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Ein israelischer Blick auf den arabischen Frühling: "Ein langer arabischer Winter"

Ein Beitrag von Moshe Arens, ehem. Außenminister und ehem. Verteidigungsminister des Staates Israel


Die Haltung der konservativen und rechten israelischen Politiker/innen gegenüber den Revolten im arabischen Raum sind von Skepsis bis glatter Ablehnung gekennzeichnet. Unter dem Gesichtspunkt der "Stabilität" im Nahen Osten und der - vermeintlichen - Sicherheit Israels stellt der Umbruch in Nordafrika eine schwer zu kalkulierende Bedrohung für die israelische Suprematie dar. Da war der Umgang mit den verlässlichen Partnern à la Mubarak allemal angenehmer.
Der prominente israelische Politiker Moshe Arens von der Likud Partei legt im folgenden Beitrag die Gründe dar, warum den neuen Führern der arabischen Welt nicht über den Weg zu trauen ist. Dass er dabei auch die Unterscheidung zwischen "gemäßigten" und "radikalen" Islamisten nicht gelten lässt, unterscheidet ihn zumindest vom deutschen Auswärtigen Amt (siehe hierzu: "Wir sollten unsere diplomatischen Vertretungen auffordern, Kontakte mit gemäßigten islamistischen Parteien zu intensivieren"), das diesbezüglich sich noch einen Rest Realitätssinn und Politikfähigkeit bewahrt hat.
Wir dokumentieren im Folgenden den aufschlussreichen Beitrag im vollen Wortlaut.


Ein langer arabischer Winter

Von Moshe Arens *

Der Arab Human Development Report" des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen hat 2002 „tief verwurzelte Missstände“ in arabischen Ländern festgestellt. Mit anderen Worten, die arabischen Gesellschaften sind krank. Diese Krankheit spiegelt sich, so der Bericht, in dem Mangel an „Respekt für Menschenrechte und Freiheiten“, dem Status der arabischen Frauen und dem mangelhaften Stand der „Aneignung von Wissen und seiner effektiven Nutzung“ wider.

Der "Arab Human Development Report" von 2003 erklärte: „Echte Demokratie existiert nicht und wird dringend benötigt. Das Bildungssystem ist ernsthaft zurückgeblieben: Schulen produzieren ignorante junge Männer und Frauen. Viele arabische Intellektuelle haben realisiert, dass, auch wenn sie es abstreiten, die meisten Feststellungen aus dem letzten "Arab Human Development Report" zutreffend sind“.

Wer also dachte, der sogenannte arabische Frühling stelle für all das eine Lösung dar, lag falsch. Es sieht so aus, als würde dem arabischen Frühling ein arabischer Winter folgen, und auf den zweiten Blick war diese Entwicklung bereits vorher ganz klar abzusehen: Die Islamisten werden das Zepter der Diktatoren übernehmen.

Zine El Abidine Ben Ali in Tunesien, Hosni Mubarak in Ägypten und Muammar Gaddafi in Libyen waren korrupte Diktatoren, und ihr Ende war lange überfällig. Sie alle haben die islamistischen Bewegungen in ihren Ländern unterdrückt und waren somit auf perverse Art und Weise auf Seiten der Säkularen. Das gleiche gilt für Bashar Assad in Syrien, dessen Vater Hafez 1982 in Hama 20.000 Menschen ermorden ließ, um einen Aufstand der Muslimbruderschaft niederzuschlagen. Sein Sohn, der kein Deut weniger skrupellos ist, scheint nun den Weg von Ben Ali, Mubarak und Gaddafi einzuschlagen.

Die Demonstrationen in Tunesien und Ägypten wurden von säkularen Gruppen initiiert, von gebildeten jungen Menschen, versiert im Umgang mit Internet, Facebook und Twitter. In Ägypten standen sie Seite an Seite mit den koptischen Christen, die zehn Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen. Logischerweise forderten sie nach der Absetzung von Mubarak demokratische Wahlen. In Libyen hat ein zusammengewürfelter Haufen gemeinsam mit der NATO den „mad dog of the Middle East“, wie Ronald Reagan ihn einst nannte, gestürzt, und es ist unvorstellbar, dass diesem Blutbad keine demokratischen Wahlen folgen werden, selbst unter den chaotischen Bedingungen, die nach Gaddafis Sturz dort herrschen.

Doch wer wird diese Wahlen in Ägypten, Libyen und vielleicht sogar Syrien gewinnen? Es gibt bereits eine Vorschau: In Tunesien, dem Land, das das säkularste und westlichste der arabischen Staaten war, hat die islamistische Partei Ennahada gewonnen, während die Verteidiger eines säkularen Tunesiens weitaus schlechter abschnitten.

Die westlichen Medien versuchen nun, gute Miene zu diesem enttäuschenden Ergebnis zu machen und bezeichnen Ennahada als „moderat islamistisch“. Doch die Fakten sind klar: Tunesien wird unter die Herrschaft der Islamisten fallen. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Ergebnisse von Wahlen in Ägypten, Libyen oder Syrien anders ausfallen werden.

Eine Welle der islamischen Herrschaft mit allem, was dies zur Folge hat, überschwemmt die arabische Welt. Sie ersetzt säkulare Diktaturen durch islamistische. Wir hätten nichts anderes erwarten sollen.

Auch demographische Aspekte spielen hier eine Rolle: Während der langjährigen Herrschaft der totalitären Regime in den arabischen Staaten ist die religiöse Bevölkerungsschicht viel schneller gewachsen als die säkulare. Mittlerweile sind verschleierte Frauen in der Überzahl gegenüber denjenigen, die willens sind, ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen – und das in einem Ausmaß, dass man nicht mehr die Auszählung der Stimmzettel abwarten muss. Die Wahlergebnisse in den arabischen Ländern sind klar, bevor die Stimmen abgegeben wurden.

Beobachter könnten sich selbst zum Narren halten und daran glauben, dass die islamistischen Parteien „moderat islamisch“ oder „gemäßigte Islamisten“ seien, doch ihre Führer sind weder moderat noch gemäßigt.

Es ist klar, dass die grundlegenden Missstände, die im "Arab Human Development Report" der Vereinten Nationen beschrieben werden, unter der Herrschaft der islamistischen Parteien nicht verbessert werden. Die Umstände werden sich eher noch weiter verschlechtern und das Gesetz der Scharia, mit allem was dazu gehört, wird sich durchsetzen.

Der Sturz der arabischen Diktatoren war unvermeidlich. Doch leider ist ebenso unvermeidlich, was ihrem Sturz folgen wird: Es sieht so aus, als stünde uns ein langer arabischer Winter bevor.

* Der Autor ist Mitglied des Likud, ehemaliger Außenminister und ehemaliger Verteidigungsminister des Staates Israel.
Quelle: Dieser Artikel erschien in der israelischen Zeitung Haaretz vom 22. November 2011. Die deutsche Übersetzung entnahmen wir dem Newsletter der israelischen Botschaft in Berlin, 23.11.2011.



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