fast allen Bereichen zwischen ihren Positionen noch Lücken, die aber eher quantitativ als qualitativ zu werten waren. Wären die Gespräche noch einige Tage oder Wochen weitergeführt worden, hätte sicher ein historisches Abkommen erreicht werden können.

Was geschah also? Stimmt es, dass Arafat sich geweigert hat zu unterzeichnen? Keineswegs. Arafat weigerte sich nicht zu unterzeichnen. Er wollte die Verhandlungen bis zu einer Übereinkunft weiterführen.

Es war nicht Arafat, der die Gespräche in dem kritischen Augenblick abbrach, als Licht am Ende des Tunnels sichtbar wurde. Es war Barak. Er befahl seinen Leuten aufzubrechen und nach Hause zu gehen.

Warum?
Die Taba-Gespräche begannen nach dem Ausbruch der 2. Intifada, nach dem von Barak genehmigten bewaffneten Besuch Sharons auf dem Tempelberg, nachdem sieben arabische protestierende Demonstranten von Ben-Amis Polizei erschossen worden waren und sich täglich blutige Zusammenstöße ereigneten. Die Taba-Gespräche wurden während der Kämpfe geführt. In der Geschichte ist das ein völlig normaler Prozess. Schließlich werden Verhandlungen geführt, um einen Kampf zu beenden.

An jenem Tag wurden zwei Israelis in einer palästinensischen Stadt umgebracht. Die Palästinenser sagten, es sei die Rache für den Mord an einem lokalen Führer. Für Barak war das ausreichend, um die Gespräche abzubrechen.

Doch was war der wirkliche Grund? Die Antwort liegt in der seelischen Verfassung von Barak. So etwas geschah bei Barak ja nicht zum ersten Mal: wenn er ganz dicht vor einem Abkommen steht, zieht er sich im letzten Moment zurück.

Das begann schon zu Anfang seiner Regierungszeit. Wie man sich erinnert, wollte er zuerst mit den Syrern ein Abkommen aushandeln, um die Palästinenser zu isolieren. Ein vollständiges Abkommen war beinahe erreicht, als plötzlich alles zusammenbrach. Assad wünschte, dass das syrische Territorium sich bis an das Ufer des Sees Genezareth erstreckt, während Barak die Grenze ein paar hundert Meter davon entfernt ziehen wollte. Allein wegen dieser hundert Meter verwarf Barak das so nahe in Aussicht stehende historische Abkommen. (Witzbolde behaupten heute, Barak hätte die Grenze ruhig am damaligen Ufer ziehen können, da sich der See inzwischen um einige hundert Meter zurückgezogen hat.)

Dasselbe geschah in Camp David. Ein Abkommen war beinahe abgeschlossen. Alle Tagungsteilnehmer glaubten in jener Zeit, dass es schon abgeschlossen wäre. Dann geschah irgend etwas mit Barak. Wie die israelischen Teilnehmer bezeugen - und wie es mir Arafat vor kurzem bestätigte -flippte Barak einfach aus. Er zog sich zurück, rasierte sich nicht mehr und weigerte sich sogar, sich mit seinen engsten Mitarbeitern zu treffen. So etwas Ähnliches geschah auch in Taba. Als das Abkommen zur Verfügung stand, befahl Barak, die Gespräche abzubrechen. Der aktuelle Vorwand spielte keine Rolle.

Wenn so etwas immer wieder passiert, stellt man Fragen. Man könnte dies einen "politus interruptus" nennen. Einen Augenblick vor dem Ziel zieht sich Barak zurück. Ich bin kein Psychiater und bin für psychische Probleme nicht zuständig. Aber ich glaube, dass jedes Mal, wenn Barak den tatsächlichen Preis für den Frieden vor sich sah, er im letzten Augenblick zurückschreckte. Es gab eine Unvereinbarkeit zwischen dem Preis für den Frieden (Rückzug aus den besetzten Gebieten, Evakuierung der Siedlungen, Zugeständnisse bei Ost-Jerusalem und dem Tempelberg, Rückkehr einer symbolischen Zahl von Flüchtlingen) und den Ideen, die er zur Sprache gebracht hatte. Er war nicht in der Lage, die Verantwortung zu übernehmen, und brach zusammen. Zur selben Zeit ließ er zu, dass sich die Siedlungen mit rasender Geschwindigkeit ausdehnten.

Seinen persönlichen Kollaps deckte er kriminellerweise mit der "großen Lüge" zu - und verursachte so einen nationalen Kollaps.

Jetzt fängt die Lüge an zu zerbröckeln. Die offene Diskussion über Kriegsverbrechen, die Erklärung von Hunderten von Soldaten, den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, der Aufruf der Generäle, die Besatzung zu beenden, die neuen Stimmen in den Medien, der Aufruf mutiger Künstler, die große Demo von 27 Friedensorganisationen, einschließlich von Gush Shalom, die folgende Peace-Now-Demo - all dies zeigt, dass das Eis zu schmelzen beginnt.

Das ist nur der Anfang. Jetzt ist die Zeit für all jene gekommen, die darauf warten, sich den Bemühungen anzuschließen. So wie Churchill nach dem Sieg in Ägypten sagte: "Das ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist vielleicht das Ende des Anfangs."

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs


Politicus Interruptus

By Uri Avnery


Last week, in Europe, I happened to pass a frozen lake. I was told that a few days before it was possible to skate on it. But the temperature had risen and the ice cover had started to melt. It still covers the whole lake, but in many places it can be broken with a stick. I was warned not to try to stand on it, because it might break, I would fall into the lake and disappear. But in a few days or weeks, I was promised, the ice would disappear and the beautiful lake would come to life again.

The situation in our country resembles this situation. The ice still covers the whole state, but it has started to melt.

The ice is the Big Lie told by Ehud Barak and his companions. This lie is starting to break. Soon nothing will be left of it.

When the bunch of bankrupt politicians returned from Camp David, they fabricated the legend, which has since become a holy truth, as if given by God at Mount Sinai. Like the Ten Commandments of Moses, there are Eight Facts of Barak: I have turned every stone on the way to peace; I have submitted offers unprecedented in their generosity; I went further than any Prime Minister before me; I have given the Palestinians everything they wanted; Arafat has rejected all the offers; Arafat does not want peace; The Palestinians want to throw us into the sea; We have no partner for peace.

If Binyamin Netanyahu had said this, it would not have had any impact. Everybody knows that Netanyahu is a crook. If Sharon had said it, he would not have been believed, because everybody knows that Sharon is a Man of Blood, unable to distinguish between truth and untruth. But when it came from the leaders of the Labor Party, those eminent spokesmen for peace, it caused the collapse of the established peace movement.

Since then, many testimonies about Camp David have been published, including some by pro-Israeli American eye-witnesses. All of them show that Barak's proposals fell far short of the essential minimum for peace: end of the occupation, establishment of a Palestinian state side by side with Israel, giving up all the occupied territories (all in all 22% of Palestine under the British Mandate), returning to the Green Line (with the possibility of mutually agreed swaps of territories), turning East Jerusalem into the capital of Palestine, return of the settlers and soldiers to Israel, ending the tragedy of the refugees without damage to Israel.

When the Big Lie exploded, an alternative lie was put out: Some months after the Camp David talks were renewed in Taba, Barak's men made offers unprecedented in their generosity, gave the Palestinians everything, but Arafat Refused To Sign, which shows that he does not want peace, etc.

Now Moratinus, the the European Union emissary for peace in the Middle East, has come along and buried this lie, too. The Spanish diplomat, who was in Taba but did not take part in the talks, has published a long and detailed report about what really happened there.

The clear conclusion is that at Taba the sides indeed came dramatically closer to each other. Gaps remained between their positions in almost all areas, but they were quantitative, rather than qualitative gaps. Clearly, if the talks had gone on for another few days or weeks, a historic agreement would have been achieved.

So what happened? Is it true that "Arafat Refused To Sign"?

Not at all. Arafat did not refuse to sign. He wanted to continue the negotiations until there was an agreement to sign.

It was not Arafat who broke off the talks at this critical moment, when the light at the end of the tunnel was clearly visible to the negotiators, but Barak. He ordered his men to beak off and return home.

Why?
The Taba talks began after the outbreak of the second intifada. After Sharon's invasion of the Temple Mount with Barak's permission, and after seven Arab protesters were shot by Ben-Ami's police, bloody incidents occurred daily. The Taba talks were held "under fire" – a process that is quite normal in history. After all, negotiations are held in order to put an end to the fire.

On that day, two Israelis were murdered in a Palestinian town. The Palestinians said that this was revenge for the murder of a local leader. But it was enough for Barak to break off the talks.

What was the real reason? The answer must be found in the mind of Barak. After all, it happened to Barak time and again: whenever he got close to an agreement, he withdrew at the last moment.

It started at the very beginning of his term of office. As will be recalled, he wanted to come to an agreement with the Syrians first, in order to isolate the Palestinians. Complete agreement was almost reached, when suddenly everything broke down. Assad wanted Syrian territory to extend to the shores of the Sea of Galilee, while Barak wanted the border to be a hundred meters away from the shore. Because of the hundred meters, Barak rejected the historic agreement that was at hand. (Comics say these days that Barak should have fixed the border at the shore line as it was then, as the sea has retreated many hundreds of meters since then.)

The same happened at Camp David. Agreement was possible. All the participants believed at the time that it was already close. Then something happened to Barak. As the Israeli participants testify (and as Arafat told me a few days ago), Barak simply freaked out. He cut himself off, did not shave and refused to meet even with his closest assistants.

Something similar happened at Taba. When the agreement was at hand, Barak ordered the talks to be broken off. The actual pretext does not matter.

When something like that occurs again and again, it raises questions. It may be called "politicus interruptus'. A moment before the consummation, Barak draws back. I am not a psychiatrist and am not qualified to deal with mental problems. But I believe that every time, when Barak saw the actual price of peace in front of him, he shrunk back at the last moment. There was a dissonance between the price of peace (withdrawal from the occupied territories, evacuation of settlements, conceding East Jerusalem and the Temple Mount, return of a symbolic number of refugees) and the ideas he was brought up on. He could not shoulder the responsibility and broke down. At the same time, he expanded the settlements at a frantic pace.

Adding sin to crime (as the Hebrew expression goes), he covered his personal collapse with the Big Lie, which caused a national collapse.

Now the lie is starting to break up. The open discussion of war crimes, the declaration of hundreds of soldiers that they refuse to serve in the Palestinian territories, the call of the reserve generals for an end to the occupation, the new voices in the media, the call of courageous artists, the big demonstration of 27 militant peace organizations (including Gush Shalom), the following big Peace Now demonstration – all these show that the ice is starting to melt.

This is only the beginning. Now is the time for all those who were waiting to join the effort. As Churchill said after the victory in Egypt: "This is not the end. It is not even the beginning of the end. But it is, perhaps, the end of the beginning."


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