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Friedensgutachten 2009: Es gibt Alternativen

Von Margret Johannsen *


Schwerpunkt Kriegsbeendigung

Der Schwerpunkt des Friedensgutachtens 2009 ist der Frage gewidmet, wie sich Kriege beenden lassen. In Fallstudien zu beendeten und nichtbeendeten Gewaltkonflikten im Nahen und Mittleren Osten (Afghanistan, Irak, Palästina), Europa (Westbalkan, Georgien) und Afrika (Sudan, Kongo) unternimmt das diesjährige Jahrbuch der fünf Institute für Friedens- und Konfliktforschung in der Bundesrepublik den Versuch, aus dem Charakter der gegenwärtigen Kriege Strategien abzuleiten, wie ihnen ein Ende zu setzen sei. Militärisch, so lautet die Hypothese, sei die Mehrzahl der gegenwärtigen Kriege nicht zu gewinnen. Denn ihnen liegen im Kern widerstreitende politische Ordnungsvorstellungen zugrunde. Diese lassen sich nur mit Unterstützung der Bevölkerung durchsetzen. Deren Loyalität bestimmt den Ausgang des Krieges, nicht militärische Entscheidungsschlachten.

Fallbeispiel Palästina-Konflikt

Dass auch der Konflikt um Palästina nicht militärisch lösbar ist, stellt keine neue Erkenntnis dar. Mehrere Kriege, die in verhandelte Waffenstillstände oder einseitig erklärte Waffenruhen mündeten, aber nicht zu Frieden führten, legen davon Zeugnis ab. Der jüngste Gewaltausbruch, in dem sich die Spannungen des Jahrhundertkonflikts entluden, ist der dreiwöchige Gaza-Krieg um die Jahreswende 2008/2009. Wie in der Mehrzahl der akuten Gewaltkonflikte weltweit war auch dieser Krieg durch den Mix von staatlicher und substaatlicher Kriegführung bestimmt, der keine Entscheidungsschlachten kennt.

Dass beide Seiten nach der Feuereinstellung den Sieg für sich reklamierten, nährt nicht gerade die Hoffnung, dass nach dem Gaza-Krieg die Chancen gestiegen sind, den Grundkonflikt dauerhaft zu beenden, im Gegenteil: Der Krieg hat die Bedingungen für eine Regelung des Grundkonflikts nicht verbessert, sondern verschlechtert, weil er die Kräfte gestärkt hat, die als Gegner eines Verhandlungsfriedens gelten oder Gewalt zur Durchsetzung von Interessen favorisieren.

Die Wiederkehr des ewig Gleichen

Dieser Befund des Textes "Der Gaza-Krieg: Jüngstes Kapitel in einem endlosen Konflikt" dürfte die meisten Leser nicht überraschen. Nicht nur bei Palästinensern und Israelis hat sich längst Resignation breit gemacht, auch beim europäischen Publikum ist die Ansicht weit verbreitet, dass dieser Konflikt unlösbar sei. Wie ist diese Einschätzung zu bewerten? Die Dauer des Konflikts scheint den Skeptikern Recht zu geben. Der Gaza-Krieg war die vorerst letzte große Gewalteruption in dem jahrzehntealten jüdisch-arabischen Konflikt um das Territorium zwischen Jordan und Mittelmeerküste, dessen Anfänge bis in das späte 19. Jahrhundert zurückreichen. Sein Gewaltpotenzial bricht sich immer wieder Bahn, als läge dies in der Natur der Sache.

Wäre dies so, ließe sich zur Tagesordnung übergehen. Aber um natürliche Prozesse in der Art von Vulkanausbrüchen oder Tsunamis handelt es sich bei den wiederkehrenden Gewalteskalationen nicht, sondern um politisch erzeugte Katastrophen, die darum prinzipiell politischen Interventionen zugänglich sind. Auch gehört dieser Gewaltkonflikt nicht zu den sogenannten vergessenen Kriegen. Er spielt sich vor unserer Haustür ab. Er macht immer wieder Schlagzeilen. Die Staatengemeinschaft engagiert sich, die UNO befasst sich, die Opfer werden penibel gezählt, z.B. findet man in den Statistiken seit Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst 2000 keine summarischen Angaben über Tausende von Toten. Es scheint, als zähle hier noch ein einzelnes Menschenleben.

Doch daraus erwächst keine tragfähige Lösung. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall: Liegt vielleicht gerade in der Bedeutung, die diesem Konflikt und den Konfliktparteien auf den Parketts der internationalen Diplomatie zugewiesen wird, eine Ursache dafür, dass er kein Ende findet? Immer wieder haben externe Akteure in den Konflikt interveniert, aber nie haben sie in hinreichendem Maße das politische Kapital aufgebracht, dessen es bedurft hätte, um ein Ende des Konflikts herbeizuführen.

Die Schwäche des Stärkeren und die Stärke des Schwachen

Seit Jahrzehnten oszilliert das Engagement äußerer Mächte und internationaler Organisationen im Palästinakonflikt zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite erhalten die Konfliktparteien so viel Unterstützung, dass sie ihre Existenz behaupten können. Auf der anderen Seite werden sie trotz ständiger Einmischung von außen, die aber keine Konfliktregelung bewerkstelligt, letztlich der destruktiven Dynamik des Konflikts überlassen. Gleichwohl hat die Staatengemeinschaft wesentlich dazu beigetragen, dass der Konflikt nicht nach dem Recht des Stärkeren entschieden wurde. Für beide Seiten war der bisher zu entrichtende Preis für den jahrzehntelangen Konflikt tragbar. Israel musste die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Palästinensern nicht gewinnen, um sich seiner staatlichen Existenz sicher zu sein. Doch die Demonstrationen seiner Machtfülle stehen in krassem Gegensatz zu der Unfähigkeit des jüdischen Staates, die Palästinenser zur Aufgabe ihres nationalen Projekts zu zwingen. Diese Unfähigkeit ist nicht militärisch zu erklären, sie hat ihre Ursache in der Selbstdefinition Israels als Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft. Unter diesen Umständen konnten die Palästinenser die gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht verlieren. Mit internationaler Unterstützung konnten sie ihre Katastrophen überleben und sich die Chance bewahren, zwischen verschiedenen Wegen im Konfliktaustrag zu entscheiden. Zur Wahl stehen derzeit zwei Befreiungsbewegungen: Fatah, die trotz ihres Gewaltverzichts das palästinensische Ziel nationaler Selbstbestimmung verfehlt hat, und Hamas, die sich die Gewaltoption für den Fall vorbehält, dass Verhandlungen nicht zum Ziel führen.

Politische Marginalisierung der Europäer beenden

Muss man die Schlussfolgerungen teilen, zu denen die Autorin gelangt? Sie kann niemanden entdecken, der in der Lage und willens wäre, eine Beilegung des Konflikt zu erzwingen, und sie prognostiziert, dass die Symbolkraft des Palästina-Konflikts ein Energiespender für andere Konflikte im Vorderen Orient bzw. transnationale Risiken und Bedrohungen bis hin zum home-grown terrorism bleiben wird.

Gibt es Alternativen? Im Friedensgutachten wird seit langem eine aktivere Politik der EU und der Bundesrepublik im Nahostkonflikt angemahnt. Wenn der Westen den nächsten Krieg verhindern und die Zweistaatenlösung retten will, darf er sich nicht auf Appelle und Mahnungen beschränken, sondern sollte eine für beide Seiten zumutbare Lösung mit einer entschlossenen Politik von konditionierten Anreizen gepaart mit Druck durchzusetzen versuchen. Gewiss benötigt Israel, wenn es die Blockade des Gazastreifens beenden soll, die Gewähr, dass die Paramilitärs offene Grenzen nicht zur Wiederaufrüstung nutzen. Allerdings setzt dies voraus, dass die Palästinenser ihre Spaltung überwinden, zu der die Boykottpolitik des Westens gegenüber der Hamas nicht unwesentlich beigetragen hat, und es einer Regierung der nationalen Einheit gelingt, das vor-staatliche Gewaltmonopol im gesamten palästinensischen Autonomiegebiet zu etablieren.

Die Palästinenser, gerade auch die Kräfte, die sich bisher die Option des bewaffneten Kampfs gegen die Besatzung offenhalten, benötigen Unterstützung bei der Transformation von Befreiungsbewegungen in politische Parteien. Ohne Powersharing wird das allerdings nicht funktionieren. Das Friedensgutachten 2009 plädiert darum für ein klares Signal an die Palästinenser, dass eine Regierung der nationalen Einheit anerkannt und unterstützt würde, wenn sie auf Gewalt gegen Israel verzichtet, bestehende Abkommen respektiert und sich eine Zweistaatenlösung im Sinne der von der Arabischen Liga 2002 vorgebrachten Friedensinitiative zu eigen macht. Darin läge ein starker Anreiz für die verfeindeten Fraktionen, ihre Rivalität mit zivilen Mitteln auszutragen. Unter diesen Umständen besteht auch die Chance, dass die militante palästinensische Opposition die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen einstellt, die sich materiell zwar gegen Israel richten, politisch aber auf den palästinensischen Präsidenten Abbas zielen, um ihn zu schwächen und ihm etwaige Erfolge in den Verhandlungen mit Israel zu verwehren, solange die innerpalästinensische Spaltung fortbesteht. Wenn es den Palästinensern gelingt, sie zu überwinden, sollte der Westen Arrangements der Machtteilung fördern, einschließlich einer Integration der Hamas-Milizen in den Sicherheitsapparat der Autonomiebehörde.

Gegenüber Israel scheinen andere Mittel geboten, damit es die anhaltende Unterminierung der Zweistaatenlösung durch den Siedlungsbau in der Westbank aufgibt und die dortigen Abriegelungen mit ihren verheerenden Folgen für die palästinensische Wirtschaft aufhebt. Eine Vertiefung der Beziehungen im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik darf Israel nur erwarten, wenn es den Siedlungs- und Mauerbau in der Westbank - beide völkerrechtswidrig - stoppt und die auch nach israelischem Recht illegalen Siedlungsvorposten auflöst. Ob die gegenwärtige rechtsnationale Regierung dazu bereit ist, d.h. den Partner abgeben will, den die Palästinenser für ein verhandeltes Ende des Konflikts benötigen, ist allerdings alles andere als sicher. Aber was spricht dagegen, die Probe aufs Exempel zu machen?

* Dr. Margret Johannsen ist Politikwissenschaftlerin und Nahost-Expertin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg, Mit-Herausgeberin des Friedensgutachtens 2009


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 4, Juli 2009; S. 4-5

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