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Nicht den Krieg, sondern dessen Ende denken

Interview mit Dr. Arne Seifert über gefährliche Anti-Terror-Strategien und einen notwendigen Friedensentwurf

Mit den neuen Anschlagsandrohungen von Al-Qaida wächst die Angst. Wie ist der Terror aus der Welt zu schaffen? Botschafter aus Ost- und Westdeutschland haben am 17. Februar einen Brief an das Europäische Parlament geschickt, in dem sie Vorschläge unterbreiteten, wie Frieden zwischen Orient und Okzident erreicht werden kann. Mittlerweile haben sie Antwort erhalten. Das "Neue Deutschland" (ND) sprach mit Dr. Arne C. Seifert vom Verband für Internationale Politik und Völkerrecht und Mitunterzeichner des Briefes. Der Diplomat war jahrelang im Nahen Osten tätig und hat in den End-90er Jahren an einer OSZE-Mission in Tadschikistan teilgenommen; vor kurzem war er wieder dort, als Moderator eines säkular-islamischen Dialogs zur Vertrauensbildung. (Siehe auch das Interview mit Arne Seifert vom Februar 2005.)



ND: Wer hat auf Ihren Brief geantwortet?

Seifert: Bisher der Präsident des Europäischen Parlaments, Josep Borrell Fontelles, der Präsident der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken und Nordischen Grünen Linksgruppe, Francis Wurtz, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion, Martin Schulz, sowie der Vorsitzende der Gruppe Vereintes Europa der Nationen, Brian Crowley. Vielsagend ist, wer nicht reagierte: der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des EU-Parlaments, Herr Elmar Brok von der CDU, und Herr Cohn Bendit von der Fraktion der Grünen.

Was war Inhalt der Antworten?

Wichtig ist, dass einhellig unsere Sorge geteilt wird, es dürfe nicht zu einem »clash of civilisations« kommen. Der Präsident des EU-Parlaments begrüßte unsere »Anregungen, die uns als Politiker auf die Notwendigkeit eines verstärkten Handelns hinweisen«. Martin Schulz verwies darauf, dass »Präventivkriege als Mittel der internationalen Politik abzulehnen« seien und sich seine Fraktion für einen Dialog mit der islamischen Welt auf gleichberechtigter Grundlage einsetze. Francis Wurtz hat betont, es sei Aufgabe der Politik, vor allem die Beseitigung der Ursachen des Terrorismus zu gewährleisten, »statt mit einem einseitig militärischen, sicherheitspolitischen Ansatz zur Verschärfung der Konflikte beizutragen«.

Das steht auch in Ihrem Brief.

Genau das ist der Punkt, um den es uns geht. Alles deutet darauf hin, dass der von uns kritisierte einseitige Strategieansatz genau das bewirkt, was es zu verhindern gilt: die Verschärfung des Konfliktes. Unsere zentrale Überlegung besteht darin, dass ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden werden muss, der perspektivisch tragfähig ist, der die Krise im Verhältnis der islamischen Welt zum Westen zu überwinden vermag. Dafür bedarf es endlich eines Friedensplanes.

Ihr Friedensfahrplan enthält u.a. den Vorschlag zur raschen Beendigung der Okkupation Iraks. Nun kann die EU kaum die entscheidende Kriegspartei, die USA, dazu zwingen. Also keine Chance?

Wir haben in unserem Brief vor allem dazu aufgefordert, dass Vorschläge aus dem arabischen Raum für die Regelung des Irak-Konflikts europäische Unterstützung finden sollten. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amre Mussa, unterbreitete solche. Er forderte Truppenabzug nach einem Zeitplan, Wiederaufbau Iraks, der von den Irakern selbst geplant und beschlossen werden solle, sowie volle Selbstbestimmung ihrer Zukunft durch die Iraker selbst. Jetzt hat auch Iraks Ministerpräsident al-Dshafari gegenüber Rumsfeld einen Zeitplan für den Rückzug aller ausländischen Truppen gefordert. Was nun die EU-Position betrifft, so meine ich, dass es nicht mehr ausreicht, sich von diesem oder jenem Aspekt der internationalen Politik der US-Administration zu distanzieren, z.B. vom Irak-Krieg. Das ist ohnehin so gut wie unmöglich, weil einige EU-Staaten im Bush-Boot sitzen. Aber auch in Ländern der US-Koalition wird der Abzug aus dem Irak gefordert und ist zum innenpolitischen Zankapfel geworden. Worin jetzt dringend Übereinstimmung gebraucht wird, das ist ein Gegenentwurf zum Krieg. Einen solchen sind die europäischen Regierungen ihren Bürgern schuldig.

Und dazu gehört Ihrer Ansicht nach die »unverzügliche Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts«, der ja wohl auch ursächlich für den sich ausweitenden Terrorismus ist. An der Lösung dieses Konflikts wird bekanntlich seit Jahrzehnten »laboriert«...

Es ist richtig, dass die Nichtregelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes ein Hauptgrund für das ständige Anwachsen antiwestlicher Stimmungen in der islamischen Welt ist, darunter auch die andauernde Besetzung heiliger Stätten des Islam durch Israel.seit dem Krieg von 1967. Die so genannte Road Map wird nur dann eine für das palästinensische Volk, für die arabischen und islamischen Völker insgesamt akzeptable sowie der Sicherheit Israels dienliche Lösung des Palästinaproblems erreichen, wenn sie zu einem lebensfähigen palästinensischen Staat führt. Die europäische Politik sollte sich entschieden gegen eine israelische Politik des fait accompli wenden, die das für den palästinensischen Staat vorgesehene Territorium durch Siedlungen, strategische Straßen und Sperrzaun zersplittert.

Auch hier scheint mir letztlich Europa abhängig von US-Politik. Ist die EU nicht generell ohnmächtig gegenüber Washington?

Ich glaube nicht, dass die Europäische Union »generell« ohnmächtig ist. Ich sehe allerdings eine schleichende, die EU, insbesondere das EU-Parlament entmachtende Gefahr: Sie geht von einer Militärpolitik aus, mit der im Zuge der Antiterror-Strategie zunehmend vollendete Tatsachen geschaffen werden. Der Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, der deutsche General Harald Kujat, erklärte im Mai, dass der »Globalisierung des Terrors« mit einer Erweiterung der »geostrategischen Interessenlage der Allianz« begegnet werden müsse, »die weit über die frühere out-of-area-Diskussion hinausgeht«: Kaukasus, Nah- und Mittelost, Mittelmeerraum und Afrika südlich der Sahara.

Und das bedeutet für uns?

Voraussichtlich einen Zustand permanenter Spannungs-, Krisen- und Kriegssituationen, die durchaus in jenem »Clash of Civilisations« gipfeln könnte, den es zu verhüten gilt. Denn dann würde selbst die Regelung des israelisch-palästinensischen Konfliktes nicht mehr jenes Maß an Entspannung bringen, auf das wir alle hoffen.

Sie plädieren für einen »Neuanfang« im Verhältnis zur islamischen Welt. Nach den Londoner Anschlägen dürfte solch Appell noch schwerer Gehör bei den Bürgern westlicher Metropolen finden. Wie nach »9/11« in den USA oder nach dem Van-Gogh-Attentat in den Niederlanden, so ist jetzt aus der Stadt an der Themse zu hören, dass arabisch aussehende Bürger von weißen Mitbürgern scheel angesehen werden. Verständlich?

Verständlich. Der Menschen und Menschenleben verachtende Terror ist abscheulich. Die von ihm Betroffenen sind in einer furchtbar schwierigen Situation, wie auch die gesamte Öffentlichkeit. Aber wenn die genannte NATO-Strategie Realität wird, wird alles noch schlimmer, besteht die Gefahr einer weiteren Internationalisierung des Konfliktes um den Terrorismus. Deshalb haben wir in unserem Brief zu einer fundierten Klärung des politischen Kerns des Konfliktes um den Terrorismus aufgefordert, die der europäischen Öffentlichkeit vorzulegen ist. Sie hat das Recht, die ihr von ihren Regierungen als alternativlos dargestellte Antiterror-Strategie selbst zu beurteilen. Es gilt fundiert zu klären, welche konkreten Streitfragen auszuräumen sind, was auf friedlichem Wege regelbar ist, welche politisch-diplomatischen Regelungsideen zu entwickeln sind, wie zwischen extremistischen und gemäßigten Islamisten differenziert werden kann, ob und mit wem Gespräche und Vertrauensbildung möglich sind.

Vertrauen gibt es nur beidseitig. Sind jene – vornehmlich in der Tourismusbranche tätigen – Ägypter, die nach dem Anschlag in Scharm el Scheich unter der Losung demonstrierten, der Terror sei nicht von Gott gewollt, repräsentativ für die Einstellung der Menschen in der islamischen Welt?

Ich verstehe das als einen Beleg dafür, dass sich auch in der arabischen Welt die Meinungen über Methoden in der politischen Auseinandersetzung zwischen der islamischen Welt und dem Westen, über den Vorzug von Gewalt oder zivilen, friedlichen Mitteln des Konfliktaustrags stärker auseinander driften. Ich hoffe sehr, dass die Waage zu Gunsten friedlicher Regelungen ausschlägt. Europa sollte diesen Trend durch eine eigene ausgewogene Politik fördern, indem es mit vertrauensbildenden Maßnahmen im Sinne von Vorschlägen für eine Neugestaltung seines Verhältnisses zu den islamischen Nachbarregionen in Vorleistung geht.

Bringen einseitige Vorleistungen des Westens etwas bei der Zerrissenheit der islamischen Welt?

Diese Zerrissenheit macht vor allem der Riss zwischen autoritär und rückständig regierenden Herrschaftsträgern und einer sich islamisch artikulierenden Gesellschaftsopposition aus. Es steht außer Frage, dass die Herrschaftsverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten der Demokratisierung bedürfen. Eigentlich wäre das eine Sache sozialer Revolution oder Evolution von innen. Solche aber wären unter den gegebenen Voraussetzungen in einigen Staaten sehr wahrscheinlich islamische. Die herrschenden Regimes sind bestrebt, einer solchen von ihnen und dem Westen gleichermaßen unerwünschten Entwicklung zuvor zu kommen. Beide betreiben eine Art »präventive Modernisierung«.

Was halten Sie von einer Demokratisierung von außen?

Diese Taktik macht den Westen zu Gegnern der Islamisten. Und es könnte noch schlimmer kommen: Das ständig steigende Maß äußeren Einmischens, Zensierens und Vorschreibens könnte schließlich sogar einige Regimes verprellen. Dann säße Europa zwischen allen Stühlen.

Fragen: Karlen Vesper
Veröffentlicht in: Neues Deutschland, 6./7. August 2005

Quelle: Homepage des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht e.V. (dort allerdings mit der falschen Jahreszahl): www.vip-ev.de


Hier geht es zu zwei weiteren Beiträgen zu diesem Thema:
"Die Politik des vorrangigen Einsatzes militärischer Mittel hat die Welt nicht friedlicher, sondern unsicherer gemacht"
27 ehemalige Diplomaten aus West- und Ostdeutschland (BRD und DDR) schreiben einen bemerkenswerten Brief an das Europäische Parlament - im Wortlaut
"Arabische Vorschläge ernst nehmen"
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