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Kein Frieden in Sicht

Kommentare zum Abkommen von Scharm el-Scheich

Peter Münch kommentierte die Vereinbarung zwischen Barak und Arafat in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Oktober 2000 wie folgt:

Frieden als Fata Morgana

VON PETER MÜNCH

Bill Clinton mag als Prophet im eigenen Land nicht mehr viel gelten so kurz vor dem Ende seiner Amtszeit. Doch im Streit um das zwischen Israelis und Palästinensern umkämpfte Land haben die Vorhersagen des amerikanischen Präsidenten bisweilen doch noch eine Restkraft. „Wir können uns ein Scheitern nicht leisten“, sprach Clinton zu Beginn des Krisengipfels in Scharm el-Scheich. Und siehe da, es kam wie verheißen: Es wurde hart verhandelt, und gescheitert sind die Gespräche nicht.

Das Treffen der Politiker im Golfclub hat also ein Ergebnis produziert: Erst sollen die Waffen schweigen, dann soll wieder über den Frieden gesprochen werden. Genauer gesagt: Es soll darüber verhandelt werden, wie wieder verhandelt werden kann zwischen Israelis und Palästinensern. Dies mag das beste Ergebnis sein, das zu erzielen war angesichts der bedrückenden Begleitumstände und der Eskalation der Gewalt. Doch man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, dass die Übereinkunft vom Sinai zunächst einmal nicht viel mehr ist als ein Mahnruf in der Wüste.

Weil es ein Mahnruf der Mächtigen ist, weil US-Präsident Clinton ebenso angereist war wie UN-Generalsekretär Kofi Annan und der EU-Außenpolitiker Javier Solana, konnten die beiden Kontrahenten letztlich ihre Ohren nicht verschließen. Palästinenser-Präsident Jassir Arafat und Israels Premierminister Ehud Barak buhlen um das Wohlwollen der Weltgemeinschaft, sonst würden sie nicht so erbittert um die Schuldfrage am jüngsten Blutvergießen streiten. Doch im politischen Alltag der Palästinenser und der Israelis zählt das Urteil der Welt wenig. Da gilt Auge um Auge, Stein um Stein.

Sollten also nun tatsächlich wie vereinbart die israelischen Panzer zurückgezogen und die palästinensischen Straßenkämpfer zurückgepfiffen werden, so ist dies nicht mehr als ein Zwischenstand, ein Innehalten und Abwarten. Der Weg zurück auf den Friedenspfad aber ist noch lang. Außerdem bestehen ernste Zweifel, ob die Parteien tatsächlich umkehren wollen. Barak jedenfalls fährt unbeirrt fort mit dem Versuch, den friedensfeindlichen und Gewalt provozierenden Likud-Führer Ariel Scharon in eine Notstandsregierung einzubinden – wohl wissend, dass mit einer solchen Koalition kein Frieden zu machen ist. Auf der anderen Seite lässt die palästinensische Fatah nicht einmal das Echo aus Scharm el-Scheich verklingen, um sich mit einer neuen Kriegserklärung an Israel zu Wort zu melden.

Friedenswille ist da nicht auszumachen. Im Gegenteil: Es gibt zahllose Gründe auf beiden Seiten, den Konflikt fortzusetzen, es gibt neue Ängste, Wut und Rachegelüste. Und ganz grundsätzlich fehlen zum jetzigen Stand die beiden Hauptmotive, aus denen heraus Frieden geschlossen wird: Erschöpfung oder Einsicht.

Erschöpfung war es, die 1993 nach Jahren der Intifada zum Abkommen von Oslo zwischen Arafat und Jitzchak Rabin geführt hatte. Das Abkommen eröffnete Israelis wie Palästinensern die Perspektive auf bessere Zeiten. Den Palästinensern wurde ein eigener Staat verheißen, den Israelis Ruhe und Frieden – beiden war damit gedient. Doch das große Ziel verlor sich auf dem Weg. Das Grundsatzabkommen wurde ausgefranst durch zahllose Interimsvereinbarungen. Sieben Jahre später haben die Konfliktparteien immer noch nicht die Gräben überwunden, die zwischen ihnen liegen. Was sie überwunden haben, ist die Erschöpfung. Und damit stehen sie wieder am Ausgangspunkt ihres Konfliktes.

Deutlich wurde das auf dem Sommer-Gipfeltreffen. Camp David sollte die Endrunde einläuten auf dem Weg zur Einigung, doch es begann lediglich eine neue Runde der Auseinandersetzung. Auch wenn Barak seit dem Treffen in den USA mehr Flexibilität zeigte als ein offenbar altersstarrer Arafat, so tragen vom Ergebnis her betrachtet beide Seiten Schuld an der explosiven Lage. Ihre Schwäche ist es, dass sie sich selbst zu stark fühlen für einen Kompromiss – und den Gegner fälschlicherweise für zu schwach halten. Nur so lässt sich die Mutwilligkeit erklären, mit der Israelis und Palästinenser in den vergangenen Tagen ihren Streit auf die Spitze trieben.

Wie also soll es da zum Frieden kommen? Die Kontrahenten scheinen geradezu erpicht darauf zu sein, dem Gegner die eigene Kraft zu zeigen. Jeder Steinwurf eines Palästinensers wird mit aller Härte gekontert; jeder Todesschuss eines israelischen Soldaten führt zu neuem Aufruhr. Von Erschöpfung keine Spur, und auch nicht von Einsicht. Von der Friedensdividende, auf die alle in der Region noch vor wenigen Monaten gehofft hatten, spricht heute niemand mehr, und die Kosten des Kampfes scheut offenbar kaum einer.

Mit dem Abkommen von Scharm el-Scheich ist nun versucht worden, die Uhr zurückzudrehen – zumindest bis zu jenem verhängnisvollen Septembertag, an dem Ariel Scharon bei seinem Besuch auf dem Tempelberg die Lunte zündete. Doch 18 Tage des Kampfes mit mehr als hundert Toten können nicht vergessen und schon gar nicht ungeschehen gemacht werden. Die Zeichen der Zeit deuten nicht auf Frieden. Und für Bill Clinton, den Propheten, läuft die Zeit ohnehin ab.

In der Frankfurter Rundschau kommentierte am selben Tag Detlef Franke:

Wunder mit Verfallsgefahr

Weder Israelis noch Palästinenser sind bereit, den hohen Preis für den Frieden zu bezahlen

Es grenzt an ein Wunder, dass sich Israelis und Palästinenser beim so genannten Gipfel von Scharm el-Scheich überhaupt auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt haben. Doch was das Papier wert ist, auf dem beide Seiten ein Ende der Gewalt zusagen, werden die nächsten Tage zeigen. Große Erwartungen, dass Hass und gegenseitige Feindseligkeiten, die auf palästinensischer Seite über 100 Todesopfer gefordert haben, sich von heute auf morgen in friedliche Zusammenarbeit und künftige Friedensgespräche verwandeln werden, hegt in der Region kaum jemand.

Schon hat die Fatah eine Fortsetzung des Aufstands gegen die Besatzungsmacht Israel angekündigt, und Premier Barak denkt ernsthaft an eine Regierung der "nationalen Einheit". Also an eine Regierung mit der Partei jenes Ariel Scharon, der mit seinem Besuch am Tempelberg zwar nicht Ursache, aber Auslöser der jüngsten blutigen Unruhen war. Keine guten Voraussetzungen für eine Befriedung der Region.

Doch den Gipfelteilnehmern deuchte es wohl schon als Erfolg, das Schießen und Steinewerfen zu beenden. Der Frieden im Nahen Osten, der 1993 mit dem Abkommen von Oslo so hoffnungsvoll eingeläutet schien, ist heute weiter entfernt denn je. Barak und Yassir Arafat sind mit ihrer bisherigen Politik gescheitert. Der Israeli hat sich weit von seiner Regierungserklärung entfernt, und der Palästinenserchef hat die Gefühle seines geschundenen Volkes mit falschen Hoffnungen enttäuscht. Der Frieden in Nahost hat einen sehr hohen Preis. Doch keine der beiden Seiten ist bereit, den tatsächlichen Gegenwert für diesen Frieden zu bezahlen.

Der Kommentar in der Neuen Zürcher Zeitung (ebenfalls 18.10.00) fiel so aus:

Keine Vernunft ohne Vermittler in Nahost

Siebzehn Stunden mussten Präsident Clinton und die andern prominenten Vermittler in Sharm ash-Sheikh mit der israelischen und der palästinensischen Führung verhandeln, bis Barak und Arafat schliesslich bereit waren, sich auf eine gemeinsame Erklärung zur Beendigung der blutigen Gewalt zwischen ihren Völkern zu verständigen. Zumindest vor den Fernsehkameras gab es keinen Händedruck zwischen Barak und Arafat. Die Körpersprache der beiden Kontrahenten und die selbstgerechten gegenseitigen Zuweisungen von Schuld für die Gewaltorgien derletzten zwei Wochen haben mit deprimierender Deutlichkeit erkennen lassen, dass ohneschwergewichtige Vermittlung und konzentrierten Druck von aussen die israelische unddie palästinensische Führung sich in der jetzigen brandgefährlichen Phase auf diesen kleinen Schritt nicht hätten verständigen können.

Clinton, der Uno-Generalsekretär Annan, der ägyptische Präsident Mubarak, der jordanische König Abdallah und andere Vermittler verdienen Respekt für ihren hartnäckigen Einsatz. Ihr Verdienst wird nicht dadurch geschmälert, dass die zwischen Israeli und Palästinensern vereinbarte Absage an weitere Gewaltexzesse natürlich auch in ihrem ureigenen Interesse liegt.

Barak und Arafat müssen nun ihre Zusagen einlösen. Das heisst in erster Linie dafür sorgen, dass der Einsatz von Gewaltmitteln - sei es durch Steine werfende, aufgeputschte jugendliche Horden oder durchübertriebenen Einsatz tödlicher Schusswaffen seitens der israelischen Sicherheitskräfte - konsequent eingedämmt wird. Zwar dürfte die auf israelischer Seite verbreitete These, Arafat brauche nur mit den Fingern zu schnippen, um die Aggressivität der jugendlichen Demonstranten und seiner bewaffneten Milizen unter Kontrolle zu bringen, die Machtverhältnisse unter den Palästinensern bewusst simplifizieren.

Dennoch hat Arafat in den vergangenen zwei Wochen als Führungsfigur, die bestrebt sein müsste, die sich ausbreitenden Flammen der Gewalt um das nahöstliche Pulverfass einzudämmen, keine überzeugende Figur gemacht. Vor allem unter jugendlichen Palästinensern ist die Meinung weit verbreitet, dassnur gewalttätiger Druck Israel zu substanziellen Konzessionen bewegen werde. Arafats Verhalten während des Aufruhrs nährte den Verdacht, dass er mit dieser Auffassung bis zu einem gewissen Grad durchaus sympathisierte. Aber hat der Palästinenserführervergessen, dass bei einer grösseren kriegerischen Eskalation mit Israel sein Volk in der Vergangenheit stets am meisten verloren hatte? Musste ihn Mubarak in Sharm ash- Sheikh zuerst nachdrücklich an diese bitteren Erfahrungen erinnern?

Auch der israelische Regierungschef Barak muss nun durch Taten beweisen, dass es ihm in den kommenden Tagen und Wochen besser gelingt, die Hitzköpfe und Scharfmacher im eigenen Land wirkungsvoller in die Schranken zu weisen, als dies während der jüngsten Gewaltexplosion der Fall war. Ob ein Regierungsbündnis mit dem Likud-Führer Sharon, den die Araber aus nicht unverständlichen Gründen als Reizfigur empfinden, der richtige Weg ist, um zurück zum notwendigen Dialog mit den Palästinensern zu finden, ist höchst zweifelhaft. Und Barak muss endlich dem provokativen, mitunter tödlichen Waffengebrauch militanter Siedler in den besetzten Gebieten einen starken Riegel vorschieben.
R. M.

Die taz brachte am 18.10.2000 anstelle eines Kommentars ein Interview mit dem israelischen Historiker Benny Morris.

"Rechte ist nicht zum Kompromiss bereit"

taz: Herr Morris, wie schätzen Sie die Vereinbarungen von Scharm al-Scheich ein?

Bennie Morris: Wenn sich beide Seiten an ihre Verpflichtungen halten, ist es ein wichtiger Vertrag, der die Wiederaufnahme von Verhandlungen ermöglicht.

Die USA wollen nun prüfen, auf welcher Basis die Verhandlungen fortgesetzt werden können. Welche neuen Ideen könnten sie jetzt noch haben?

Wenn die USA beide Seiten nach Washington einladen, werden sie nicht viel Neues anbieten. Es gab eine Reihe von Kompromisspapieren. Problematisch ist, dass Arafat die Kompromisse nicht eingehen konnte und es auch künftig nicht tun wird.

Gibt es eine Rückkehr zum Friedensprozess?

Der Osloer Friedensprozess ist gestorben, als Ehud Barak an die Regierung kam und sagte, dass er an Stelle der Interimslösungen sofort eine endgültige Lösung anstrebe. Barak hat weder die Verträge von Wye, noch die von Hebron umgesetzt. Er wollte keine weitere Gebietsaufgabe ohne Gegenleistung der Palästinenser. Stattdessen bot er gleich 95 Prozent der palästinensischen Gebiete für die Unterschrift Arafats auf dem Vertrag.

Inwiefern unterscheidet sich die gegenwärtige Krise von bisherigen Rückschlägen?

Der wichtigste Unterschied ist, dass hier nicht länger nur Steine flogen, sondern scharf geschossen wurde. Dazu kommt, dass es ausgerechnet unter einem israelischen Premierminister passierte, der kompromissbereit war wie keiner seiner Vorgänger. Die Unruhen brachen aus vor dem Hintergrund der palästinensischen Frustration über einen, wie sie es sehen, zionistischen Sieg auf ihre Kosten. Selbst nach Beginn des Friedensprozesses hat sich nicht viel für sie verändert. Seit sieben Jahren wird verhandelt, und die Palästinenser haben noch immer keinen eigenen Staat. Ein weiterer Grund ist, dass Arafat sein Volk nicht auf den Verzicht vorbereitet hat. Bei vielen lebt die Vision von Großpalästina unverändert fort.

Welche Spuren hat die Krise innerhalb der israelischen Gesellschaft hinterlassen?

Die israelischen Linken glaubten gern, dass die Palästinenser zu einer besseren, gemeinsamen Zukunft bereit sind. Barak hatte ihnen alles versprochen, und dann stehen sie uns plötzlich mit Waffen gegenüber. Aber entscheidend für die israelische Gesellschaft ist vor allem, dass sich die arabischen Israelis dem Kampf angeschlossen haben. Es war ein Fehler zu glauben, dass sie dem Staat treu sind. Die arabischen Israelis sind eine Zeitbombe. Sie wollen Autonomie, vielleicht zunächst nur kulturell. Die Sache der Identität ist viel wichtiger als die wirtschaftliche Situation.

Glauben Sie, dass Arafat dem Frieden im Wege steht? Wäre es mit einem anderen Palästinenserpräsidenten einfacher?

Denkbar wäre es. Es ist ihm immer nachgesagt worden, dass er ein unangenehmer Gesprächspartner ist, ein Heuchler und Bluffer. Das stimmt alles. Vielleicht könnte ein anderer tatsächlich etwas ändern.

Barak setzt seine Anstrengungen in Richtung Einheitsregierung fort. Welche Auswirkungen hätte eine solche Koalition auf den Frieden?

Unter einer Regierung, in der Ariel Scharon sitzt und die Hälfte der Minister zum rechten Lager gehören, kann es keinen Frieden geben. Frieden ist nur mit Kompromissen möglich, und dazu ist die Rechte nicht bereit. Eine Einheitsregierung würde den Prozess lähmen.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL

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