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"Die Dinge beim Namen nennen"

Amira Hass über ihr neues Buch und über die aktuelle Situation im Nahen Osten

Amira Hass, Tochter osteuropäischer Holocaust-Überlebender, ist Korrespondentin der israelischen Zeitung Ha'aretz. Sie lebt seit vier Jahren als erste und einzige israelische Journalistin im Gazastreifen und im Westjordanland, derzeit in Ramallah.
Im Frühjahr 2003 hat sie ein Buch herausgebracht, in dem sie ihre Eindrücke aus dem besetzten Land, dem Gazastreifen, schildert.

Amira Hass: "Gaza". Tage und Nächte in einem besetzten Land
C. H. Beck Verlag, München 2003, (ISBN 3406502032), Gebunden 410 Seiten; 24,90 EUR
(Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser)

Im Klappentext zu dem Buch heißt es:
"Amira Hass ist die einzige unter den israelischen Reportern, die ihren Alltag mit den Palästinensern teilt. Als Israelin freiwillig unter Palästinensern zu leben, gilt nicht wenigen ihrer Landsleute als Kollaboration mit dem Feind, wie ihr andererseits viele Palästinenser mit tiefem Misstrauen begegnen. Doch ist es gerade diese Existenz als Grenzgängerin zwischen den Fronten, die ihr dieses Buch ermöglicht hat. Amira Hass verleiht dem gewöhnlichen palästinensischen Leben ein Gesicht. Hier erfährt man, was es bedeutet, als Taxifahrer oder Arzt, als Bauer oder Hausfrau in den besetzten Gebieten zu leben. Hass dokumentiert den palästinensischen Alltag ebenso genau wie das Mit- und Gegeneinander palästinensischer Organisationen. Sie beschreibt die ohnmächtige Wut auf die israelischen Besatzer ebenso wie die Selbstherrlichkeit des autoritären Regimes Yassir Arafats."


Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview mit Amira Hass, das am 20. September 2003 im "Neuen Deutschland" erschien. Lennart Lehmann sprach mit ihr.


"Die Dinge beim Namen nennen"
Amira Hass präsentierte ihr Buch über Gaza


ND: Wie kam es, dass Sie nach Gaza zogen, um von dort zu berichten?

Amira Hass: Die Tageszeitung »Haaretz« machte mir 1991 den Vorschlag, den Wandel in den palästinensischen Gebieten nach Oslo zu dokumentieren. In meinem Buch beschreibe ich die Situation im Gaza-Streifen zwischen 1991 und 1996. Doch das Buch ist immer noch relevant, weil es viele Gefühle beschreibt, die im Zuge der Oslo-Frustration zur zweiten Intifada führten.

Was meinen Sie mit Oslo-Frustration?

Für die Palästinenser war es kein Friedensprozess, sondern eine indirekte, neue Besatzung unter Umgehung militärischer Mittel, nämlich durch systematische Abriegelung ihrer Gebiete. Die offene Besatzung wurde ersetzt durch ökonomische Kontrolle der Autonomiegebiete und Einschränkung der Bewegungsfreiheit ihrer Bewohner. Das begann 1991 und hatte nichts mit den Selbstmordattentaten, sondern mit den Siedlungen zu tun. Die Palästinensische Autonomiebehörde brach dann die Gespräche mit Israel wegen der Fortführung der Siedlungspolitik ab. Und alle Regierungen Israels seit 1991 – egal ob rechts oder links – haben eine bestimmte Linie durchgehalten, die nicht zu zwei Staaten führte, sondern zu demographischer Separation, also Apartheid.

Wie wird der Friedensprozess derzeit in der Region gesehen?

»Friedensprozess« wird als eine leere Worthülse empfunden, weil es keinen Prozess gibt und keine Gerechtigkeit geschaffen wird. Ferner ist das Verständnis von Frieden unterschiedlich. Die Palästinenser können sich keinen Frieden ohne echte Unabhängigkeit vorstellen, sie wollen nicht in einem Protektorat leben. Sie sind mit einer Zwei-Staaten-Lösung einverstanden. Aber wie sollen sie ihr Land frei nennen, wenn kein Palästinenser weiter als drei Kilometer gehen kann, ohne vor einem israelischen Panzer zu stehen? Israelis wiederum haben das Gefühl, sich im Wortlaut an Oslo gehalten zu haben. Die Siedlungen sind damals nicht richtig besprochen worden. Seitdem denkt Israel, dass Frieden mit Siedlungen möglich ist und die Palästinenser sich mit ihnen arrangieren müssen. Die Intifada brach aber wegen der Siedlungen aus. Israelis denken dagegen, dass die Palästinenser gegen Juden kämpfen, weil sie Juden sind; dass die Selbstmordattentate Chaos schaffen sollen, um Israel zu schaden.

Gab es Schwierigkeiten, als Sie das erste Mal nach Gaza kamen?

Nein, es war sehr leicht. Ich schloss zu Beginn Kontakt zu Menschenrechtsorganisationen und anderen Journalisten. Ich habe mich immer sofort als Jüdin geoutet, aber es gab nie Probleme. Viele arabischen Männer konnten Hebräisch, weil sie in Israel arbeiteten. Ich sprach damals noch kein Arabisch. Diese Palästinenser kannten auch Leute in Israel, wussten zwischen ihnen zu differenzieren und vertraten keine stereotypen Ansichten. Heute wäre es nicht mehr so einfach. Mit der Abriegelung seit 1991 ist auch der Kontakt und die Fähigkeit zur Differenzierung verloren gegangen.

Sie kritisieren beide Seiten – wie gehen Sie emotional mit der Situation um?

Mich überkommen spontane Sympathien und situationsbedingte Aggressionen gegenüber Palästinensern wie Israelis. Mir tut z.B. der einsame israelische Soldat leid, der einen Posten in Palästinensergebieten bewacht, und ich sehe die Angst in seinen Augen. Ich hasse die palästinensischen Waffennarren, die selbstgerecht durch die Straßen patrouillieren. Ich habe Freunde in Gaza und in Israel. Man muss unterscheiden zwischen den Ad-hoc-Situationen und dem großen Rahmen, in den ich hineingehöre.

Sie sind von beiden Seiten angefeindet worden. Warum?

Es gefiel bestimmten Personen in Israel nicht, wenn ich über Gräueltaten der israelischen Armee berichtete, wie die Erschießung von Kindern. Umgekehrt mochten es gewisse Kreise in Gaza nicht, wenn ich über Hinrichtungen von angeblichen Kollaborateuren durch palästinensische Milizen auf offener Straße schrieb.

Was war Ihre erfreulichste, was ihre schlimmste Erfahrung in dieser Zeit?

Im April 1995 sollte ich Gaza verlassen. Arafat hatte im Februar einen Sicherheitsrat geschaffen, um Hamas unter Druck zu setzen. Es kam zu vielen Verhaftungen. Die Leute wurden unter fadenscheinigen Gründen festgenommen und oft ohne Urteil ins Gefängnis gesteckt, manche Verfahren dauerten nur 20 Minuten, es gab keine Verteidiger. Ich schrieb darüber und wurde daraufhin dem palästinensischen Geheimdienst vorgeführt und aufgefordert, das Land innerhalb von drei Stunden zu verlassen. Es sei wegen meiner Sicherheit, sagte mir der Geheimdienstler, sonst könnte mir oder meinem Auto etwas zustoßen. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Spionagefilm. Ich wandte mich an Bekannte bei Fatah und Volksfront (PFLP), weil ich wusste, dass der Geheimdienstoffizier ein Volksfront-Mann war. Später wurde die Order aufgehoben. Es gab also Leute, die ihre Position riskierten, um mir zu helfen. Das war ein Erlebnis, das Angst machte, und gleichzeitig ein schönes. Ein anderes Mal sagte mir ein Hamas-Aktivist: »Das beste, was du für Gaza tun kannst, ist ein Buch zu schreiben.« Schlimm war auch, nicht gelesen zu werden. Nur zwei Kollegen aus Israel meldeten sich in der ganzen Zeit und äußerten sich überrascht: »Wenn man dich liest, dann muss man ja denken, die Besatzung geht weiter.«

Wie wird sich die Situation weiterentwickeln?

Ich bin Journalistin. Ich berichte über das, was passiert ist, aber nicht über das, was morgen passieren könnte. Die Gesellschaft muss sich verändern. Die Besatzung ist kontraproduktiv für die Sicherheit – und eine politische Lösung muss an ein Ende der Besatzung gekoppelt sein. Es handelt sich um Besatzung, auch wenn Scharon das nicht so nennen will. Wenn die Terminologie aber irreführend ist und Dinge nicht beim Namen genannt werden, kann es keine Lösung geben.

Aus:Neues Deutschland, 20.09.03


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