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Die Ölmonarchen haben gelernt

Der Arabische Frühling vom Winter aus gesehen. Eine Bilanz des Berliner Publizisten Issam Haddad *


Issam Haddad, geboren 1939 in Tripoli (Libanon), hat über viele Jahre das Internationale Büro der »Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas«, einer Mitgliedorganisation der PLO, geleitet und in dieser Funktion viele Kontakte in der arabischen Welt und Europa geknüpft.
Issam Haddad studierte in der BRD Medizin und arbeitete als Arzt in Nordrhein-Westfalen, kehrte 1970 in sein Heimatland zurück, verließ es aber wieder nach dessen Besetzung durch Israel 1982. Haddad ist seit fünf Jahren im Vorstand des Arabischen Publizistenvereins Deutschland. Er leitet das Arabische Filmfestival, das seit 2009 jeweils im November in Berlin stattfindet.
Mit ihm sprach für das "neue deutschland" (nd) Roland Etzel.



nd: Im Mai, auf dem ND-Pressefest, haben wir uns auf dem Podium über den Arabischen Frühling unterhalten. Damals haben bei Ihnen die positiven Einschätzungen überwogen, jetzt immer noch?

In gewisser Hinsicht schon; insbesondere weil wir gesehen haben, dass die Politik im Allgemeinen nicht mehr allein von den Herrschenden bestimmt wird. Die Volksmassen sind viel stärker als in den vergangenen Jahrzehnten für ihre eigenen Belange auf die Straße gegangen und tun es noch. Wir erleben hier aber keinen geradlinigen Prozess im Sinne einer Vollendung der national-demokratischen Revolution bzw. einer umfassenden Demokratisierung der sozialen und politischen Verhältnisse. Dazu ist das Niveau der sozial-ökonomischen Entwicklungen in den Ländern viel zu unterschiedlich. Außerdem muss man berücksichtigen, welche Kräfte und Staaten noch im Spiel sind; eben nicht nur innerarabische, sondern auch regionale und weltweit agierende.

Haben die Umstürze, die es nacheinander in Tunesien, Ägypten und Libyen gegeben hat, überhaupt etwas Gemeinsames?

Ja, Gemeinsames im Sinne einer nationalen unabhängigen Entwicklung. Aber die Dinge sind ja noch im Fluss; in Tunesien, noch mehr aber in Ägypten. Dessen bisherige Machthaber, noch mehr aber ihre regionalen und internationalen Verbündeten wissen sehr gut um dem Wert Ägyptens für sie. Es ist eine sehr harte Auseinandersetzung und vieles noch offen, besonders weil der politische Islam sich in Ägypten - im Gegensatz zu Tunesien - noch nicht genau definiert und platziert hat. Die Brücken zwischen ihm, den Linksliberalen oder Mitte-Links sind nicht klar. Deshalb könnte die Entwicklung in Ägypten noch voller Überraschungen sein. Die Repräsentanten des alten Regimes werden alles unternehmen, um mit der Armee und ihren konservativen Verbündeten auf der Arabischen Halbinsel, in den USA und der Europäischen Union die Entwicklung unter ihrer Kontrolle zu halten.

Diese Allianz hat in Libyen schon funktioniert.

Das besondere an Libyen war, dass hier tatsächlich alle Gaddafi-Gegner koordiniert agiert haben. Sie intervenierten gegen ein international isoliertes Regime, das auf die Dauer zu schwach war, um die Angreifer aufzuhalten. Wie wenig »demokratisch« diese Anti-Gaddafi-Allianz allerdings war, zeigte sich an ihrem Wüten gegen die Unterlegenen. Sie schreckten nicht davor zurück, den schon am Boden liegenden »Fast-Leichnam« Muammar al-Gaddafi zu erschießen.

Die Umstürze in Tunesien und Ägypten wurden von den anderen arabischen Ländern scheinbar ohne ausdrückliche Parteinahme für eine Seite und wenn doch, dann für das alte Regime begleitet. So fand Tunesiens flüchtender Staatschef Ben Ali ganz selbstverständlich Aufnahme in Saudi-Arabien. Ägyptens gestürztem Präsidenten Hosni Mubarak wäre das gewiss auch gewährt worden. Er ist nur nicht geflüchtet. Ganz anders dagegen ist das Verhalten der »arabischen Brüder« gegenüber Libyen gewesen und derzeit gegenüber Syrien. Welche Ursachen sehen Sie für die Ungleichbehandlung?

Ich denke, dass das Ausland zumindest in Tunesien nicht aus freiem Willen nur zugeschaut hat. Es gab durchaus Überlegungen, wenn auch nicht einzumarschieren, aber doch zu intervenieren. Aber Ben Alis frühe Flucht hat es nicht dazu kommen lassen.

Meinen Sie, die arabischen Länder hätten interveniert?

Auch die arabischen Länder. Sie wurden wohl nur daran gehindert, weil sich die Lage in Ägypten ebenfalls dramatisch zuspitzte. Die ägyptische Bühne ist aber ungleich wichtiger als die tunesische. Sie war und ist von strategischer Bedeutung für die Zukunft der ganzen Region. Man kann wohl sagen, der Massenaufstand in Ägypten hat Tunesien faktisch geschützt vor Versuchen direkter ausländischer Einmischung. Die Franzosen waren dazu bereit.

Auch auf der anderen Seite des Mittelmeeres hat man nicht nur beobachtet. Man war zutiefst erschrocken, besonders in den reaktionärsten Ländern auf der Halbinsel. Die waren sofort bereit, Milliarden locker zu machen, Hauptsache Ägypten geht nicht »verloren«. 30 Jahre Mubarak-Herrschaft, das waren für die Monarchien genauso wie für die EU und die USA 30 Jahre relativ ungestörter Hegemonie in der Region.

Und sie haben daraus ihre Lehren gezogen?

Sie haben sogar sehr schnell gelernt. In Libyen gab es zu Anfang der Rebellion im Februar zwei, drei Tage lang von Menschenrechtlern organisierte Demonstrationen. Diese Chance wurde von mächtiger und zahlreicher Gegnerschaft im Ausland umgehend beim Schopfe ergriffen, um auf vielfältige Weise zu intervenieren; am Boden über Nachbarstaaten, von der Seeseite her, besonders aber mittels des Luftkrieges durch Westeuropa, danach auch von den USA. Teil dieser Allianz waren nicht zuletzt die reaktionärsten Kräfte Arabiens, vertreten durch die Golfstaaten.

Trotzdem, es kam erstaunlich schnell zu dieser geschlossenen Front gegen Gaddafi. Dabei hatte der doch allen seinen großen Weltveränderungsplänen der 70er und 80er Jahre längst abgeschworen. Die westlichen Gesellschaften konnten sein Öl ausbeuten. Er hat sogar den USA wieder einen Stützpunkt angeboten. Warum haben sie dennoch diesen erbarmungslosen Krieg gegen ihn geführt?

Ich denke, so geplant war das nicht. Gewollt aber war es seit Langem. Auch wenn sie wieder fast alles von ihm bekommen hätten, so war das Gaddafi-Regime doch von gehöriger Unberechenbarkeit und folglich ein Schwachpunkt für den Westen in Nordafrika. Dort wie im gesamten arabischen Raum aber hatte sich Gaddafi nahezu in die totale politische Isolation manövriert. Er versuchte, sich nach Afrika zu wenden, um dort Verbündete zu finden, vielleicht mit Südafrika an seiner Seite, aber Südafrika ist zu weit weg.

Und was das Öl betrifft: Libyens Ölfelder waren bisher verstaatlicht. Und das gefiel den großen Konzernen nicht. Sie wollen schalten und walten, wie sie das zum Beispiel in Irak praktizieren können, seit sie dort Saddam Hussein beseitigt haben. Ein dritter Punkt: Für die EU war Libyen der schwächste, aber auch der wichtigste Punkt, um den Strom arbeitsuchender Menschen nach Europa zu stoppen.

Es gab also sehr verschiedene, sehr starke Interessen, das Gaddafi-Regime abzuschaffen und hier eine enge Verbindung mit dem internationalen Kapital zu verankern.

Hätte ein klüger agierender Politiker als Gaddafi, einer ohne derart bizarre Auftritte, das Debakel verhindern können nach den ersten Unruhen im Februar, die längst nicht so dramatisch waren, wie hinterher von den Siegern behauptet?

Meiner Ansicht nach Ja. Hätte Gaddafi im Frühjahr das Land verlassen und die Macht an einen seiner Söhne übertragen, wäre es für sein System wohl möglich gewesen zu überleben.

Hat es Sie überrascht, dass Russland durch Stimmenthaltung die kriegsermöglichende Resolution im UN-Sicherheitsrat passieren ließ?

Ja. Für die Russen ist es aber jetzt ein Trumpf in der Hand, um im Fall Syrien Nein zu sagen. Sie können dem Westen entgegnen: Ihr habt die Libyen-Resolution umgedeutet und missbraucht, habt die UNO-Charta mit den Füßen getreten. Daher jetzt unser Nein. Man wird allerdings abwarten müssen, wie lange sie das durchhalten.

Syriens Präsident Baschar al-Assad hat kürzlich gesagt, dass er auf den Schutz Russlands setzt. Das klingt nicht sehr optimistisch hinsichtlich seiner eigenen Stärke.

Assad hätte eine recht breite Allianz, wenn er eine Wende hin zu den tatsächlichen nationaldemokratischen Kräften hinbekäme. Nötig wäre dafür als erstes die Abschaffung jener Verfassungsteile über die Alleinherrschaft der Baath-Partei, um langsam den Weg freizumachen in Richtung einer pluralistischen Gesellschaft. Dann würde er nationaldemokratisch gesinnte Kräfte an seiner Seite finden, die mit ihm über einen Diskurs tatsächlich zu einer vernünftigen Lösung für Syriens Krise kommen könnten. Es wäre wohl auch die einzige Kraft, die Assad die Macht erhalten könnte bzw. ihn unter bestimmten Bedingungen noch an der Macht teilhaben ließe.

Nach so vielem Blutvergießen ist es wohl schwierig für Assad standzuhalten, besonders gegen jene Allianz, die sich jetzt an die NATO anlehnt; mit dem sogenannten Provisorischen Nationalrat an der Spitze, quasi die geballte Faust der Moslembruderschaft der ganzen Region, besonders aber der Golfstaaten und der Türkei. Auch in Syrien selbst sind die Moslembrüder längst nicht so liberal wie in Tunesien oder selbst in Ägypten.

Assad hat für das Frühjahr Parlamentswahlen versprochen, Parteien will er zulassen und auch eine freie Presse. Aber weder seine Opposition noch der Westen scheinen das zur Kenntnis zu nehmen. Alle sagen, er müsse endlich Reformen einleiten. Warum ist das so? Unterstellt man, dass es nicht ernst gemeint oder unter Assad jetzt nicht mehr möglich ist? Der französische Außenminister Alain Juppé sagte, Assad könne erklären, was er will, er müsse sowieso abtreten.

Was Juppé sagt, ist das eine, was die Leute in Syrien denken, das andere. Und Frankreich hat, nach dem, was es in Libyen angerichtet hat, keinen guten Ruf unter den arabischen Massen; egal, ob man Gaddafi nun gemocht oder gehasst hat. Es geht Frankreich und Westeuropa wohl darum, die blutigen Auseinandersetzungen in Syrien zu intensivieren und dem Staat so keine Minute Zeit zu geben, sich zu erholen.

Man hat den Eindruck, dass die, wie Sie sagen, reaktionären Regimes in der Region, die Monarchien, im Verlaufe dieses Jahres stärker geworden sind. Wesentlich mit ihrer Hilfe wurde das ihnen verhasste System in Libyen gestürzt. Sie haben den syrischen Staat an den Rand des Zusammenbruchs gedrückt. Und sie haben die Bewegungen auf der Halbinsel wie in Bahrain niedergeschlagen oder in Jemen ins Leere laufen lassen.

Ja, die Monarchien scheinen stärker geworden zu sein. Sie folgen der These, die eigene Ordnung auf dem Boden des Feindes zu verteidigen. An vorderster Front praktiziert dies derzeit Katar. Dieses Emirat, aber auch Kuwait und Saudi-Arabien, stehen total unter US-amerikanischer Hegemonie und werden für eine Konfrontation mit Iran instrumentalisiert. Deshalb werden auch viele der aus Irak abziehenden US-Soldaten nicht nach Hause zurückkehren, sondern in den Golfstaaten stationiert werden.

* Aus: neues deutschland, 31. Dezember 2011


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