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"Keine Wahl"

Tahat Ben Jelloun: "Arabischer Frühling"

Von Roland Etzel *

Allah ist groß – was zählt da das Wort eines Schriftstellers? Ist es wirklich dessen Berufung, den Helden wie den Schurken der arabischen Revolutionen noch während ihres aktuellen Werkelns am Lauf der Geschichte seine Meinung zuzumuten? Sind Schriftsteller mehr als die Rufer in der Wüste, gar nur die bellenden Hunde, während die Karawane weiterzieht? In frühzeitiger Wortmeldung lauert Gefahr. Der »Falsche« könnte geschichtlich obsiegen, und die Revolution, die man für erfolgreich und abgeschlossen pries, wird vielleicht beides nicht sein ...

Wenn sich Intellektuelle heute zum politischen Tagesgeschehen äußern, tun sie das nicht selten, um jenes Gehör zu erlangen, das ihnen mit ihrer künstlerischen Leistung versagt blieb. So kennen wir Schriftsteller, denen wir wohl eine politische Ecke, aber kein Buch zuordnen können. Ihr Arbeitsplatz ist denn auch weniger der Schreib(Computer)-Tisch, als vielmehr der Sender, aus dem sie uns ungefragt ihre Meinung zurufen. Man muss ihre Namen nicht nennen; jeder kennt sie, verkörpern sie doch ein gutes Viertel des allabendlichen Fernsehtalkshow-Personals, das drängende Probleme mit fragwürdiger Aufdringlichkeit zielsicher fehlinterpretiert.

Tahar Ben Jelloun, der Marokkaner aus Paris, zählt nicht zu dieser Charge und ist deshalb des Bemerkens wert. »Arabischer Frühling« heißt das offenbar seit den ersten Jahreswochen immer wieder aktuell ergänzte Bändchen, in dem er niederschreibt, was ihn bewegt: in Betrachtungen, Anekdoten und – ja doch – sehr direkten politischen Urteilen. Die Kapitel sind 20 Zeilen oder 20 Seiten lang, die Formen variieren. Dem Leser wird Verständnis leicht gemacht.

Trotzdem hat Jelloun wohl das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Er erklärt in einem ARD-Interview, er habe nicht länger warten können: »Ich hatte keine Wahl. Ich kann ja nicht wegschauen und Desinteresse heucheln. Ich bin zwar Romanautor, aber ein Schriftsteller ist für mich in erster Linie Zeuge seiner Zeit; jemand, der Ereignisse einordnet und Missstände aufzeigt. Ich glaube fest daran, dass die Literatur eine große Rolle dabei spielt, Bewusstsein zu schaffen.«

Er möchte da nicht nachstehen, das wird nach der Lektüre seines Buches klar. Und da, wo er Zeitgeschehen literarisch anspricht, wie in der Geschichte von Mohammed, dem arbeitslosen Akademiker aus Tunesien, dessen Leben und Sterben den Aufstand in seinem Land auslöste, ist ihm das beeindruckend gelungen.

Gerade deshalb und auch weil er als gefragter Publizist die Nachhaltigkeit von Augenblickseinschätzungen aus berufenem Munde kennen sollte, erstaunen manch andere Urteile, die er fällt.

Ein sehr traditioneller Muslim ist Jelloun vermutlich nicht. Seine Abneigung der »Religion« gegenüber wird mehrfach deutlich, ob er das auf alle Religionen bezieht, leider nicht. Besonders die Muslim-Brüder sind ihm suspekt. Obwohl weder sie noch andere autochthone islamische Gruppen in Tunesien und Ägypten nach den Umstürzen durch irgendwelche Machtgelüste aufgefallen sind, unterstellt er sie ihnen. Jelloun zitiert – offenbar zustimmend – ausgerechnet den britischen Professor Chalil Enani (Durham), der schrieb: »Bisher hat sie (die Muslimbruderschaft in Ägypten) auf Grund der Verfolgung durch das Regime aufblühen können. Wenn ihre Anhänger keine Märtyrer mehr sind, verliert sie an Anziehungskraft.« Angesichts der Tatsache, daß Tausende Muslimbrüder in Ägypten oftmals ohne Prozess eingekerkert und viele ihrer Führer gehenkt wurden, ist die Wiedererlangung der arabischen Würde, von der Jelloun im Titel spricht, auf diesem Feld wohl noch nicht beendet.

So wie Jelloun für jene ägyptischen Muslime keinerlei brüderlich Gefühle aufzubringen vermag, ist für ihn auch der libysche Revolutionsführer Gaddafi kein grünes, sondern ein rotes Tuch. Muammar al-Gaddafis Libyen ist für ihn ein »absurdes Wolkenkuckucksheim«, der Oberst selbst »eine Art intelligenterer und perverserer Saddam Hussein«, der sein Volk »unter einer bleiernen Glocke« hält, Aufstandsversuche, die »es vielleicht gab«, »in Blut und Schweigen« erstickte, Massaker »völlig ungestraft und selbstherrlich« verübte ...

Man hätte sich hier über eine sprachliche Finesse des Wortgewandten gefreut, selbst ein negatives, aber immerhin abgewogenes Urteil erwartet – aber so etwas? Zwar erklärlich, dass Jelloun den Libyer verachtet. Schließlich hatte der von seinem Freund König Hassan II. in den 70er Jahren einmal die Strafverfolgung Jellouns in Marokko verlangt. Dass es in Libyen vor allem in den 70er/80er Jahren gerade durch Gaddafi mehr gab als eine endlose Kette von Verbrechen – dies zu konzedieren ist gerade einem, vielleicht dem führenden Kopf der schreibenden Gilde des Maghreb, wohl zuzumuten.

Aber Jelloun gab sich der blutunterlaufenen Lexik aus dem Arsenal von George Bush jun., den er ansonsten von Herzen verachtet, so restlos hin, dass ihm die eigentlich kriegsstiftende UN-Sicherheitsratsresolution 1973 zur Bombardierung von Gaddafis Libyen nicht reichte. Sein Buch trägt den Untertitel »Vom Wiedererlangen der arabischen Würde«, aber ausgerechnet hier teilt er uns sein Bedauern mit, dass erwähnte Resolution »nicht alle Probleme (wird) lösen können, weil die USA nicht noch in einem dritten arabischen Land direkt ›eingreifen‹ wollen«.

Auch den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad sortiert Jelloun in die Kategorie »arabische Ekel« ein. Das ist nicht sonderlich originell, wäre aber hinnehmbar, pflegte er diesen Rigorismus auch bei anderen arabischen Herrschern, nicht zuletzt bei seinem verblichenen marokkanischen König Hassan II. Doch das tut er nicht, zumindest nicht in adäquatem Maße.

Die Okkupation der Westsahara durch Marokko gegen den Willen der dortigen Bevölkerung als friedliche Beendigung der spanischen Kolonialherrschaft zu bezeichnen, wie Jelloun es tut, kann allenfalls als Kotau gegenüber dem Länd seiner Vorfahren verstanden werden. Aber warum? Eigentlich denkt Jelloun längst europäisch, genauer gesagt westeuropäisch. Sein Interview kürzlich in der Hamburger »Zeit« trägt die Überschrift »Fürchtet euch nicht!« Der Erzengel-Ruf gilt aber nicht den Arabern, sondern den Europäern und US-Amerikanern. Sie sollten doch keine Angst vor Revolutionen in Arabien haben und vor Rachegefühlen gegenüber dem Westen. Warum eigentlich? Grund genug hätte dort so mancher.

Das neue Gefühl der Würde in den arabischen Ländern habe, so der Autor, nichts mit antiwestlichen Ressentiments zu tun. Wie das aber mit seinem Bedauern über den Nichteinmarsch der USA in Libyen korrespondiert, diese Antwort bleibt Jelloun schuldig.

Tahar Ben Jelloun. Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen Würde. Berlin Verlag: Berlin 2011, 127 S., brosch.., 10,30 Euro; ISBN-13: 9783827010483

* Aus: Neues Deutschland, 25. Mai 2011


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