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"Das Volk hat die Nase voll von diesem Friedensprozess"

Ein Interview mit Marwan Barghouti, Führer der PLO-Mehrheitsfraktion Fatah

Einen Tag nach dem Interview mit dem israelischen Botschafter in Deutschland, Mordechay Lewy, brachte die Frankfurter Rundschau ein Gespräch mit einem wichtigen Repräsentanten der "Gegenseite", Marwan Barghouti. Barghouti gilt als zweitstärkster Mann in der PLO hinter Arafat und wird als dessen Nachfolger gehandelt.

Barghouti stellt die neuerliche Intifada als Reaktion auf die Provokation durch Ariel Sharon auf dem Tempelberg am 28. September 2000 dar. Er bestreitet eine zentrale Anleitung der Unruhen durch die Fatah, äußert aber Verständnis für die Aktionen der zumeist jugendlichen Palästinenser. Sicher hat er auch Recht darin, dass der Widerstand in den besetzten Gebieten solange weiter gehen wird, bis nicht eine für die Palästinenser akzeptable Lösung gefunden ist. Nur die Formen des Widerstands ändern sich von Zeit zu Zeit. Wir dokumentieren das Interview im vollen Wortlaut:


An der Eingangstür zum Büro der Fatah, der PLO-Mehrheitsfraktion, hält ein junger Palästinenser, das Gewehr im Schoß, Wache. Reine Vorsichtsmaßnahme, heißt es. Schließlich gilt der Chef, Marwan Barghouti, in Israel als Drahtzieher der nunmehr dreiwöchigen Unruhen. Mit ihm sprach FR-Korrespondentin Inge Günther.

Frankfurter Rundschau: PLO-Chef Yassir Arafat hat in Scharm-el-Scheich einer Abmachung über Gewaltverzicht zugestimmt. Sie haben erklärt, das palästinensische Volk werde seinen Kampf um Unabhängigkeit trotzdem fortsetzen. Stehen Sie überhaupt noch hinter Arafat?

Marwan Barghouti: Natürlich, absolut. Das palästinensische Volk hat entschieden, dass Arafat unser Führer ist und unser Präsident. Er hat unsere volle Unterstützung.

Aber Sie sind der Anführer der Intifada.

Stimmt nicht. Ariel Scharon und Ehud Barak sind die Antreiber. Sie sind der Grund für die Intifada. Wer schließlich hat Scharon erlaubt, die Al-Aksa-Moschee zu betreten? Das war Israels Premier Barak. Wir haben nur reagiert, die Proteste organisiert und vorangetrieben. Das ist mein Job. Aber ohne mich gäbe es genauso gut eine Intifada. Solange die Besatzung existiert, wird es Widerstand dagegen geben.

Denken Sie tatsächlich, dass die Intifada mehr erreichen kann als Verhandlungen?

Das Volk hat die Nase gestrichen voll von diesem Friedensprozess. Die Leute sind für die Intifada, weil sie sich nicht länger akzeptieren, eine Art Geisel am Verhandlungstisch zu sein. Weil sie es nicht mehr ertragen, die Israelis ständig anzuflehen, die Abkommen umzusetzen. Schluss mit Bitten und Betteln.

Halten Sie es für effektiver, mit gewaltsamen Protesten den Ausbau von Siedlungen zu stoppen?

Wir sprechen von einer friedlichen Intifada. Wir gebrauchen keine Waffen. Oder denken Sie etwa, dass unsere Steine mit den israelischen Raketen gleichzusetzen sind?

Aber die Tansim, die Kämpfer der Fatah, besitzen Kalaschnikows und haben in den letzten drei Wochen oft genug Gebrauch davon gemacht.

Nur individuell, nicht im Auftrag der Organisation. So etwas lässt sich nicht leicht kontrollieren. Auch hat niemand Anweisung erhalten, das zu tun.

Die Intifada hat einen grausamen Preis, über hundert Tote und tausende Verletzte.

Glauben Sie etwa, solche Opfer fallen uns leicht? Und trotzdem ziehen die Leute wieder und wieder los, um die israelischen Soldaten an den Checkpoints zu konfrontieren. Selbst mein 15-jähriger Sohn ist nicht aufzuhalten.

Hätten Sie lieber, er bliebe zu Hause?

Mir ist es nicht geglückt, ihn davon zu überzeugen, auch nicht, als der Sohn meines Bruders vor wenigen Tagen bei den Demonstrationen schwer verletzt wurde. Eine israelische Kugel traf ihn im Bauch.

Haben die politischen palästinensischen Gruppierungen dank der neuen Intifada jetzt einen gemeinsamen Nenner?

Es gibt Unterschiede, aber in diesen Tagen sind wir vereint. Fatah und die nationalen islamischen Kräfte werden die friedliche Intifada fortsetzen.

Fürchten Sie nicht, dass Israel es jetzt auf Sie persönlich abgesehen haben könnte? Fühlen Sie sich bedroht?

Mag sein, in den israelischen Medien gibt es eine Menge Hetzerei gegen mich.

Haben Sie besondere Schutzmaßnahmen getroffen?

Ich habe keine Angst. Oder sehen Sie hier viele Bodyguards um mich herum? Ein Anschlag auf mich würde zusätzlich tausende Palästinenser aufbringen. Kein geeigneter Weg, um Frieden zu erreichen. Ich denke auch nicht, dass mein Leben wertvoller als das all der Kinder und jungen Menschen ist, die erschossen worden sind.
Aus: Frankfurter Rundschau, 21.10.2000

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