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Irak ist kein Leuchtfeuer

Dritter Arabischer Bericht über die menschliche Entwicklung: Aufruf zu Reformen

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview anlässlich der Herausgabe des Arabischen Berichts über die menschliche Entwicklung. Interviewpartnerion des "Neuen Deutschland" ist Sonja Hegasy. Sie hat Islam- und Politikwissenschaft in Kairo, Witten/ Herdecke und New York studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Mitglied der Institutsleitung am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Das Interview führte für das ND Martin Ling.



ND: Der dritte Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung (AHDR) sollte bereits im Oktober 2004 veröffentlicht werden. Wie kam es zu der Verzögerung?

Hegasy: Hinter den Kulissen war zu hören, dass die USA seit Oktober versucht haben, bestimmte kritische Positionen gegenüber der US-amerikanischen Nahost-Politik rausstreichen zu lassen. Und anscheinend hat es dann eine sehr lange Auseinandersetzung gegeben, bis heute dieser Bericht doch veröffentlicht wurde und meines Erachtens auch in seiner Originalfassung.

Welche Resonanz hatten denn die ersten beiden Berichte über die menschliche Entwicklung in der Arabischen Welt?

Die wurden insbesondere von den USA sehr positiv aufgenommen, obwohl es auch damals schon Kritik an der Nahost-Politik der USA gab. Aber die USA waren froh, dass es sozusagen aus der Region Kronzeugen gab, die bestimmte Entwicklungsdefizite unumwunden ansprachen und Reformen einforderten. Von Seite der arabischen Regierungen sind diese Berichte eher mit Unwillen aufgenommen worden, eben weil die Kritik eine sehr große Legitimität hatte, kam sie doch von einheimischen Wissenschaftlern und nicht von außen.

Wie lauteten die zentralen Kritikpunkte?

Beklagt wurden vor allem ein riesiges Demokratiedefizit und die mangelnde Gleichberechtigung der Frauen sowie der geringe Stellenwert des Bildungssektors und die mangelnden politischen Freiheiten.

Haben die Berichte den zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Arabischen Welt genützt?

Ja, das sieht sehr danach aus. Zum einen nimmt der dritte Bericht die »Erklärung von Sana’a« auf, die auf der zivilgesellschaftlichen Regionalkonferenz über Demokratie, Menschenrechte und die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofes entstand, sowie die »Erklärung von Alexandria«, die ebenfalls Ergebnis einer zivilgesellschaftlichen Konferenz war und auf politische Reformen drängt. Auf diesen Konferenzen haben sich Nichtregierungsorganisationen und Intellektuelle zusammengesetzt, um Visionen sowie Umsetzungsvorschläge für Reformen in der Arabischen Welt zu diskutieren. Diese Gruppen, die es de facto auch schon rund 20 Jahre in der Region gibt, haben durch die AHDR-Veröffentlichungen Aufwind bekommen.

Der Bericht beschreibt einen steigenden Demokratisierungsdruck in der arabischen Welt. Teilen Sie diese Position?

Ja. Dafür sorgt jetzt auch der externe Druck. Regierungen wie die ägyptische, die extrem von den USA abhängig sind, werden durch diesen Druck zu Zugeständnissen bewegt. Im September soll es dort zu der ersten Wahl des Staatspräsidenten mit mehreren Kandidaten kommen. Ob das ein echtes Umdenken ist, bleibt fraglich.

Was hemmt die Demokratie in der arabischen Welt am meisten, eher interne oder externe Faktoren?

Die Autoren des dritten Berichts benennen beide Bereiche. Intern monieren sie geringe Pressefreiheit, die Tatsache, dass zum Beispiel in vielen Ländern seit 15, 20 Jahren der Ausnahmezustand herrscht, dass es Sondergerichte gibt, dass es keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit gibt. Das alles wirkt sich sehr erdrückend und lähmend auf eine Gesellschaft aus. Und dann schreiben sie aber eben auch klipp und klar: »Die fortdauernde Besetzung der Palästinensergebiete durch Israel, die Besetzung des Irak unter der Führung der USA und die Eskalation des Terrorismus haben sich ungünstig auf die arabische menschliche Entwicklung ausgewirkt.«

Sie schreiben auch, dass der Status quo letztendlich nicht länger haltbar ist. Heißt das, ein Wandel in der arabischen Welt steht auf alle Fälle bevor, nur die Richtung steht noch nicht fest?

Ja. Der Reformdruck ist groß. Zum einen der ökonomische Druck – die Länder sind in den letzten 20, 30 Jahren verarmt –, der Reformen verlangt. Und zum anderen der demographische Druck. Zwei Drittel der Menschen in den arabischen Gesellschaften sind unter 30 Jahre alt. Sie wollen eine Veränderung in ihrem Leben sehen. Auf diesen Druck werden die Staatsoberhäupter, die häufig seit 20 bis 30 Jahren an der Macht sind, antworten müssen.

Könnte eine Demokratisierung in Irak als Leuchtfeuer für die Arabische Welt fungieren, wie sich das die USA erträumen?

Ich glaube das nicht. Zum einen, weil die Entwicklung der letzten zwei Jahre in Irak eher negative Auswirkungen und keine Vorbildfunktion hat. Schließlich ist den Menschen die persönliche Sicherheit, das Recht auf körperliche Unversehrtheit wichtiger, als wählen zu dürfen. Und zum anderen finden und fanden unabhängig von der Entwicklung in Irak sehr wohl Demokratisierungsprozesse statt – in Libanon, in Ägypten oder in Marokko, auch schon vor dem Irak-Krieg und auch schon vor dem 11.September 2001. Das wird nur erst jetzt stärker wahr genommen, weil es größeres Interesse daran gibt und weil die Reformer sich durch den äußeren Druck auch stärker unterstützt fühlen.

Wie ist Ihr Szenario für die nächsten Jahre, eher optimistisch oder pessimistisch?

Ich bin eher optimistisch, weil ich die Prozesse schon seit 15 Jahren verfolge. Wenn man sich ansieht, wie sich die Vereine in Palästina, in Ägypten, in Marokko engagieren und was sie letztendlich auch schon bewegt haben, kann man durchaus optimistisch sein. Es gibt in diesen Ländern zwar kein funktionierendes Parteienleben, aber die politisch interessierten Leute gehen in Vereine. In diesen Organisationen bildet sich quasi eine Nachwuchspolitikergeneration heraus, wie sie sich hier zu Lande beispielsweise bei den Jusos oder bei der Jungen Union bildet. Ich glaube schon, dass es da wichtige Träger für die Demokratisierung gibt und dass sie auch bereitstehen.

Aus: Neues Deutschland, 6. April 2005



Arabische Berichte

Gestern wurde in der jordanischen Hauptstadt Amman der »Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung 2004« vorgelegt.
Der von einer Gruppe unabhängiger arabischer Gelehrter und Intellektueller verfasste Bericht wurde vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Zusammenarbeit mit dem Arabischen Fonds für wirtschaftliche und soziale Entwicklung und dem Programm der Länder des Arabischen Golfs für die Entwicklungsorganisationen der Vereinten Nationen gefördert.
Der Arabische Bericht über die menschliche Entwicklung 2004 (AHDR 2004) ist der dritte in einer Reihe von geplanten vier Berichten. Der erste Bericht – AHDR 2002 – befasste sich mit den bedeutendsten Herausforderungen, denen die Entwicklung in den 22 Staaten der arabischen Welt am Anfang des dritten Jahrtausends gegenüber steht. Er stellte drei wichtige Defizite in den Bereichen Wissen, Freiheit und gute Staatsführung, sowie der Ermächtigung der Frauen fest.
Das Interesse des zweiten Berichts – AHDR 2003 – galt der wachsenden Wissenskluft in der arabischen Welt und forderte, diese durch hohe Investitionen in Bildung und Forschung, Verbesserung der offenen intellektuellen Diskussion, größerer Zusammenarbeit mit anderen Nationen und Pressefreiheit zu schließen. Die Verfasser geben der Hoffnung Ausdruck, dass dieser dritte Bericht, der politische Reformbestrebungen in der gesamten Region in den vergangenen drei Jahren untersucht, »den Dialog in den arabischen Gesellschaften darüber anregen wird, wie Freiheit zunehmen und gute Regierungsführung eingeführt werden kann«.
Der vierte Bericht – AHDR 2005 – soll sich schwerpunktmäßig mit der Situation von Frauen in der arabischen Welt auseinander setzen.
UNDP/ML






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